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Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion I, hg. v. Mallmann, Klaus-Michael/Angrick, Andrej/Matthäus, Jürgen/Cüppers, Martin (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 20). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011. 927 S., 36 Abb., 8 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion I, hg. v. Mallmann, Klaus-Michael/Angrick, Andrej/Matthäus, Jürgen/Cüppers, Martin (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 20). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011. 927 S., 36 Abb., 8 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als die deutsche Wehrmacht im Frühsommer 1941 in die Sowjetunion einfiel, folgten ihren Heeresgruppen vier jeweils etwa bataillonsstarke Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD). Von Reinhard Heydrich mit dem weit gefassten Auftrag einer sicherheitspolizeilichen Befriedung versehen und der Kontrolle der Militärverwaltung faktisch entrückt, zogen deren Sonder- und Einsatzkommandos im Zusammenwirken mit den von Heinrich Himmler eingesetzten Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) in den rückwärtigen Armee- und Heeresgebieten bald eine blutige Spur nach sich: Allein für den Zeitraum bis Frühjahr 1942 lassen sich anhand eigener Buchführung der Täter mindestens 535000 mit Masse jüdische Tötungsopfer dieser „Truppe des Weltanschauungskrieges“ (Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm 1981) belegen. Über ihre Einsätze hatten die Kommandos Berichte anzufertigen, die dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin zugeleitet, dort zusammengefasst, redigiert und in ein vorgegebenes Format gegossen wurden. So entstanden zunächst 195 tägliche „Ereignismeldungen UdSSR“ (EM), modifiziert fortgeführt ab Mai 1942 in Form 55 wöchentlich herausgegebener „Meldungen aus den besetzten Ostgebieten“; sie wurden als „Geheime Reichssache“ einem ausgewählten Kreis zugeleitet und stellen ein einzigartiges Selbstzeugnis deutscher Besatzungspraxis im Osten dar. Obwohl es bereits am Ende der 1950er Jahre Bestrebungen gab, dieses bislang vor allem von Staatsanwälten im Zuge ihrer Ermittlungen wie der Anklagevorbereitung verwertete (eine zentrale Rolle spielten die Dokumente erstmalig im 1947/1948 verhandelten Fall 9 der Nürnberger Nachfolgeprozesse, dem amerikanischen Militärgerichtsverfahren gegen Otto Ohlendorf et al., in dem über 21 verurteilte Offiziere der Einsatzgruppen schließlich 14 Todesurteile verhängt wurden), auch von den Verteidigern der Beschuldigten in seiner Authentizität nicht in Frage gestellte, einzigartige Quellenmaterial der Forschung in gedruckter Form zugänglich zu machen, ist jetzt erstmalig eine Edition des gesamten Textkorpus samt einem kritischen Kommentar auf den Weg gebracht worden. Der nun vorliegende erste Band der auf vier Bände konzipierten Serie umfasst alle Ereignismeldungen des Jahres 1941 (148 EM und eine Sammelmeldung).

 

In ihren quellenkritischen Vorbemerkungen unter dem programmatischen Titel „Die Optik der Täter“ zeigen die Herausgeber auf, dass die „Ereignismeldungen UdSSR“ stets im Kontext ihres Entstehungs- und Verarbeitungsprozesses unter Berücksichtigung der damit verbundenen unterschiedlichen Interessenslagen gelesen werden müssen; weder hinsichtlich der Materialauswahl noch hinsichtlich der gesetzten Schwerpunkte dürfe man deshalb von einer objektiven Eins-zu-eins-Abbildung der historischen Realität ausgehen. Da das Rohmaterial, die Meldungen der Gruppenstäbe und der Einsatzkommandos, nicht überliefert sei, bildeten die Berichte in erster Linie die Perspektive des RSHA ab, wo vor allem Gestapo-Chef Heinrich Müller persönlich inhaltliche Eingriffe vornahm. Formal waren die Ereignismeldungen grob in die Rubriken „Politische Ereignisse“, „Meldungen der Einsatzgruppen und -kommandos“ - die Kategorie mit der „breiteste(n) Varianz in Gestalt fehlender Einzelmeldungen der Einsatzgruppen, ungleichgewichtiger Detailtiefe und stilistischer Unausgewogenheit“ - und „Militärische Ereignisse“ gegliedert. Wenn auch das redaktionelle Verfahren heute weitgehend undurchschaubar und willkürlich erscheine, zudem Vergleichsmaterial nur in seltenen Glücksfällen zur Verfügung stehe, sei doch ein „Trend zur inhaltlichen Reduktion der exekutiven Tätigkeit der Einsatzgruppen auf das quantifizierbar Wesentliche und zur Ausblendung interner Kommunikations- und Entscheidungsabläufe“ feststellbar; Hans-Heinrich Wilhelms geschätzte Fehlerquote von 10 Prozent bei Zahlenangaben dürfte „zu niedrig gegriffen“ sein, könne aber nicht durch einen realistischeren Wert substituiert werden (S. 16f.). Erwähnenswert ist darüber hinaus der Umstand, dass anders, als die territorial exklusive Bezeichnung „Ereignismeldungen UdSSR“ nahelegt, in der ersten Rubrik „Politische Ereignisse“ durchaus interessante Informationen über sicherheitspolizeiliche Aktivitäten im Reich und in den besetzten Gebieten anfallen, so beispielsweise des Öfteren zur Lage in der Untersteiermark.

 

Hinsichtlich der historischen Einordnung der Tätigkeit der Einsatzgruppen in den Kontext des Holocaust folgen die Herausgeber im Widerspruch zu älteren Forschungspositionen der plausiblen These, dass ursprünglich weder von einem expliziten Vernichtungsbefehl Hitlers noch von einer klaren Weisung Himmlers oder Heydrichs zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung auszugehen sei, weil eben „der Nationalsozialismus nicht nach der simplen Mechanik von Befehl und Gehorsam funktionierte, sondern eine stark von der Peripherie vorangetriebene Radikalisierungsdynamik erzeugte“. Gerade durch diese Unbestimmtheit hätten die Kommandos vor Ort größtmöglichen Entscheidungsspielraum erhalten, den sie „von Anfang an extrem ausnutzten, […] zunehmend überdehnten und somit die Befehlslage hinter sich ließen“, womit „die Kommandoführer Fakten (schufen), hinter denen die Regimespitze weder zurückbleiben konnte noch wollte“ (S. 24). Eine wesentliche Voraussetzung für diese Dynamisierung hin zum Holocaust war die sorgfältige und gezielte Auswahl der Einsatzgruppenchefs (zunächst Dr. Franz Walther Stahlecker, Arthur Nebe, DDr. Emil Otto Rasch, Otto Ohlendorf - allesamt Männer, deren Ausbildung und vorangegangene Karriere sicherstellte, dass sie „die ihnen übertragene Verantwortung […] im Sinne der SS-Führung und nach Maßgabe der jeweiligen Situation eigeninitiativ und aggressiv ausgestalten würden“ und die einen „Erlösungsantisemitismus“ verinnerlicht hatten, „der von der Vorstellung geprägt war, berufen zu sein, die Menschheit von ihrer größten Plage zu befreien“ (S. 21f.)). Die Ereignismeldungen, die vom RSHA wiederum an die Kommandeure der Einsatzgruppen und deren Stäbe verteilt wurden, reflektieren nicht nur die Radikalisierung, sondern förderten sie auch, indem sie über den damit möglichen Zahlenvergleich unter den Exekutoren „einen Wettlauf um die höchsten Quoten“ initiierten; damit falle ihnen „eine Scharnierfunktion für den Umschlag von Verfolgung und punktueller Ermordung in Massenvernichtung und Genozid“ zu (S. 30). Die quantitativ größte Tötungsaktion des Jahres 1941 stellt das berüchtigte, der Einsatzgruppe C zuzurechnende Massaker von Babij Jar bei Kiew dar, das seinen ebenso lapidaren wie vielsagenden Niederschlag in der Ereignismeldung 106 vom 7. 10. 1941 gefunden hat: „In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstabe und 2 Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30. 9. 33771 Juden exekutiert. […] Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Irgendwelche Zwischenfälle haben sich nicht ergeben. Die gegen die Juden durchgeführte ‚Umsiedlungsmaßnahme‘ hat durchaus die Zustimmung der Bevölkerung gefunden. Dass die Juden tatsächlich liquidiert wurden, ist bisher kaum bekanntgeworden, würde auch nach den bisherigen Erfahrungen kaum auf Ablehnung stossen. Von der Wehrmacht wurden die durchgeführten Maßnahmen ebenfalls gutgeheissen“ (S. 642).

 

Die durch ihre bisherigen facheinschlägigen Publikationen vorzüglich ausgewiesenen Herausgeber (Klaus-Michael Mallmann ist wissenschaftlicher Leiter, Martin Cüppers wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Jürgen Matthäus Leiter der Forschungsabteilung am United States Holocaust Memorial Museum in Washington und Andrej Angrick wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur) haben sich zu einer ungekürzten Edition aller verfügbaren Ereignismeldungen entschlossen und den Korrekturen und Komplementärquellen einschließenden Kommentar an „historisch relevanten Ereignissen mit dem Holocaust an erster Stelle“ (S. 31) ausgerichtet. Dass sich diese die wesentliche Literatur einbeziehenden und mit zahlreichen biographischen Daten aufwartenden Anmerkungen in Form klein gedruckter Fußnoten präsentieren, ist in Anbetracht der Dickleibigkeit des Bandes wohl unumgänglich, aber nicht eben benutzerfreundlich. Dass aber neben den nützlichen, die Operationsräume der vier Einsatzgruppen A, B, C, D und ihrer Kommandos illustrierenden Karten, dem Abkürzungs- und dem Literaturverzeichnis nur ein Personenregister die Suche in den Dokumenten unterstützt, man somit über keine Möglichkeit einer Aufschließung des Textes über geographische oder institutionelle Angaben verfügt, ist als grober Mangel zu beklagen; hier müsste unbedingt nachgebessert werden. Die die Dokumente begleitenden Abbildungen lassen die Täter (Führer und Mannschaften der Einsatzgruppen) wie ihre – nahezu ausschließlich jüdischen – Opfer eindringlich Revue passieren.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic