Willing, Matthias, Das Bewahrungsgesetz (1918-1967). Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts). Mohr (Siebeck) 2003. XII, 447 S.

 

Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. 6. 1961 brachte erstmals die umfassende Möglichkeit, „Gefährdete“ in einer Anstalt oder in einem Heim gegen ihren Willen unterzubringen, wenn „der Gefährdete besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos ist und er verwahrlost oder der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt ist und die Hilfe nur in einer Anstalt, in einem Heim oder in einer gleichartigen Einrichtung wirksam gewährt werden kann“ (§ 73). Diese Regelung, die zwischen 1962 und 1967 zur Unterbringung von nur zehn Personen in einer geschlossenen Anstalt geführt hat, wurde durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 18. 7. 1967 wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG für verfassungswidrig erklärt. Damit war die 50jährige Diskussion über die Schaffung eines Bewahrungsgesetzes – so die Terminologie seit 1925 in Abgrenzung zur strafrechtlichen Verwahrung – beendet, die im Oktober 1918 auf der Gefährdetenhilfe-Tagung des Frankfurter Wohlfahrtsamtes begonnen hatte. Willing befasst sich in seinem grundlegenden Werk mit den zahlreichen Projekten zu einem Verwahrungs- bzw. Bewahrungsgesetz zwischen 1918 und 1961, die in einem Dokumentenanhang im Wortlaut auch mitgeteilt werden, soweit sie unveröffentlicht blieben oder schwer zugänglich sind. Der Anstoß zu einem Bewahrungsgesetz kam von Agnes Neuhaus, der Vorsitzenden des 1903 gegründeten Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder (KFV). Neuhaus hatte sich seit 1904 für ein solches Gesetz eingesetzt, bis es ihr in der Umbruchsphase 1917/18 gelang, weitere Fürsorgekreise für das Vorhaben zu interessieren. Zielgruppe für das Gesetz waren nach Neuhaus gefährdete und „gefallene“ junge Frauen aus dem Prostituiertenmilieu für die Zeit ab der Volljährigkeit (Auslaufen der Möglichkeit einer Fürsorgeerziehung). Das Projekt war den Idealen der damaligen Sittlichkeitsbewegung verpflichtet sowie von rassehygienischen Gedanken nicht ganz unbeeinflusst und bildete damit eine „Mischung aus missionarischem Eifer und karitativer Fürsorge“ (S. 286). Die Idee zu einem Verwahrungsgesetz fand breite Zustimmung beim „Deutschen Ausschuss für Gefährdetenfürsorge“ (1920) und bei der „Verwahrungskommission“ des einflussreichen „Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge“ (DV), der 1925 den Entwurf zu einem Verwahrungsgesetz vorlegte, der allerdings nicht die Geisteskranken einbezog. Neuhaus hatte für das Zentrum ihren Entwurf 1921 im Reichstag eingebracht; ihr Entwurf von 1925 ging als gemeinsamer Antrag des Zentrums und der Deutschnationalen Volkspartei an den Reichstag, dem auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands einen weiteren Entwurf übermittelte. Hinzu kam noch der Entwurf des „Deutschen Verbandes zur Förderung der Sittlichkeit“, der auch die Zwangsunterbringung von geisteskranken und geistesschwachen Personen vorsah. Im Reichsministerium des Innern entstand 1927/28 ein Referentenentwurf zu einem Bewahrungsgesetz, der ebenfalls die Unterbringung von verwahrlosten Personen vorsah, wenn sie entmündigt waren, weil sie „infolge von Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Trunksucht ihre Angelegenheiten nicht zu besorgen vermochten oder infolge gewohnheitsmäßigen oder übermäßigen Genusses anderer berauschender Mittel als geistiger Getränke ihre Angelegenheiten nicht besorgen konnten usw.“ (S. 332). Vom Referentenentwurf abgesehen war in den anderen Gesetzentwürfen der unterzubringende Personenkreis nur vage umrissen und die rechtsstaatlichen Garantien der Weimarer Verfassung nicht immer hinreichend berücksichtigt. Bei den Projekten, die im Zeichen eines sozialpädagogischen Optimismus standen, waren eugenische und rassehygienische Ziele kaum von Bedeutung; die Reform scheiterte trotz breiter Zustimmung bei den politischen Parteien (mit Ausnahme der Kommunistischen Partei Deutschlands) vor allem an finanziellen Bedenken.

 

Mit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus ging die Diskussion über ein Bewahrungsgesetz bis 1939 weiter. Wenn auch rassehygienische und bevölkerungspolitische Ziele nunmehr verstärkt in den Diskurs einflossen, spielten diese nicht die zentrale Rolle, wie es angesichts der NS-Ideologie zu erwarten gewesen wäre. Nachdem der „SS-Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ am 14. 12.1937 die Polizei ermächtigt hatte, „Asoziale“ ohne gerichtliche Verhandlung in Konzentrationslager zu verbringen, befasste sich im August 1938 der Wohlfahrtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht mit Vorschlägen zu einem Bewahrungsgesetz. Gegen den Widerstand der Vertreter des Reichspolizeikriminalamtes und der Beamten des Reichsinnenministeriums hielt die Ausschussmehrheit am Vorrang der fürsorgerischen Bewahrung vor der polizeilichen Lagerunterbringung fest. An die Stelle des Bewahrungsgesetzes trat das vom RKPA und Innenministerium betriebene Gemeinschaftsfremdengesetz, dessen letzte Fassung vom 17. 3. 1944 zwar den uneingeschränkten Führungsanspruch der Polizei abwehrte, gleichwohl ihr wesentliche Befugnisse reservierte und die Möglichkeit der Justiz zur Verhängung der Todesstrafe und der Entmannung sog. Sittlichkeitsverbrecher erweiterte. Die letzte Fassung des Gemeinschaftsfremdengesetzes unterschied sich grundlegend von der Bewahrungskonzeption des ADR-Wohlfahrtsausschusses. Hatte dieser nur die sog. „Asozialen“ im Auge, so erfasste die Vorlage von 1944 auch die „Antisozialen“ (Verbrecher und kriminalisierte Personengruppen wie Homosexuelle). Das Gemeinschaftsfremdengesetz war nicht mehr als Fürsorgegesetz konzipiert und lieferte die Betroffenen nahezu unbegrenzt der in der Spätphase des Nationalsozialismus radikalisierten Justiz und der Willkür der Polizei aus (vgl. S. 198). – Bereits 1946 griffen frühere Befürworter der Zwangsbewahrung wie Zillken (KFV), Hilde Eiserhardt und W. Polligkeit im Allgemeinen Fürsorgeerziehungstag (AFET) die Forderung nach einem Verwahrungsgesetz wieder auf. Der Entwurf des AFET schloss sich eng an die Vorarbeiten aus der Weimarer Republik an, schränkte jedoch einige der damals für notwendig gehaltenen Rechtsgarantien ein. Helene Wessel, die sich bereits 1934 in ihrer Monographie: „Bewahrung – nicht Verwahrlosung. Eine eugenische und fürsorgerische Notwendigkeit“ zu Lasten erzieherischer Ziele für eine „dauerhafte Anstaltsunterbringung im Sinne einer ,eugenischen Asylierung’“ (S. 296) eingesetzt hatte, reichte 1951 im Bundestag den Entwurf zu einem Bewahrungsgesetz ein, der sich weitgehend an der Zentrumsvorlage von 1925 orientierte. Nachdem die Vorlage bei der SPD, DP, FDP und KPD auf erhebliche Bedenken gestoßen war, berücksichtigte Gottschick (Bundesministerium des Innern) diese teilweise bei den Referentenentwürfen „über die Fürsorge für Verwahrloste und von Verwahrlosung bedrohte Personen“ (1953/54). Die vom Grundgesetz geforderten Rechtsgarantien für eine Unterbringung legte dann das Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 1. 7. 1956 fest. Mit dem Vorschlag von Gottschick, die Bewahrungsregelung als „Hilfe für Gefährdete“ im Bundesfürsorgegesetz (später: Bundessozialhilfegesetz) mit nur wenigen Bestimmungen unter Verweis auf das Freiheitsentziehungsgesetz einzubauen, war der Gedanke eines Sondergesetzes vom Tisch, wenn auch die Voraussetzungen für die Zwangsverwahrung nach dem BSHG ähnlich unscharf umschrieben waren wie im Zentrumsentwurf von 1925. Obwohl der Bundesrat die Zwangsverwahrung 1960 zurückwies, hielten die Bundesregierung und der Bundestag an ihr fest, und zwar auch die SPD, deren Fraktion auch die ehemalige Zentrumspolitikerin und Befürworterin der Zwangsverwahrung Helene Wessel angehörte, so dass mit dem Inkrafttreten des BSHG am 1. 6. 1962 die fürsorgerische Zwangsbewahrung Realität wurde. Jedoch spielte diese in den folgenden Jahren keine Rolle mehr, da sich nach dem Ausscheiden der früheren Anhänger der Zwangsverwahrung aus der politischen und fürsorgerischen Arbeit „sukzessive das psychologisch-therapeutische Denken in der Sozialarbeit“ durchsetzte und die „repressiven, an überkommenen Moralvorstellungen festhaltenden Leitbilder der Fürsorge“ verdrängte (S. 307).

 

Abschließend stellt Willing fest, dass die Forderung nach einem Bewahrungsgesetz nicht nur „eine bevorzugte Idee der Fürsorgekreise war, sondern eine breite geistige Strömung in der Gesellschaft widerspiegelte“ (S. 312). Bis zu den Leitsätzen des Wohlfahrsausschusses der ADR zur „Ausgestaltung des Bewahrungsrechts“ bestand trotz „Umkehrung des Weimarer Fürsorgegedankens“ eine starke personelle und – wenn auch um rassehygienische Zielsetzungen erweiterte – inhaltliche Kontinuität, die seit der polizeilichen „Bewahrung“ in Konzentrationslagern unterbrochen wurde. Nach 1945 hatte das Bewahrungsgesetz keine höchste Priorität mehr, wenn auch die Fürsorgeverbände bruchlos an die Projekte der Weimarer Zeit anknüpften, deren Grundgedanken im Bundestag jedoch überwiegend auf Ablehnung stießen (S. 235ff.). Besonderes Augenmerk hat Willing auf die Biographie der wichtigsten an der Bewahrungsdiskussion beteiligten Personen gelegt und hierbei erstaunliche personelle Kontinuitäten festgestellt, über die bisher nur weniges bekannt wurde, ein Zustand, „der teilweise bis in die Gegenwart anhält und zu weiteren Forschungen animieren sollte“ (S. 310). Wichtig erscheint auch der Hinweis, dass „kaum ein Lebenslauf unfrisiert blieb“ (S. 310). Mit Recht hat Willing die Thematik auf die fürsorgerische Bewahrung „asozialer“ Personen beschränkt. Jedoch lassen sich die Bestrebungen der Kaiserzeit und der früheren Weimarer Zeit auf Erlass eines Reichsirrengesetzes wohl kaum ganz ausklammern (hierzu Verf. S. 16 Fn. 56; ferner kürzlich H.-P. Schmiedebach, Eine „antipsychiatrische Bewegung“ um die Jahrhundertwende, in: M. Dinges, Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich, 1996, S. 127 ff.), zumal einige Entwürfe der Weimarer Zeit auch die Verwahrung geisteskranker und geistesschwacher Personen berücksichtigten. Ferner geht die Verfasserin nur am Rande auf das Freiheitsentziehungsgesetz von 1956 ein (hierzu H. Bartelheimer, Die Entwicklung des Unterbringungsrechts bis zum Bundesgesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 1. 7. 1956 und dessen Auswirkungen auf die Gesetzgebung der Bundesländer, Frankfurt am Main 2003), obwohl dieses in einem langwierigen und schwierigen Entstehungsprozess die verfassungsrechtlichen Standards, die bereits in der Weimarer Zeit eine erhebliche Rolle spielten, auch für die fürsorgerische Unterbringung festlegte. Noch zumindest bis in die 60er Jahre stießen die Forderungen der Art. 2 Abs. 2 und 104 GG bei der Psychiatrie auf wenig Verständnis (hierzu C. Brink, Zwangseinweisungen in die Psychiatrie, in: U. Herbert/L. Raphael, Wandlungsprozesse in Westdeutschland, 2002, S. 467 ff.). So stellten Müller/Koester/Temming 1966 (in: Das Krankenhaus 1966, S. 505 ff.) fest, das nordrhein-westfälische Gesetz von 1956 über die Unterbringung geisteskranker, geistesschwacher und suchtkranker Personen würde der „notwendigen Forderung“ nicht gerecht, „die Öffentlichkeit vor gefährlichen psychischen Kranken zu schützen, abgesehen von fürsorgerischen Erwägungen, die dem Wohle des Kranken selbst dienen sollen“ (S. 505ff.). Inzwischen verfügen die Bundesländer über moderne, zum Teil mehrfach novellierte Psychisch-Kranken-Gesetze, welche einen wichtigen Teilbereich der Zwangsbewahrung abdecken, auf den bereits einige Bewahrungs-Gesetzentwürfe der Weimarer Zeit und der NS-Zeit (vgl. S. 160) eingegangen waren.

 

Insgesamt hat Willing mit seiner Monographie eines der rechtspolitisch wichtigsten Themen des 20. Jahrhunderts anhand der umfangreichen Literatur und der nicht vollständig überlieferten Ministerialakten sowie der Verbandsarchive auch unter Einbeziehung sozial- und politikgeschichtlicher Fragestellungen erstmals rechtshistorisch erschlossen. Es ist zu wünschen, dass das Unterbringungsrecht hinfort auch in der Rechtsgeschichte – und nicht nur wie bisher in der sozial- und verbandshistorischen Literatur – über die inzwischen gut erschlossene nationalsozialistische Zeit hinaus – die Beachtung findet, welche dieses Rechtsgebiet im Hinblick auf die Sicherung elementarer Verfassungs- und Persönlichkeitsrechte verdient.

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert