Europäische Verfassungsgeschichte, hg. v. Willoweit, Dietmar/Seif, Ulrike. Beck, München 2003. LVI, 937 S.

 

Wer glaubt, dem Titel gemäß eine Verfassungsgeschichte Europas vorzufinden, irrt. „Ausgewählt und herausgegeben“ haben Willoweit und Seif und damit keineswegs eine „Europäische Verfassungsgeschichte“ verfaßt – hinter dem verheißungsvollen Titel verbirgt sich nämlich eine Quellenedition (997 Seiten) mit einer knappen Einleitung Ulrike Seifs (39 Seiten)! Man muß eben mitlesen, was der Buchrücken und das (einzig zitierfähige) Titelblatt (III) verschweigen: „Rechtshistorische Texte“ (I, Buchdeckel).

 

Unterstützt wurden die beiden Herausgeber von 13 Mitarbeitern, davon halfen acht „bei der mühseligen Quellenbeschaffung“ (V). Diese Wortwahl läßt vermuten, man habe „Quellen“ „beschafft“, also beigebracht, nämlich zum Zwecke der Edition. Tatsächlich finden sich auch bei den einzelnen Texten Angaben zur „Quelle“. Das Erstaunliche ist aber einmal, daß es Texte ohne Angabe der „Quelle“ gibt wie etwa Licet iuris 1338 und den Reichslandfrieden 1235, und weiters die Angaben sehr variieren wie etwa zur Magna Carta 1215 „Cotton II“ (3), zur Goldbulle Ungarns 1222 ein Faksimiletext (26), zum Tübinger Vertrag 1514 eine Quellensammlung (34), zu den Westfälischen Friedensverträgen 1648 „Erstausfertigungen“ im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv allerdings nur mit Datum des jüngeren Instruments (24. 10. 1648), zur Deutschen Bundesakte 1815 das „Originaldokument“ (555), zur Reichsverfassung 1849 eine amtlichen Druckausgabe (562). So ist man hinsichtlich der Quellengrundlagen ein wenig ratlos, doch wird diese kleine von einer noch viel größeren Ratlosigkeit eingeholt: Ganz im Gegensatz zu editorischen Gepflogenheiten gibt es unter „Quelle“ nämlich keinen Hinweis zur Textvorlage, sondern zum Auffinden des Originaltextes! Daher fehlen Angaben zu Licet iuris und zum Reichslandfrieden 1235, weil, was freilich nirgends steht, beider Original verschollen ist. Aber, so nun die größere Ratlosigkeit, was liegt denn nun den Texten zugrunde? Bei ihnen finden sich weitere Quellenangaben unter „Ausgaben“, aber es sind dies meistens mehrere, keine ist als Vorlage ausgewiesen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Zur Bundesakte 1815 und zur Schlußakte 1820 findet sich die Angabe „Abdruck mit Rücksicht auf … Dürig/Rudolf“ (557, 559). Ansonsten führt der gewundene, jedenfalls verborgene Weg zur Lösung über das folgend zu den Übersetzungen Auszuführende.

 

Ein Großteil der Texte ist doppelsprachig synoptisch in zwei Spalten wiedergegeben. Die deutschen Texte verstehen sich in diesen Fällen als Übersetzungen. Ihre Herkunft ist , eine zweite editorische Kuriosität, ebenso wie die der Texte nicht angeführt. Allerdings gibt eine entsprechende „Liste der Übersetzungen“ Aufschluß (LI ff.). Aus ihr erfahren wir einmal, daß nahezu alle Übersetzungen schon anderswo zu finden sind: Von 28 Übersetzungen gehen 8 auf Franz (Staatsverfassungen, 3. Aufl., München-Wien 1975), 3 auf Weinrich (Quellen zur Verfassungsgeschichte des Römisch-Deutschen Reiches im Spätmittelalter 1215–1500, Darmstadt 1990), 3 auf Pölitz (Die Constitutionen der europäischen Staaten, Leipzig 1817/1820) sowie 2 auf Walder (Quellen zur neueren Geschichte, Bern 1973 bzw. 1975) zurück. Von den schon vorhandenen Übersetzungen wurden 9 von Seif, 2 von Willoweit, 3 von Mitarbeitern „überarbeitet“. Zur Auswahl der Übersetzungsgrundlagen wie weiters über die Ursache allfälliger Bearbeitungen erfahren wir nichts. Welche Art von „Rücksicht“ würde bei der Verwendung von „Dürig/Rudolf“ genommen (555, 559)? Warum wurde von Pölitz nicht die verbesserte 2. Auflage benutzt (Leipzig 1832ff., Nachdruck 1999): Weil die erste „näher“ an der Quelle ist? Die „Liste der Übersetzungen“ gibt aber, sorgsam gebraucht, über ihren Titel hinaus noch weitere Aufschlüsse wie vor allem über die Herkunft der Textvorlagen, und zwar dann, wenn die Autoren der Übersetzungsliste auch unter der Rubrik „Ausgaben“ bei den Texten aufscheinen! So läßt sich mit großer Sicherheit darauf schließen, daß Weinrich auch als Vorlage der Texte, nicht nur ihrer Übersetzungen diente. Dies kann man freilich nur dort schlußfolgern, wo Autoren in der Übersetzungsliste aufscheinen. Als Beleg für diese Schlußfolgerung sei einmal auf die Goldene Bulle verwiesen, denn sie ist nicht nur wie von Weinrich übersetzt, sondern sogar wie von ihm ergänzt (z. B. „Kapitel[verzeichnis]“, 72, entspricht Weinrich, 317). Beim Reichslandfrieden 1235 folgt die Übersetzung Weinrich auch dort, wo er abweichend von seinem Original eine andere Handschrift heranzog (z. B. Weinrich, 468 f. FN 8). Ein weiteres Beispiel gibt die Verfassung Polens 1791 ab: Hätte nämlich die zu ihr angegebene Quelle als Vorlage gedient, müßte sie – folgt man dieser Angabe (281) – im französischen Original abgedruckt sein, was aber so wie bei Pölitz, der Übersetzungsvorlage, nicht der Fall ist. Die Herausgeber haben nach all dem hier zu „Quelle“, „Ausgaben“ und Übersetzung Ausgeführten die angegebenen Originale wohl gar nicht verwendet! Was war denn dann eigentlich so „mühselig“ bei dieser Art der „Quellenbeschaffung“ angesicht der Hinweise bei u. a. Weinrich? Jedenfalls ist die Übersetzungsliste in Wahrheit nicht nur eine solche, sondern führt auch, wohl unbeabsichtigt, zu den zugrundeliegenden Quellen, ist aber freilich dort unvollständig, wo zur Übersetzung nicht auf Editionen zurückgegriffen wurde. Die Problematik der mangelhaften Angaben zu Quelle und Übersetzung sei an zwei Beispielen erläutert. Zum Reichslandfrieden 1235 mangelt es, wie erwähnt, an einer Angabe zur Quelle (49), er ist in Latein und in Deutsch wiedergegeben, in dieses „übersetzt von Lorenz Weinrich“ (LI). Daß gerade hier eine Quellenangabe fehlt ist fatal: Der Text des Reichslandfriedens ist nämlich „in zwei Fassungen überliefert, einer lateinischen und einer deutschen, von denen keine im Original erhalten ist“; und weiters: „Der deutsche Text … liegt in mehreren, voneinander abweichenden Handschriften vor …“ (A. Buschmann, Kaiser und Reich I, 1994, 80). Von welchem lateinischen Text haben sich nun die Herausgeber leiten lassen? Offenkundig einfach von dem, der auch bei Weinrich vermerkt und von diesem übersetzt ist! Zur Verfassung Polens 1791 sind als „Quelle“ „Sejmbeschlüsse“ des Warschauer Hauptstaatsarchivs angegeben, und zwar mit dem Hinweis: „Der Originaltext ist französisch“ (281). Hier nun fehlt im Gegensatz zu anderen fremdsprachigen Verfassungstexten dieser „Originaltext“, abgedruckt ist eine von Seif überarbeitete Übersetzung aus Pölitz (LII). Warum diese Abweichung von der sonstigen Gepflogenheit, da nur der „Abdruck slawischer Originaltexte“ unterblieben sein sollte (Vorwort)? Die Antwort ist klar: „Quelle“ bedeutet eben nicht Quelle für den Text! Warum übrigens gerade die Übersetzung von Pölitz 1817 und nicht die dem Original nähere des Druckes „Neue Konstitution von Pohlen, vom 3. May 1791“ (1792)? Österreichs Verfassung 1934 wird nach BGBl. 239/1934 zitiert, die Tatsache, daß sie mit dem angegebenen, aber dort fehlenden Titel „Verfassung 1934“ ein zweites Mal erlassen wurde (BGBl. II–1/1934), bleibt unerwähnt. Eine weitere Schwäche der Edition liegt darin, daß die Quellen teils gekürzt, teils ungekürzt wiedergegeben sind: ungekürzt beispielsweise die Goldbulle Ungarns 1222, ebenso der Reichslandfriede 1235, sehr wohl gekürzt aber die Goldene Bulle 1356 unter Inhaltsangabe der nicht abgedruckten Kapitel, gekürzt auch die Westfälischen Friedensverträge, hier allerdings ohne Angabe des Inhalts der fortgelassenen Paragraphe! Österreichs Verfassung 1934 ist gekürzt aufgenommen, in den anschließenden spanischen Fundamentalgesetzen sind aber die für Österreich fortgelassenen Abschnitte (z. B. die Lokalverwaltung) sehr wohl abgedruckt.

