Baumann, Stefanie Michaela, Menschenversuche und Wiedergutmachung. Der lange Streit um Entschädigung und Anerkennung der Opfer nationalsozialistischer Humanexperimente (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 98). Oldenbourg, München 2009. 217 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der technische Fortschritt der Menschheit seit der frühen Neuzeit hat den Menschen dazu gebracht, empirisch immer weitere Versuche zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Welt im Allgemeinen und sich im Besonderen zu unternehmen. In diesem Zusammenhang hat mancher Wissenschaftler zu seinen Gunsten und zu Lasten der anderen Versuchsbeteiligten Grenzen überschritten, die er aus Achtung vor fremdem Leben nicht überschreiten hätte dürfen. Auf diesem Weg ist insbesondere während des Nationalsozialismus gegen oder zumindest ohne Willen der Betroffenen manches Verbrechen geschehen, das nach 1945 verleugnet oder von der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen wurde.

 

Mit einem Teilbereich dieses weiteren Vorgangs beschäftigt sich die von Hans Günter Hockerts betreute, im Sommersemester 2007 von der philosophischen Fakultät der Universität München angenommene Dissertation der von ihrem Betreuer in eine von der Volkswagenstiftung geförderte internationale Forschungskooperation zum Thema Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945-2000 aufgenommenen, als freie Journalistin arbeitenden Verfasserin. Sie gliedert ihre sachliche Untersuchung nach Vorwort und Einleitung in fünf jeweils durch eine Frage aufgeschlüsselte Abschnitte. Sie betreffen die Verfolgungsgeschichte, den Kabinettsbeschluss von 1951, die Wiedergutmachung im Zeichen der internationalen Politik (u. a. Ravensbrueck Lapins Project 1959/1960), den Kabinettsbeschluss von 1960 und die Globalabkommen zu Gunsten der Opfer von Menschenversuchen aus osteuropäischen Staaten sowie schließlich Sonderregelungen zu Gunsten der Opfer von Menschenversuchen nach 1989/1990.

 

Insgesamt wurden beispielsweise mehr als 500 Häftlinge zur Teilnahme an luftfahrtmedizinischen  Experimenten gezwungen, von denen mindestens 70 die Versuche nicht überlebten und zahlreiche andere Opfer körperliche oder seelische Schäden erlitten. Jahrzehntelang mussten die Geschädigten danach um Anerkennung und Entschädigung kämpfen. Eindrucksvoll kann die Verfasserin die dabei gewichtige Bedeutung des Ost-West-Konflikts und der unter amerikanischem Einfluss in die Medien gebrachten öffentlichen Meinung zeigen, deren Druck die zunächst abwehrende Haltung der fiskalisch vorgehenden Verwaltung erkennbar veränderte.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler