Lässer, Gregor, Martinis Rechtsphilosophie und das österreichische Privatrecht. Von Martinis „Lehrbegriff des Naturrechts“ (1762) zum ABGB (1811/12) (= Recht und Kultur  5). LIT, Wien 2008. 189 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

In den letzten Jahren hat sich die Forschung in starkem Maße dem Leben und Werk des österreichischen Naturrechtlers Karl Anton von Martini zugewandt. Im Jahre 1996 erschien eine fundierte Monographie von Michael Hebeis[1] über Martini; 1998 fand ein „Martini-Colloquium“ in Innsbruck statt[2], im Oktober 2000 das „2. Europäische Martini-Kolloquium“ in Trient[3].

 

Die vorliegende Untersuchung Gregor Lässers behandelt vornehmlich Martinis Rechtsphilosophie und deren Bedeutung für die österreichische Privatrechtskodifikation[4]. Grundlage der Untersuchung bilden primär die beiden naturrechtlichen Hauptwerke Martinis, die „Positiones de lege naturali“ (1762) (deutsche Übersetzung „Lehrbegriff des Naturrechts“, Wien 1787, 1797 und 1799) und die „De lege naturali exercitationes sex“ (1766), ferner der „Entwurf Martini“ (1796)  und das „Westgalizische Gesetzbuch“ von 1797.

 

Im I. Abschnitt (S. 11ff.), welcher der Person Martinis gewidmet ist, wird auf die einflussreiche Lehrtätigkeit desselben an der Wiener Juristenfakultät sowie an der Theresianischen und an der Savoyischen Ritterakademie hingewiesen. Zu Martinis zahlreichen bedeutenden Schülern zählen Franz von Zeiller[5], Johann Bernhard Horten[6], Joseph Hyazinth von Froidevo[7], Franz Georg von Kees[8] sowie Josef von Sonnenfels[9] (S.15).

Im II. Abschnitt (S. 36ff.) wird Martinis Naturrechtsbegriff erörtert (S. 41ff.). Dieser entspricht der älteren Naturrechtslehre. Martini steht unter dem Einfluss von Pufendorf, Thomasius, Heineccius und vor allem von Christian Wolff (S. 47). Die Erkenntnisquelle für die natürlichen Gesetze sieht er allein in der menschlichen Vernunft und deren Erfahrung (S. 47). Martini bevorzugt die mathematische Lehrmethode gegenüber der scholastischen[10]. Die §§ 16 und 17 ABGB, wonach jeder Mensch „angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“, angeborene natürliche Rechte, hat, gehen auf Martini zurück (Entwurf Martini I, 2 §§ 1 u. 2; vgl. Verf. S. 44).

 

Kernstück der Arbeit ist der III. Abschnitt (S. 51-123): „Martinis Naturrechtslehre als Hauptquelle für das Privatrecht“. Hier wird Martinis Pflichtenlehre behandelt, die Unterscheidung zwischen unbedingt natürlichen und bedingt natürlichen Pflichten. Zu den unbedingt natürlichen Pflichten (S. 53ff.) zählen die Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst, die unvollkommenen Pflichten gegenüber anderen (die Billigkeitspflichten), die vollkommenen Pflichten gegenüber anderen (die Gerechtigkeitspflichten) sowie die Pflichten bei Äußerung unserer Gesinnungen.

 

Im Kapitel über die bedingt natürlichen Pflichten wird Martinis Lehre von den Sachenrechten im weiten Sinne behandelt (S. 66ff.). Die Darstellung konzentriert sich auf das Eigentums-, das Besitz- und das Vertragsrecht. Dabei wird die oft weitgehende Übereinstimmung der Naturrechtswerke Martinis, insbesondere der Positiones von 1762, mit dem Entwurf Martini von 1796 und dem ABGB von 1811 gezeigt. Der Begriff der dinglichen oder sächlichen Rechte im Entwurf Martini II, 1 § 27 entspricht vollauf den dinglichen Sachenrechten des ABGB §§ 307 und 308[11].

 

Für den Eigentumserwerb hat die naturrechtliche Lehre, insbesondere Pufendorf und Christian Wolff (Institutiones § 320), das Konsensprinzip vertreten; das Eigentum als facultas moralis geht mit dem Konsens auf den Akzeptanten über[12]. Martini differenziert zunächst: Bei einem Specieskauf lässt er das Eigentum unmittelbar mit Vertragsschluss übergehen; nur der Besitz wird erst im Wege der Übergabe erlangt. Bei einem Gattungskauf erfolgt der Eigentumsübergang erst mit der Bestimmung oder Übergabe des Kaufgegenstandes durch den Verkäufer (Positiones §§ 465ff.; Verf. S. 75). Im Entwurf Martini (II, 6 §§ 1 u. 2) findet sich hingegen bereits generell das Traditionsprinzip[13].

 

Nur kursorisch behandelt der Verfasser (S. 73 f.) Martinis Irrtumslehre[14]. Martini vertritt konsequent die naturrechtliche Vertrauenstheorie (Positiones 451 u. 458; Entwurf Martini III, 1 §§ 18, 20 u. 21). Der Irrtum schadet immer demjenigen, der ihn veranlasst hat. Es wird vermutet, dass der Versprechende das wirklich gewollt hat, was er zu wollen erklärt hat. Die Vertrauenstheorie hat im ABGB §§ 871, 875 und 876 (alte Fassung) ihren Niederschlag gefunden.

 

Leihe, Darlehen und Verwahrung sind dem römischen Recht entsprechend im Entwurf Martini (III 3 §§ 4f.; III 4 § 28) als Realverträge gestaltet; so auch im ABGB §§ 971, 983 (alte Fassung) und § 957.

 

Im IV. Abschnitt (S. 124-157, „Martini als zivilrechtlicher Nomothet“) wird zunächst auf die Kodifikationsgeschichte des bürgerlichen Rechts eingegangen, insbesondere auch auf Martinis Denkschrift aus dem Jahre 1792 an Kaiser Leopold II. (S. 127ff.)[15]. Anlass hiefür wahr wohl die Fertigstellung des „Allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten“ im Jahre 1791[16]. Im Kapitel über „Legistische Grundsätze“ Martinis (S. 132ff.) wird sein Streben nach einer allgemein verständlichen, modernen deutschen Rechtssprache aufgezeigt. Das Bürgerliche Gesetzbuch sollte jedem Bürger, nicht nur Rechtsgelehrten und gebildeten Laien, wie dies dann von Zeiller vertreten wurde, zugänglich und verständlich sein.

 

Handelt es sich beim „Entwurf Martini“ (1796) um „paragraphiertes Naturrecht“? (Verf. S. 137ff.)[17]. Sosehr auch der naturrechtliche Charakter des Entwurfs Martinis zu bejahen ist, darf doch nicht übersehen werden, dass auch diesem Entwurf in starkem Maße römisch-gemeines Recht zugrunde liegt. Der Verfasser (S. 66) hat darauf hingewiesen[18].

 

In der „Schlussbetrachtung“ (S. 158ff.) betont der Verfasser (S. 161) zu Recht, dass sich Martinis Verdienst „nur in einer Gesamtbetrachtung seiner vielfältigen Tätigkeitsfelder erkennen und nur unter Berücksichtigung seines stark religiös geprägten Naturrechtsdenkens verstehen“ lässt.

 

Längere Zeit sind Martinis Anteil und Verdienst um die österreichische Privatrechtskodifikation gegenüber denen Franz von Zeillers im Schatten gestanden. Die neuere Forschung, darunter die Arbeiten G. Lässers, hat das Gleichgewicht wieder hergestellt. Martini und Zeiller, beide, sind als Schöpfer und Väter unseres ABGB anzusehen. Michael Hebeis[19] ist beizupflichten, dass „Substanz und Terminologie des ABGB ganz wesentlich von Martini geprägt wurden“. Theo Mayer-Maly[20] sieht Zeillers Leistung vor allem „in der Straffung des Textes, im Gewinnen von mehr Klarheit und in der Konzentration auf das Normative“. Die Grundrechtsbestimmungen des Martinischen Entwurfs wurden gestrichen. Zeiller hat das Werk Martinis vollendet und zu einem positiven Abschluss gebracht[21].

 

Graz                                                                                       Gunter Wesener



[1] Karl Anton von Martini (1726-1899). Leben und Werk (Frankfurt am Main 1996); dazu G. Wesener, ZRG Rom. Abt. 120 (2003) 311ff. – Vgl. auch H. Hofmeister, in: NDB 16 (1990) 299f; W. Brauneder, Karl Anton von Martini zu Wasserberg, in: R. Domingo (ed.), Juristas universales II (Madrid – Barcelona 2004) 662ff.

[2] Naturrecht und Privatrechtskodifikation. Tagungsband des Martini-Colloquiums 1998, hrsg. von R. Barta/R. Palme/W. Ingenhaeff (Wien 1999); dazu Th. Mayer-Maly, JBl 123 (2001) 805f.

[3] Die dort in deutscher Sprache gehaltenen Vorträge wurden, zum Teil in überarbeiteter Form, durch weitere Beiträge ergänzt, in einem Sammelband publiziert: H. Barta/G. Pallaver (Hrsg.), Karl Anton von Martini. Ein österreichischer Jurist, Rechtslehrer, Justiz- und Bildungsreformer im Dienste des Naturrechts (Wien 2007). Die in italienischer Sprache gehaltenen Vorträge werden in der Einleitung des Bandes (S. 15ff.) vorgestellt.

[4] Ein Beitrag Lässers zu dem Thema findet sich in dem oben Fn. 3 angeführten Sammelband (S. 135-195) mit dem Titel „Martinis Naturrechtslehre als Hauptquelle für das Privatrecht“.

[5] Vgl. J. F. Desput/G. Kocher (Hrsg.), Franz von Zeiller. Symposium der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz und der Steiermärkischen Landesbibliothek am 30. 11. 2001 aus Anlass der 250. Wiederkehr seines Geburtstages (Graz 2003); F. Bydlinski, Franz von Zeiller, in: R. Domingo (ed.), Juristas universales II (2004) 764ff.; B. Schilcher, Franz Anton von Zeiller als Gesetzgeber und Begründer einer bürgerlichen Rechtskultur, in: Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz, hrsg. von K. Acham (Wien-Köln-Weimar 2011) 289ff.

[6] Vgl. G. Wesener, Die Rolle des Usus modernus pandectarum im Entwurf des Codex Theresianus, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur. FS für K. Kroeschell zum 70. Geburtstag (München 1997) 1363ff., insbes. 1377 Fn. 95 (mit w. Lit.).

[7] F. Klein-Bruckschwaiger, Zur Entstehung der Allgemeinen Gerichtsordnung. Das Werk des Schweizers J. H. Froidevo, JBl 89 (1967) 192ff.; M. Loschelder, Die österreichische Allgemeine Gerichtsordnung von 1781. Grundlagen- und Kodifikationsgeschichte (Berlin 1978) 55f.; F. L. Schäfer, Juristische Germanistik (Frankfurt am Main 2008) 192.

[8] G. Kocher, Franz Georg Ritter von Kees , in: W. Brauneder (Hrsg.), Juristen in Österreich 1200-1980 (Wien 1987) 93ff., 323.

[9] W. Ogris, Joseph von Sonnenfels 1733-1817, in: W. Ogris (Hrsg.), Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey (München 2003).

[10] Lehrbegriff des Naturrechts (Wien 1799) § 296: Wolfens Methode ist ohne allen Widerspruch die allerschicklichste, um verborgene Wahrheiten zu entdecken und entdeckte zu beweisen… Verf. S. 42; vgl. G. Wesener, Naturrechtliche und römisch-gemeinrechtliche Elemente im Vertragsrecht des ABGB, ZNR 6 (1984) 113ff., insbes. 115.

[11] Zur Unterscheidung zwischen dinglichen und persönlichen Sachenrechten G. Wesener, Dingliche und persönliche Sachenrechte – iura in re und iura ad rem, in: FS für H. Niederländer zum 70. Geburtstag  (Heidelberg 1991) 195ff., insbes. 208ff.; ders., Zur Bedeutung des Usus modernus pandectarum für das österreichische ABGB, in: Gedächtnisschrift für Th. Mayer-Maly (Wien 2011) 569ff., insbes. 572f.

[12] Vgl. G. Wesener, Zur naturrechtlichen Lehre vom Eigentumserwerb, in: FS N. Grass zum 70. Geburtstag (Innsbruck 1985) 433ff., insbes. 437ff.,

[13] ABGB § 380: Ohne Titel und ohne rechtliche Erwerbungsart kann kein Eigentum erlangt werden,  Vgl. § 381, Zum Traditionsprinzip und der Lehre von titulus und modus adquirendi Wesener, Zur naturrechtlichen Lehre vom Eigentumserwerb (oben Fn. 12) 433f., 442ff. – Vgl. auch M. Haberer, Kausalprinzip – Konsensprinzip – Abstraktionsprinzipp (jur. Diss., Univ. Graz 2004) 78ff.

[14] Dazu G. Wesener, Zeillers Lehre „von Verträgen überhaupt“, in: Forschungsband Franz von Zeiller (1751-1828), hrsg. von W. Selb u. H. Hofmeister (Wien-Graz-Köln 1980) 248ff., insbes. 257ff.; eingehend M. J. Schermaier, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB (Wien-Köln-Weimar 2000) 444ff.; zur Lehre Zeillers und zum ABGB Schermaier, ebd., 453ff.

[15] Abgedruckt bei M. Friedrich, Martinis Reaktion auf die Publikation des AGB, in: Naturrecht und Privatrechtskodifikation (wie oben Fn. 2) 482-504.

[16] Vgl. M. Friedrich, Martinis Reaktion auf die Publikation des AGB (oben Fn. 15) 443ff.

[17] Vgl. H. Klenner, Über Martinis Naturrechtsbegriff, in: Naturrecht und Privatrechtskodifikation (wie oben Fn. 2) 195ff., insbes. 205.

[18] Dazu A. Völkl, Die österreichische Kodifikation und das römische Recht, in: Naturrecht und Privatrechtskodifikation (wie oben Fn. 2) 277ff., insbes. 289ff. Vgl. auch Wesener, Naturrechtliche und römisch-gemeinrechtliche Elemente im Vertragsrecht des ABGB (oben Fn. 10) 113ff.

[19] Das juristische Werk des Karl Anton von Martini, in: Naturrecht und Privatrechtskodifikation (wie oben Fn. 2) 93ff., insbes. 112.

[20] Zeiller, das ABGB und wir, in: Forschungsband Franz von Zeiller (wie oben Fn. 14) 1ff., insbes. 9.

[21] Zu den Verdiensten Martinis und Zeillers vgl. Wesener, Franz von Zeiller (1751-1828) – Leben und Werk, in: Kocher/Desput (Hrsg.), Franz von Zeiller (wie oben Fn. 5) 67ff., insbes. 90f.; ders., Zur Bedeutung des Usus modernus pandectarum für das österreichische ABGB (oben Fn. 11) 569ff.