 

Insgesamt folgen die Texte offenbar keinerlei editorischen Kriterien: weder hinsichtlich der Quellengrundlage noch der Übersetzung, auch nicht der vollen oder gekürzten Wiedergabe und der Art der Kürzungen! Gemessen an editorischen Grundregeln oder wenigstens einfachen, aber unbeantworteten Fragen kann die Edition keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben.

 

Angesichts dieser unbefriedigenden Edition frägt man – das Problem der Textauswahl sei noch ausgeklammert – nach ihrem Zweck. Zufolge „des vorgegebenen Umfangs“ könne sie kein „Nachschlagewerk“ sein: „Vielmehr will sie als Studienausgabe verstanden werden, die vornehmlich Lehrenden und Studierenden einen Arbeitsbehelf an die Hand gibt“ (Vorwort). Dafür hätte es aber der erwähnten – merkwürdigen – „mühseligen Quellenbeschaffung“ nicht bedurft, sondern es hätte der Rückgriff auf bewährte Abdrucke von Quellen beziehungsweise deren Übersetzungen genügt. Trotz der „mühseligen Quellenbeschaffung“ gibt es keine einzige Quelle, die nicht bereits im Druck vorliegt, was so auch für die Übersetzungen gilt – mit bloß zwei Ausnahmen: „Act Abolishing the Office of King“ 1649 und „Italienische Verfassungsgesetze 1925–1939“.

 

Die Texte sind in etwa chronologisch geordnet, dies aber nicht durchgängig, sondern vielmehr auch nach Sachkriterien. Dies kann Verblüffung für die „Lehrenden“ und muß Verwirrung für die „Studierenden“ auslösen. Im 1. Teil „Alteuropäische Staatsgrundgesetze“ finden wir unter „Frühstaatliche Strukturen im Mittelalter“ allein den Reichslandfrieden 1235 – insoferne also ein europäisches Unikat? Unter „Nachfolgeregelungen und dynastische Hausgesetze“ gibt es keine der letzteren Art! „Friedensschlüsse des konfessionellen Zeitalters“ sind, im Sinne dieses Wortes, weder der Augsburger Religionsfriede 1555, noch das Edikt von Nantes 1598 und auch nicht die Westfälischen Friedensverträge 1648, sie alle sind zumindest auch, modern gesprochen, innerstaatliches Verfassungsrecht. Weit spannt die Überschrift „Bundesbriefe, Reichsorganisation, Staatsreformen“ den Bogen vom Bund der zentralschweizerischen Waldstätten 1291 über die Reichsreformen 1495 zum englischen Act 1649: Die jeweils 200 bzw. 150 Jahre – ! – auseinander liegenden Instrumente haben nun wahrlich nichts gemeinsam! Der umfangreiche 2. Teil betrifft „Verfassungen des konstitutionellen Zeitalters“. Den Texten zufolge reicht es von der Habeas-Corpus-Akte 1679 bis zum Parliament Act 1911: Diesen Zeitraum quasi als eine Periode anzusehen, überdies noch als „konstitutionelle“, ist nicht nur ungewöhnlich: Was hier an Texten zusammengefaßt wird, läßt sich einerseits weder durch den Begriff „Konstitution“ (Verfassungsurkunde), noch andererseits durch den der konstitutionellen Monarchie als spezifische Regierungsform erklären: Die „Menschenrechtserklärungen“ sind bestenfalls Teil einer Verfassung beziehungsweise stehen wie 1789 außerhalb einer solchen, und Bundesakte 1815 und Schlußakte 1820 wenden sich bewußt gegen die konstitutionelle Monarchie. Das „Zeitalter“ ist also in keiner Beziehung „konstitutionell“! Im Detail ist die Subsumierung von Bundes- und Schlußakte unter „Bundesverfassungen“ eine Absonderlichkeit, da ja Verfassungsdokumente eines Staatenbundes, zumal sich hier auch die Reichsverfassungen 1849 und 1871 finden: Wie soll man den „Studierenden“ erklären, daß sich 1849 der Deutsche Bund in einen Bundesstaat umwandeln wollte, wenn er ohnedies schon eine „Bundesverfassung“ besaß? Nicht zum „konstitutionellen Zeitalter“ gehören für die Herausgeber offenbar einige im anschließenden 3. Teil „Republikanische Verfassungen“ abgedruckte Texte eben aus diesem „Zeitalter“, nämlich die Schweizer Verfassung 1848 und die Lois Constitutionelles 1875. Anders betrachtet: Warum ist die eben genannte Schweizer „Bundesverfassung“ nicht unter „Bundesverfassungen“ aufgenommen? Gleiches läßt sich hinsichtlich der Weimarer Verfassung 1919 fragen oder der im 4. Teil „Dokumente der Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ abgedruckten Verfassung des ausdrücklich als „Bundesstaat“ bezeichneten Österreich von 1934? Man ist eigentlich auch ein wenig erstaunt, unter „Dokumente der Diktaturen“ ausdrücklich „Verfassungsgesetze“ subsumiert zu sehen: Aus ihnen allein läßt sich nämlich die Regierungsform Diktatur gar nicht ablesen. Die getroffene sachliche Aufteilung auf die erwähnten Teile, mehr aber noch auf deren Untergliederungen ist höchst unbefriedigend und überwiegend problematisch.

 

Was letztlich die Auswahl der Texte betrifft, so sind sich die Herausgeber „der notwendigen Subjektivität bewußt“ (Vorwort): Wieso eigentlich „notwendige Subjektivität“? Gäbe es nicht eine Reihe sachlicher Auswahlkriterien? Unvermeidlich drängen sich, wie immer man die Auswahl rechtfertigen mag, zahlreiche Fragen auf: Warum Licet iuris 1338, da es doch 1356 von der Goldenen Bulle überholt wurde? Warum unter den „Menschenrechtserklärungen“ keine deutsche Quelle wie vor allem der fast schon moderne Grundrechtskatalog des Galizischen Gesetzbuches 1798? Warum die „Dichte“ französischer Verfassungen 1791, 1795 und 1799? Warum nicht eine der Schweizer Verfassungen aus dieser Zeit (Helvetik, Mediation)? Warum keine skandinavische Verfassung? Warum nicht die zentrale Verfassung Preußens? Wegen „der notwendigen Subjektivität“? Oder ist etwa „notgedrungene Subjektivität“ gemeint?

 

Vielleicht, so hofft man wenigstens, gibt die Einleitung von Ulrike Seif Aufschluß. Sie aber rückt die Dinge weder ins rechte Lot, noch bietet sie zum Titel eine „Europäische Verfassungsgeschichte“. Die einführenden Worterklärungen für „Konstitution“, „fundamental laws“ beziehungsweise „leges fundamentales“ sind viel zu punktuell (XI), der gegen Ende des 18. Jahrhunderts gebrauchte weite Begriff von „Verfassung“ in Deutschland findet keine entsprechende Erwähnung, die sehr brauchbare (moderne) Unterscheidung in Verfassung im formellen und materiellen Sinn ebenfalls nicht. Wieso kommt es übrigens mit dem Untergang des Gottesgnadentums zu einem Wegfall „übergesetzlicher Legitimationsgrundlagen der Staatsgewalt“ (XI)? Wie steht es mit der doch auch übergesetzlichen Volkssouveränität? Ein wenig Verwunderung löst weiters die Feststellung aus, die „höchstmögliche Steigerung der Identifikation des Bürgers mit dem Staat führte zum totalitären Staat der Diktaturen des 20. Jahrunderts“ (XII). Schweizer Landgemeindekantone mit ihrer direkten Demokratie werden dies diametral anders sehen!

 

Was nun die einzelnen, die Gliederung des Editionsteils vorwegnehmenden Abschnitte der Einleitung betrifft, so kann man sich davon mehr erwarten als von den Texten, vor allem Hinweise darauf, ob diese für gesamteuropäische Phänomene stehen. Wenn schon nicht als Text, so hätten daher hier die Reichsfürstengesetze samt der Sententia de iure statuum terrae 1220/1231 erwähnt gehört, den langen Ausführungen über englische Situationen (XIIIf.) wäre damit Zentraleuropäisches zur Seite gestanden. Das „Widerstandsrecht“ wird „als ein konstitutives Rechtsprinzip“ überbewertet (XII, XIV), denn es ist doch die ultima ratio beim Nichtfunktionieren des Zusammenwirkens der Herrschaftsträger: Dieses ist das „konstitutive“ Element, nämlich der gebotene Konsens. Späterhin (XVI) spricht Seif ohnedies vom „Dualismus zwischen Monarch und Ständen“! So ist es auch höchst fraglich, ob denn tatsächlich neben diesem Konsensprinzip schon im Mittelalter „ein besonders ausgeprägtes Fürstenrecht, das Gottesgnadentum“ existierte (XIV). Die Fehldarstellung erklärt sich wohl daraus, daß Seif ausschließlich die Königsmacht im Auge hat, das typische Feld der hier im Titel erwähnten „dynastischen Hausgesetze“ konnte aber im Reich nur das Landesfürstentum sein – auf dieses wird aber mit keinem Satz (wie auf jene mit keinem Text) eingegangen!

 

Mit zunehmender Lektüre der „Einleitung“ sieht man sich in zweierlei Hinsicht enttäuscht: Als Kommentar zu den Texten ist sie zu dürftig, eine europäische Gesamtschau stellt sie kaum her. Im Abschnitt „Bundesbriefe, Reichsorganisation, Staatsreformen“ ist beides sichtbar: Der Konnex zwischen den beiden ersten Begriffen wird durch den höchst mageren Hinweis versucht, die Reichsorganisation habe auch auf bündischen Elementen beruht (VII). Die europäische Dimension, hier die englische Entwicklung unter Cromwell, ist unverbunden einfach daran angereiht. Um die Erscheinung der bündischen Verfassungsformen stärker zu unterstreichen, wäre klarer darauf hinzuweisen gewesen, daß es sich um keine schweizerische Eigenart handelt. Übrigens „begünstigte“ für Seif „die Eidgenossenschaft“ – es sind allerdings mehrere – „Ansätze zur Staatsbildung“: Die Schweiz war aber bis 1848 ein höchst lockerer Staatenbund, „Staat“ der einzelne Kanton beziehungsweise dessen Vorform! Die fragmentarische Darstellungsweise prägt auch die weiteren Ausführungen, vor allem zu „Verfassungen des konstitutionellen Zeitalters“ (XVIIff.). Hier bestätigt sich überdies das zum Textteil Gesagte: Die deutsche Tradition der Grundrechte ist ausgeblendet. Merkwürdig berührt auch, daß unter „Vorrevolutionäre Verfassungsdokumente der Aufklärung“ – die Mehrzahl sollte eigentlich mehreres ankündigen – allein die USA-Verfassung 1787 abgehandelt ist. Derartige „Verfassungsdokumente“, aber aufgrund des erwähnten weiteren Verfassungsbegriffs – der Verfaßtheit des gesamten Gemeinwesens – bilden in Summe die Kodifikationen der Aufklärung und das leider meistens der Privatrechtsgeschichte zugerechnete „Allgemeine Landrecht“ Preußens. Man verstand sogar einzelne dieser Kodifikationen zum Teil ausdrücklich als „Verfassung“ – abermals ein Traditionsstrang, der fehlt. Unter den „Verfassungen der Revolutionsepoche“ die Verfassung Polens 1791 subsumiert zu sehen, konnte schon in der Texte-Gliederung Stirnrunzeln hervorrufen, es verstärkt sich nun aufgrund des dazu in der Einleitung Gesagten: Eine Verfassung, die noch so deutlich in „Städte und Städter“, „Edelleute“, „Bauern“ etc. unterscheidet, als „Nationalreligion“ nur den „Römisch-Katholischen Glauben“ ansieht, kann man kaum als eine „liberale“ (so XXIII) einstufen. Anders kurios ist folgende Feststellung: „Die Rheinbundakte 1806 eröffnete die Reihe der Verfassungen des Napoleonischen Zeitalters“ (XXV)! Der unbedarfte Interessierte wird sich doch fragen: Wieso begann Napoleon mit „seinen“ Verfassungen nicht in Frankreich selbst? Mehr als Stirnrunzeln ruft der folgende Satz hervor: Die Rheinbundakte „versuchte das staatsrechtliche Modell einer Konföderation souveräner Staaten zu realisieren“: „Konföderation“ bezeichnet schon per se einen Verbund „souveräner Staaten“, dieses Zusatzes hätte es also nicht bedurft, aber mit dieser Verstärkung doch schon gar nicht ein „staatsrechtliches Modell“, wobei Seif sogar noch mit dem Hinweis fortfährt, es „sollten die Mitglieder dieses Bundes ,volle Souveränität’ genießen“! Der gängige Unterschied Konföderation-Föderation alias Staatenbund-Bundesstaat bleibt so zumindest dem „Studierenden“ verborgen! In ähnlicher Weise widerspricht der sowohl zeitgenössischen wie auch rückblickenden Begrifflichkeit die Charakteristik der Verfassung Hannovers 1833: Es sei dies eine „neuständische Verfassung“, aber in „Modernisierung“ des „frühkonstitutionellen Typs“ (XXVII): Nun ist aber eine neuständische Verfassung weniger fortschrittlich als der „frühkonstitutionelle Typ“! Gerade zufolge dieser (inkorrekten) Beschreibung der Verfassung Hannovers 1833 frägt sich, ob denn nicht für diese spätere Periode des Frühkonstitutionalismus die Verfassung Hessens 1831 typischer gewesen wäre. Schlicht falsch ist die Feststellung, es wollte die Paulskirchenverfassung 1849 „die (klein)deutsche Einheit in einem Bundesstaat realisieren“, wozu zitiert ist „§§ 1–67“ (XXIX): Nach § 1 sollte aber das künftige „deutsche Reich“ bestehen „aus dem Gebiete des bisherigen deutschen Bundes“ – das aber ist die großdeutsche Lösung! Die als „Frage an Österreich“ verstandenen §§ 2 und 3 sprechen ebenfalls für die primär großdeutsche Lösung – die weiteren Paragrafen bis § 67 haben übrigens keinerlei Bezug zu dieser Thematik. Zwar jenseits von § 67, nämlich in § 87, sind im Staatenhaus des Reichstags Stimmen auch für „Oesterreich“ vorgesehen und nur als subsidiäre Lösung („so lange“) gibt es eine Stimmverteilung ohne Österreich! Hätte es statt „§§ 1–67“ vielleicht „§§ 1 und 87“ lauten sollen? Die Paulskirchenverfassung jedenfalls hatte, wozu es eigentlich dieser Zitate gar nicht bedarf, prinzipiell die großdeutsche Lösung im Auge gehabt. Eingangs des Abschnitts „Republikanische Verfassungen“ überrascht eine „Faustregel“: „Ein konstitutioneller König ist nichts anderes als ein erblicher Präsident und ein Präsident nichts anderes als ein König auf Zeit“ (XXXIII). Der deutsche und österreichische Bundespräsident „ein König auf Zeit“? Diese Formel läßt Fundamentales unerkannt: Ein „konstitutioneller König“ ist (Mit-)Träger der Staatsgewalt, ein Präsident niemals. Eine Art „erblicher Präsident“ kann ein Monarch zwar sehr wohl sein, aber nicht in einer konstitutionellen, sondern in einer parlamentarischen Monarchie. Zudem gibt es republikanische Verfassungen auch ohne ein eigenes Staats(ober)haupt: Österreich 1918–1920, zahlreiche Ostblockstaaten, die Schweiz bis heute. Ebenso fehlerhaft mutet das über die Unterschiede zwischen präsidialer und parlamentarischer Demokratie Gesagte an: Es geht hier nicht nur um entweder „Präsident als Chef der Exekutive“ oder „Regierung“ durch „die Mehrheitsfraktion des Parlaments“ (XXXIII), da es weiters das System der dualen Spitze der Exekutive und zudem Minderheitenkabinette gibt. Auch dieses Thema hätte gerade in einer „Europäischen Verfassungsgeschichte“ ein Mehr an Verfassungsvergleichung verlangt! Unrichtig ist folgende Feststellung: „Nur die polnische Verfassung 1921 … und die spanische Verfassung 1931 … formulierten noch explizit den Vorrang der Verfassung“ (XXXIII): Wieso eigentlich „noch“? Welche Verfassungen zuvor hatten denn „explizit den Vorrang der Verfassung“ festgelegt, wovon nunmehr Polen 1921 und Spanien 1931 „noch“ übrig blieben? Seifs „noch“ ist leicht erklärt, denn für sie trat von der Schweizer Verfassung 1848 bis hin zur spanischen Verfassung 1931 „die Vorstellung von einem höheren Rang der Verfassung in den Hintergrund“ (XXXIII) – die Entwicklung verlief aber gerade umgekehrt! Im nachfolgenden Satz über die „Justitiabilität der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen“ – übrigens in Hinblick auf deren Wirkungen ein höchst schwammiger Ausdruck – mit Hinweis auf Schweiz 1848 und Spanien 1931 fehlt Österreich bedauerlicher Weise. Im europäischen Kontext ist dies eine fatale Lücke, da die – nie erwähnte – österreichische Verfassung 1920 erstmals eine Normenkontrolle durch ein Verfassungsgericht außerhalb des anglosächsischen Rechtsbereiches kannte! Die Schweizer Verfassung 1848 sah übrigens im zitierten Artikel 105 keineswegs eine Normenkontrolle vor, sondern eine „Justitiabilität“ (Seif) bei „Verletzung der durch die Bundesverfassung garantierten Rechte“, also subjektiver Rechte!

 

An vielen Stellen der Einleitung wird übrigens spürbar, wie merkwürdig „entwicklungslos“ die Darstellung ist. So wird die Schweizer Verfassung 1848 auf nahezu zwei Seiten (XXXIII–XXXV) im Detail referiert, aber es fehlt jeglicher Hinweis darauf, daß es 1874 zu einer tiefgreifenden Revision und im Jahre 2000 zu einer Totalrevision kam. Es folgt übrigens auf die Schweiz, völlig beziehungslos wie oft auch anderswo, die Kommentierung der Texte der französischen Verfassungssituation. Läßt sich denn tatsächlich eine „Europäische Verfassungsgeschichte“ nur durch ein Aneinanderreihen darstellen? Die weiteren Ausführungen scheinen dies für Seif zu belegen. Höchst dürftig ist das zur österreichischen Verfassung 1934 Gesagte: Wie auch sonst ist es „entwicklungslos“, denn numehr fehlt als Vorgeschichte zumindest eine Erwähnung der Verfassung 1920 und ihrer ein wenig zum Ständestaat hinneigenden Novellierung 1929; Mussolinis Italien wird als „Vorbild“ erwähnt, der Einfluß päpstlicher Enzykliken aber nicht (XLIV).

 

Vollends fehlt es an wenigstens knappen Hinweisen zur Wirkungsgeschichte der einzelnen Texte: Die Paulskirchenverfassung 1849, obwohl nie in effektiver Geltung, steht ebenso da wie die bis 1918 geltende Reichsverfassung 1871. Daß jene großdeutsch konzipiert, zufolge der „Absage“ Österreichs kleindeutsch zusammenschrumpfte, bleibt verschwiegen, ebenso, daß Österreichs Verfassung 1934 bis 1938 von einem Ermächtigungs- und einem Übergangsgesetz überlagert war.

 

Warum bricht die Sammlung vor dem 2. Weltkrieg ab – kurioserweise mit der Ausnahme Spanien –, zumal es an den modisch-blumigen EU-Beschwörungen (Vorwort, XLIX) nicht fehlt? Nirgendwo findet sich dafür eine Begründung – auch nicht für die Ausnahme. Erklärlich wird sie aber schon: Die auch hier nur über die Übersetzungsliste feststellbare Textvorlage von Mayer-Tasch (Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, München 1975) reicht eben bis 1967 – sie wurde also in Bezug auf die chronologische Reichweite gedankenlos übernommen!

 

Würdigt man Seifs Einleitung, so bestätigt sich vollauf der vom Textteil gewonnene Eindruck weitestgehender Rat- und Sorglosigkeit. Wie mehrfach belegbar, erweisen sich die Ausführungen durchaus nicht als verbindender Kitt der unterschiedlichen Texte, als Auffüllung und Abrundung hin zu einer „Europäischen Verfassungsgeschichte“. Sie lassen Erläuterungen des Umfeldes der Texte vermissen und bleiben streckenweise sogar hinter ihrer Kommentierung zufolge einer bloßen Inhaltsangabe zurück (z. B. XXV f.). Vor allem aber verblüfft die Anhäufung von erstaunlichen Fehlern.

 

So ist denn das besprochene Buch in mehrfacher Weise höchst unbefriedigend. Vom editorischen Standpunkt mangelt es oft an einer klaren Angabe über die Herkunft der Texte, über deren allfällige Kürzungen, über die Wahl der jeweiligen Übersetzung, über die Art von deren Berarbeitung und vor allem über die Auswahl der Quellen. Verstärkt werden diese Unsicherheiten durch die keineswegs sachgerechte Zuteilung der Texte zu Sachgruppen, die in einigen Fällen klar widersprüchig und in vielen Fällen schwer nachvollziehbar ist. In gleicher Weise betrifft dies die Einleitung vor allem deshalb, weil sie praktisch ausschließlich auf die Texte bezogen ist und sie keineswegs trotz ihrer unterschiedlichen Provinenz als Marksteine einer gesamteuropäischen Entwicklung begreift, ja selbst örtlich aufeinanderfolgende oder zeitlich in etwa parallele Texte in so gut wie keinerlei Beziehung zueinander setzt. Mit Verwunderung muß man übrigens zur Kenntnis nehmen, daß es keinerlei Hinweise auf Sekundärliteratur gibt! Sie würde jedenfalls die hier nur beispielhaft aufgezeigten Lücken schließen sowie Fehler erkennen und korrigieren helfen.

 

Wer in die Herausgeber oder in den Titel Erwartungen gesetzt hat, sieht sich herb enttäuscht. Edition und Einleitung sind gleichermaßen höchst unbefriedigend. Abgesehen davon ist allein schon die Perspektive, rund 1000 Seiten Texte als „Studienausgabe“ benützen zu wollen, ein pädagogisches Unikum, zumal es sich durchaus um keinen „liber pauperum“ handelt. Eine „Europäische Verfassungsgeschichte“ selbst als bloße Textauswahl in Verbindung mit einer zumindest knappen Darstellung, um deutlich zu machen, was europäische Verfassungsgeschichte eigentlich sei, bleibt nach diesem Buch ein Desiderat, aber doch gerade wegen desselben keines ohne Hoffnung.

 

Wien                                                                                                              Wilhelm Brauneder

 

Replik Dietmar Willoweits und Ulrike Seifs