Zayas, Alfred de, Völkermord als Staatsgeheimnis. Vom Wissen über die „Endlösung der Judenfrage“ im Dritten Reich. Olzog, München 2011. 204 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Die – quellenmäßig sicherlich schwierig zu beantwortende – Frage, was die deutsche Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges über den unter strikter Geheimhaltung ausgeführten, millionenfachen Mord an den europäischen Juden erfahren konnte, tatsächlich erfuhr wie sie auf die durchgesickerten Informationen reagierte, hat die Historiker seit langem beschäftigt. In den letzten Jahren haben hierzu Peter Longerich, Frank Bajohr, Dieter Pohl und Bernward Dörner quellengesättigte Untersuchungen vorgelegt, die bei Nuancen im Einzelnen zu dem Ergebnis kamen, die „Endlösung der Judenfrage“ sei mehr oder minder ein offenes Geheimnis gewesen.

 

Der emeritierte amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas, Ende der 1970er Jahre durch eine Arbeit zur Wehrmacht-Untersuchungsstelle für alliierte Völkerrechtsverletzungen bekannt geworden, bezieht nun eine explizite Gegenposition und verwirft in Bausch und Bogen die von ihm allerdings kaum wirklich rezipierten, seiner These entgegenstehenden Ergebnisse der Forschung. Soweit sein mit rund 150 Seiten Text zwar schmales, aber durch zahlreiche Wiederholungen, eine sprunghafte Gedankenfolge und unzählige Exkurse in endlosen Fußnoten gekennzeichnetes Büchlein überhaupt einen roten Faden erkennen lässt, so ist es die vom Regime über das Verbrechen verhängte Geheimhaltung, vor allem ein diesbezüglicher „Grundlegender Befehl“ Hitlers vom Januar 1940, der freilich lange vor Ingangsetzung des Völkermordes erlassen wurde. Mit dem Nachweis der naheliegenden Intentionen des Regimes ist noch nichts darüber ausgesagt, ob die angestrebte Geheimhaltung tatsächlich gelang; bei der viel kleiner dimensionierten „Euthanasie“ waren unbestrittenermaßen weite Bevölkerungskreise rasch im Bilde.

 

Darüber hinaus rekurriert der Autor erneut auf seine Beschäftigung mit der Wehrmacht-Untersuchungsstelle, in deren Akten sich – wenig verwunderlich – keine Hinweise auf die „Endlösung“ fanden (S. 22). Daneben beruft er sich auf zahlreiche von ihm vor längerer Zeit geführte Interviews sowie – erstaunlicherweise – auf die seiner Meinung nach zu wenig beachteten Akten der Nürnberger Prozesse. Den Leser wird nicht überraschen, dass die dort Angeklagten nicht nur jede eigene Verantwortung für den Genozid, sondern auch ihr Wissen darum in Abrede stellten. De Zayas ist sich zwar der Problematik derartiger Exkulpationen hochrangiger Vertreter des NS-Regimes bzw. angeklagter Direkttäter bewusst (S. 62f.), umschifft diese Klippe aber mit dem simplen Argument, es könnten schließlich nicht alle gelogen haben. Er ignoriert ferner, dass es den damaligen Gerichten um die konkreten Taten der Delinquenten ging und nicht darum, was die deutsche Bevölkerung insgesamt wusste oder ahnte.

 

Auffällig ist die in doppelter Hinsicht verengte und einseitige Quellenbasis dieser Arbeit: Zum einen werden überwiegend nach dem Mai 1945 getätigte Aussagen zum Teil sehr ausführlich zitiert, kaum jedoch Dokumente, die zeitgleich mit dem in Rede stehenden Ereignis entstanden sind. Zu Wort kommen mehrheitlich jene, die gute Gründe hatten, von nichts gewusst zu haben. Bei dieser Vorgangsweise sind die Ergebnisse vorbestimmt, denn sämtliche Hinweise auf durchgesickerte Informationen blendet de Zayas souverän aus; stattdessen konstatiert er geradezu naiv: „Nach der Lektüre dieser Aussagen und Urteile wird offensichtlich, dass der Kreis der Wissenden äußerst beschränkt gewesen sein musste“ (S. 75).

 

Faktum ist, dass das Regime um Geheimhaltung bemüht war und man sich das dennoch verbreitete Wissen nicht als Kenntnis aller Details, sondern als aus vielen Indizien zusammengesetztes, unterschiedlich ausgeprägtes und durchaus bruchstückhaftes Teil-Wissen vorzustellen hat. Das war aber ohnedies bekannt und wird von niemandem bestritten. Mit seinen ständig wiederholten, juristisch untermauerten Plädoyers gegen Thesen einer deutschen Kollektivschuld rennt der Verfasser offene Türen ein. Insgesamt handelt es sich um ein schwer lesbares, verworren argumentierendes Buch, das meilenweit hinter dem vor allem von Longerich repräsentierten, differenzierten Forschungsstand zurückbleibt.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll