Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933. Quellen zur Geschichte und Interpretation des „Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“, hg. und bearb. v. Morsey, Rudolf, überarbeitete und ergänzte Neuauflage (= Dokumente und Texte 1). Droste, Düsseldorf 2010. 228 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Die vorzustellende Dokumentation ist bereits 1968 und dann nochmals 1992 in zwei seit langem vergriffenen, kürzeren Versionen erschienen. Die dritte, erheblich erweiterte Neuausgabe rechtfertigt eine vollwertige Besprechung dieser grundlegenden Dokumenten- und Textsammlung zu einem der wichtigsten legistischen Akte der NS-Diktatur, wenngleich sich deren Bedeutung aus der äußerst knappen Einleitung nur ansatzweise erschließt.

 

Sofort nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde der Reichstag aufgelöst; bei der Neuwahl Anfang März erzielte die NSDAP knapp 44 % der Stimmen, was ihr zusammen mit ihrem Koalitionspartner, der Deutschnationalen Volkspartei unter Führung Alfred Hugenbergs, eine absolute Mehrheit im Reichstag verschaffte. Nachdem bereits die am 28. Februar erlassene „Reichstagsbrandverordnung“ zentrale verfassungsrechtliche Grundrechte außer Kraft gesetzt hatte, legte die Regierung Hitler-Hugenberg dem neugewählten Reichstag am 20. März das verfassungsändernde Ermächtigungsgesetz vor, das die legislativen Kompetenzen des Parlaments für vier Jahre auf die Regierung übertragen sollte. Eine Annahme der Vorlage bedeutete offenkundig die Beseitigung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, denn hinfort wären Exekutive und Legislative in der Hand der Regierung vereint, wobei diese obendrein ermächtigt würde, vom geltenden Verfassungsrecht abzuweichen.

 

Die in dem Band abgedruckten Quellen und publizierten Texte kreisen um das Thema aus drei Richtungen: Zum einen geht es um die Entwürfe des Ermächtigungsgesetzes sowie um dessen 1937, 1939 und 1943 ausgesprochenen Verlängerungen vor Ablauf der besagten vier Jahre – ein in der Geschichtswissenschaft zu Unrecht kaum beachtetes Thema, denn die Dokumente belegen, dass sich das gefestigte Regime bis 1943 über die Modalitäten dieser Verlängerungen durchaus uneins war, solange Hitlers Votum nicht auf dem Tisch lag. Erstaunlich ist allein, dass die Spitze des NS-Staates noch 1943 der scheinlegalen Grundlage ihrer Herrschaft derart viel Aufmerksamkeit widmete. Zum zweiten drehen sich die abgedruckten Quellen um die Entscheidungsfindung bei den 1933 nicht an der Regierung beteiligten Parteien, deren teilweise Zustimmung angesichts der Zweidrittelhürde für ein verfassungsänderndes Gesetz unabdingbar war. Drittens geht es um nachträgliche, meist nach 1945 vorgebrachte Deutungen einstiger Protagonisten sowie um die Interpretationen des Ermächtigungsgesetzes in der Geschichtswissenschaft. Die erhebliche Erweiterung der dritten Auflage ist dem Fortschreiten der Historiographie ebenso geschuldet wie dem Umstand, dass nunmehr etliche Quellen anhand von Akteneditionen zitiert werden können.

 

Bei Nuancen im Einzelnen ist sich die Forschung einig, dass das Ermächtigungsgesetz als Basis der Regierungsgesetzgebung bis 1945 weidlich genutzt wurde und es mit seiner scheinlegalen Fassade die Loyalität zahlloser Deutscher, insbesondere der Beamtenschaft, sichern half. Konsens besteht ferner darüber, dass die relativ problemlose Verabschiedung des Gesetzes durch den Reichstag am 23. März 1933 zwar den moralischen Bankrott der Nichtregierungsfraktionen offenlegt, jedoch Hitlers Herrschaft eher auf der Reichstagsbrandverordnung beruhte als auf dem häufig überschätzten Ermächtigungsgesetz: Wäre jenes im Reichstag an der Zweidrittelhürde gescheitert, wäre die Diktatur vermutlich auf anderen Wegen errichtet worden.

 

Ähnlich argumentierten 1933 und danach jene Parlamentarier vor allem der beiden katholischen Parteien (Zentrum und Bayerische Volkspartei), die der Gesetzesvorlage trotz Bedenken zugestimmt und ihr zur Mehrheit verholfen hatten (dagegen votierte geschlossen die SPD, die kommunistischen Abgeordneten waren an der Sitzungsteilnahme durch Verhaftung gehindert). Selbst wenn man die Einschüchterung der bürgerlichen Parlamentarier in Rechnung stellt, ergeben deren noch bis in die 1980er Jahre publizierten Zeugnisse ein trostloses Bild von illusionärem Wunschdenken und Selbstüberschätzung. Aus der Rückschau unverständlich sind Aussagen, man habe gerade wegen der Übertragung der legislativen Befugnisse auf die Regierung auf eine künftige Einflussnahme der Mittelparteien auf das Kabinett gehofft.

 

Der Band dokumentiert, wie lange nach 1945 die einstmals beteiligten bürgerlichen Abgeordneten, unter ihnen der spätere westdeutsche Bundespräsident Theodor Heuss und Heinrich Brüning, Reichskanzler von 1930 bis 1932, ihr Abstimmungsverhalten 1933 rechtfertigen mussten und zu welchen Kapriolen sie sich dabei verstiegen, indem sie auf angebliche Garantien Hitlers verwiesen, die aktenmäßig nicht nachweisbar sind. Die Bewertung solcher Aussagen bleibt dem Leser überlassen, weil der Band keine Antworten, sondern nur die Quellen selbst präsentiert. Wenngleich leider Einschätzungen aus NS-Sicht nach dem März 1933 weitgehend fehlen, ist hier gleichwohl ein vielstimmiges, aus unterschiedlichen Beständen und verstreuten Druckorten stammendes, sorgfältig ediertes Quellenkorpus vereinigt, das für die Forschung zur Frühphase der NS-Herrschaft von unschätzbarem Wert ist.

 

Graz                                                                                       Martin Moll