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Hanisch, Ernst, Der große Illusionist Otto Bauer (1881-1938). Böhlau, Wien 2011. 478 S, 26 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

Hanisch, Ernst, Der große Illusionist Otto Bauer (1881-1938). Böhlau, Wien 2011. 478 S., 26 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Warum - so wird sich der Kenner der Materie fragen - mussten seit der Geburt Otto Bauers, der prägendsten intellektuellen Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit, 130 Jahre ins Land ziehen, bis endlich mit der vorliegenden Biographie sein Leben und Wirken unter die Lupe der kritischen Geschichtswissenschaft genommen worden ist? War der Hemmschuh gar sein Status als weithin verehrte Leitfigur der Linken, an deren Sockel man nicht zu rühren wagte, bange, dass womöglich etwas zutage käme, was das Bild des Heroen beschädigen könnte?

 

Mit Ernst Hanisch, emeritierter Professor für neuere österreichische Geschichte an der Universität Salzburg, hat sich nun ein Gelehrter im Alter jenseits der 70 dem Thema gestellt, der - bei aller merkbaren Sympathie und Wertschätzung für den Porträtierten, mit dem er sich immerhin „fünf Jahre intensiv“ beschäftigt hat (S. 15) - weltanschaulich über den Verdacht sozialdemokratischer Hagiographie erhaben ist. Auf annähernd 400 Druckseiten, ergänzt durch 60 Seiten Anmerkungen, geht der Verfasser dem Phänomen Otto Bauer nach, wobei er seinen Text in vier große, chronologisch definierte Abschnitte gliedert.

 

Unter dem Titel „Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte“ widmet sich der erste Teil des Bandes der Zeit von der Geburt des Protagonisten bis zum Ende der Habsburgermonarchie; beleuchtet werden Bauers großbürgerliche Herkunft und seine jüdische Identität im Zeitalter des politischen Antisemitismus, sein Studium der Rechtswissenschaft und der Politischen Ökonomie, Wehr- und Kriegsdienst sowie seine politische Sozialisation mit der „Sozialdemokratie als Heimat und Utopie“ (S. 105ff.) und dem Beginn der politischen Karriere. Das Kapitel „Leidenschaft der Politik“ erfasst mit den Jahren von 1918 bis 1934 die Erste Republik bis zur Ausschaltung der österreichischen Sozialdemokratie durch den Austrofaschismus; danach folgt „Die Bitternis der Niederlage und des Exils“ bis zum Tod in Paris Anfang Juli 1938. Der kurze, nur 14 Seiten umfassende vierte Abschnitt „Das ambivalente Erbe“ ist Bauers von einer selektiven Erinnerungspolitik geprägtem Nachleben und seiner Rezeption gewidmet.

 

Im Kern bestätigt die Studie das bereits in groben Konturen präsente Otto-Bauer-Bild, nämlich jenes des hochbegabten linkssozialistischen Theoretikers mit revolutionärer Rhetorik, dem es in der politischen Praxis zugleich an Entschlussfähigkeit und Tatkraft mangelte: „Bauer glaubte an die Macht der Massen und doch fürchtete er sie, wenn sie außer Kontrolle geriet. […] Er, der an die Macht wollte, zögerte, wenn sie in greifbarer Nähe schien, verlor in kritischen Stunden leicht die Nerven“ (S. 118). Wiewohl nur aus spärlichen Quellen ableitbar, soll er als puer senex schon mit 14 Jahren die Hinwendung zum Sozialismus vollzogen, sich in seiner Lektüre mit dessen Klassikern und Karl Marx auseinandergesetzt und sich damit auch eine Fluchtmöglichkeit aus seinen schwierigen Familienverhältnissen eröffnet haben. Als Student war er dann, zusammen mit zukünftigen namhaften Größen der Ökonomie wie Ludwig von Mises und Joseph Schumpeter, kritischer Hörer in den volkswirtschaftlichen Seminaren Eugen Böhm-Bawerks. 1907 begann seine politische Karriere als Klubsekretär der sozialdemokratischen Fraktion im Abgeordnetenhaus unter Führung Engelbert Pernerstorfers. Neben dem Rechtstheoretiker Karl Renner, dem Philosophen Max Adler und  dem Ökonomen Rudolf Hilferding gilt Bauer bald als prominentester Vertreter des Austromarxismus im engeren Sinne, der sich durch eine „Instrumentalisierung der Wissenschaft für Parteizwecke“ und zugleich durch das „Festhalten an einem philosophischen Humanismus“ auszeichnete, eine „kleine Gruppe, die lautstark die Publizistik besetzte, die als Sekretäre in der Partei und in der Fraktion wichtige organisatorische Aufgaben erfüllten, aber sie repräsentierten keineswegs die Partei, schon gar nicht die Arbeiterschaft“ (S. 114f.). Nach dem Ende der Habsburgermonarchie zum Staatssekretär des Äußeren avanciert, „stand Bauer als Bettler vor den Alliierten, der flehentlich um Lebensmittelhilfe bat, auf der anderen Seite verkündete er lautstark den Anschluss; ein Riss, der sich aus der Position Bauers als Chef des Außenamtes und als Innen- und Parteipolitiker ergab, der dem Bolschewismus mit aller Energie widerstand, aber dennoch in Österreich den Sozialismus (Sozialisierung!) aufbauen wollte“ (S. 159f.). Bald folgte der Rücktritt – nicht zuletzt aus „Scheu vor persönlicher Verantwortung“ (S. 161), wie der Verfasser mit Verweis auf ähnliches Verhalten Bauers in den Krisen von 1927 (in der Nacht zum 15. Juli, dem Tag des Justizpalastbrandes in Folge des Schattendorf-Fehlurteils, ließ er sich angeblich vor einer Arbeiterdelegation, die um Instruktionen nachsuchte, verleugnen und verließ heimlich das Parteihaus) und 1934 (sein Versagen als Führer des Februar-Aufstandes und seine voreilige Flucht noch während der Kämpfe ins Ausland, wo er dann unverzüglich am „Februarmythos“ zu stricken begann) festhält. Am Linzer Parteitag 1926 stand der stellvertretende Parteivorsitzende innerhalb der Partei am Höhepunkt seines Einflusses; doch „die vorsichtige, defensive Einbettung des Schlagwortes ‚Diktatur‘ in Otto Bauers Parteitagsrede und im Parteiprogramm wurde […] zum Totschlagargument: Die Roten wollen die Diktatur“ (S. 232).  Im Brünner Exil war er maßgeblich an der Errichtung des Auslandsbüros der österreichischen Sozialisten (ALÖS) beteiligt, entwarf die Statuten der sich in der Illegalität formierenden Revolutionären Sozialisten (RS) und engagierte sich in der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI).  Durch den stalinistischen Terror in der Sowjetunion geriet er schließlich „in ein tiefes Dilemma“ (S. 353) Otto Bauers „letzte große Illusion“ wenige Monate vor seinem Tod in Paris sei es gewesen, nach dem erzwungenen Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland anzunehmen, „daß das österreichische Volk nicht durch die Losreißung vom Reich, sondern nur durch die gesamtdeutsche Revolution gegen den deutschen Faschismus befreit werden könne“ (S. 370).

 

 Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Urteil über ihn, dessen Urne 1948 nach Wien überführt und mit großem Pomp im Grab von Victor Adler am Zentralfriedhof beigesetzt wurde, in der Rückschau sowohl in der eigenen Partei bei aller Verehrung nicht einheitlich ausfiel, wie er auch dem politischen Gegner in Wahlkämpfen oft Munition für Polemiken bot. Immer wieder Interesse fanden seine Schriften, vermehrt ab Mitte der sechziger Jahre, als „der Marxismus auch die Universitäten erreichte“ und „die Kritik am Modell des Sowjetkommunismus […] die Suchbewegung nach einem ‚dritten Weg‘ zwischen Kommunismus und Kapitalismus (eröffnete)“ (S. 387), wobei sich das Interesse vor allem auf Bauers Faschismustheorie (S. 361ff.) und sein Konzept des „Integralen Sozialismus“ (S. 344ff.) richtete. 1975 bis 1980 erschien eine  Werkausgabe in neun Bänden, allerdings ohne wissenschaftlichen Apparat.

 

Die sparsam illustrierte, solide biographische Studie  regt somit in erster Linie zur weiteren Auseinandersetzung mit Otto Bauers theoretischen Konzeptionen an. Sie fördert keine Sensationen zutage, bietet aber über die porträtierte Persönlichkeit einen intimen Einblick in die Ideenwelt, in Chancen und vergebene Möglichkeiten und die Interna der österreichischen Sozialdemokratie während der Ersten Republik.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic