Zelle, Karl-Günter, Hitlers zweifelnde Elite. Goebbels - Göring - Himmler - Speer. Schöningh, Paderborn 2010. 503 S., 20 Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Hitlers Elite kann heute auf der Reichsebene als nahezu lückenlos und auf der Ebene der Gauleiter als immerhin weitgehend biographisch erforscht gelten. Dabei wurden diese Männer jedoch, wie es der Titel einer populären ZDF-Serie aus der Produktion Guido Knopps, „Hitlers Helfer“, treffend ausdrückt, durchgängig als Satrapen, Zuarbeiter, Vollstrecker, jedenfalls als willige Werkzeuge des Diktators gesehen, deren „Treue zum Führer“ – wenn überhaupt – erst in den letzten Kriegstagen ins Wanken geriet. Nur selten wurde gefragt, ob zumindest einige Führungsfiguren eigenständige politische Konzeptionen verfolgten und ob die Führer-Bindung angesichts des ab 1942 manifesten Weges in den Untergang erodierte. Der Niedergang des Hitler-Mythos wurde von dem britischen Historiker Sir Ian Kershaw schon vor drei Jahrzehnten untersucht; für die Elite des Regimes fehlen solche Studien bislang, was umso mehr erstaunt, als die meisten der zum innersten Kern der NS-Herrschaft zählenden Männer über beachtliche intellektuelle Kapazitäten verfügten, ihnen also in der zweiten Kriegshälfte klar sein musste, wohin die Reise ging: In die Katastrophe ihres Volkes, aber auch in ihren eigenen höchstpersönlichen Untergang.

 

Diese Lücke versucht die in Mainz bei Sönke Neitzel entstandene, nun im Druck vorliegende Dissertation Karl-Günter Zelles zu schließen, was ihm – dies sei vorweggenommen – auch gelingt. Zelles Ausgangspunkt ist einmal mehr das bekannte Charisma-Konzept Max Webers, das als Pendant zum charismatischen Herrscher dessen Gefolgschaft als zweiten Akteur eines bipolaren Modells ins Spiel bringt: Wenn die Jünger beginnen, ihren Messias in Frage zu stellen, bröckelt dessen Charisma ab, ist dieses doch mindestens langfristig an den Erfolg gebunden und verlässt üblicherweise den Scheiternden. Zelle ergänzt Weber durch den wichtigen Hinweis, es könne jedoch „der tatsächliche Erfolg durch die Gewißheit des zukünftigen ersetzt werden“ (S. 87). Ersetzt man den Begriff Gewissheit durch Glauben, ist Hitlers Verhältnis zu seinen Paladinen treffend beschrieben. Dies stellt einen durchaus interessanten Ansatz dar, der freilich nicht ganz so neu ist, wie Zelle behauptet (S. 16). Kershaw hat mit seinem Modell des „working towards the Führer“ hier wichtige Vorarbeit geleistet, wird von Zelle aber nicht erwähnt.

 

Für seine Untersuchung hat Zelle vier Personen aus dem engsten Kreis um Hitler ausgewählt: Propagandaminister und Gauleiter von Berlin Joseph Goebbels, Reichsmarschall, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und zeitweilig de facto Wirtschaftsdiktator Hermann Göring, Reichsführer-SS Heinrich Himmler sowie Hitlers Lieblingsarchitekten und ab 1942 Rüstungsminister Albert Speer. Für alle vier wurde, neben der Fachliteratur, ein umfangreiches Quellen-Korpus ausgewertet: Im Falle des exzessiven Tagebuchschreibers Goebbels und des Memoirenverfassers Speer sind dies u. a. höchstpersönliche Dokumente, hinzu kommen für alle Genannten Reden vor unterschiedlichem Publikum, amtliche Korrespondenz, Protokolle von Besprechungen und ähnliches. Ausgebreitet wird dieses Material in vier biographischen, den vier Protagonisten gewidmeten Kapiteln sowie einer sozialpsychologisch angelegten Gesamtschau am Bandende.

 

Fragt man zunächst nach dem gemeinsamen Nenner der vier Paladine, so ist in allen Fällen der außergewöhnlich starke Einfluss Hitlers im Zuge persönlicher Begegnungen zu konstatieren. Nicht nur bei Goebbels, für den Zelle dies explizit feststellt (S. 80), drängt sich der Eindruck auf, es handle sich jeweils um zwei verschiedene Menschen, je nachdem, ob Hitler zugegen war oder nicht. Göring und Goebbels begegneten Hitler erstmals in den frühen 1920er Jahren, als ihre Lebensumstände mehr als trist waren, und waren sofort vom künftigen Führer fasziniert, was 1932/33 auch bei Speer der Fall war. Himmler hingegen schloss sich Hitler aufgrund der übereinstimmenden Ideologie an. Überflüssig zu erwähnen, dass alle vier ihre überragende Machtstellung nur durch Hitler erlangten; ohne ihn wären sie unbedeutend geblieben.

 

Zelle stellt die Führer-Gläubigkeit und Führer-Treue seiner vier Protagonisten nicht in Frage, sieht diese aber vor allem für die zweite Kriegshälfte als die der Öffentlichkeit bzw. den eigenen Mitarbeitern präsentierte, wenn nicht vorgegaukelte Fassade, hinter und neben der es eine zweite Wirklichkeit gab. Wann jedoch erste Zweifel an Hitlers Führer-Eigenschaften bzw. an einem siegreichen oder auch nur glimpflichen Ausgang des Krieges aufkamen, konnte extrem divergieren. Goebbels hatte schon um 1925/26 erhebliche Probleme, manche Elemente von Hitlers Ideologie, etwa dessen extrem negatives Russland-Bild, mit seiner eigenen Sichtweise in Übereinstimmung zu bringen. Er passte sich zwar äußerlich an, kehrte aber immer wieder, für kürzere oder längere Zeit, zu seinen ursprünglichen Vorstellungen zurück. Auch beklagte sich Goebbels schon in den Jahren vor der „Machtergreifung“ über Hitlers Untätigkeit, Zaudern und Entschlussschwäche – ein Leitmotiv der zweiten Kriegshälfte kündigte sich hier bereits an.

 

Erste Anzeichen einer Distanzierung Görings, des designierten Nachfolgers Hitlers, verortet Zelle nicht erst ab 1942, als der Reichsmarschall wegen des Niedergangs der von ihm geführten Luftwaffe bei Hitler in Ungnade fiel, sondern schon im Herbst 1938, als Göring einige Anstrengungen unternahm, Hitlers Kriegskurs zu bremsen. Ab 1942 war es Görings vorrangiges Bestreben, vor Hitlers Tadel in eine Scheinwelt aus Jagden, Kunstwerken und Medikamentenmissbrauch zu flüchten. Erst als er Hitler im Berliner Bunker handlungsunfähig wähnte, wollte er die Nachfolgeregelung in Kraft setzen – wohl kaum ein echter Schritt zur Ablösung vom Diktator.

 

Himmler erkannte früh die Möglichkeit und später die Wahrscheinlichkeit einer deutschen Niederlage und wollte sich vorsichtig, aber doch für die Zeit nach Hitler absichern. So ließ er den innerdeutschen Widerstand, von dessen Attentatsplänen er vage Kenntnis hatte, bis zum 20. Juli 1944 gewähren und versuchte immer wieder, Friedensfühler zu den Westalliierten auszustrecken. Aus der Deckung trat er freilich erst eine Woche vor Hitlers Selbstmord, was wenig Relevanz hatte, da Himmler als die Personifizierung des NS-Mord- und Terrorapparates für die Gegner ebensowenig ein Verhandlungspartner sein konnte wie sein Führer.

 

Speer schließlich, als einziger des Quartetts deutlich jünger als Hitler, war wohl am besten über die hoffnungslose materielle Unterlegenheit Deutschlands im Bilde, verschloss jedoch lange die Augen vor diesen unangenehmen Tatsachen, indem er sich an allerhand fragwürdige Hoffnungen auf Wunderwaffen, die Überlegenheit des deutschen Soldaten usw. klammerte. Erst eine lange Krankheit Anfang 1944 zwang ihn, mit Hitler schriftlich zu kommunizieren. Hierbei entdeckte Speer, dass die Schriftform ihm ermöglichte, wesentlich freier und kritischer, vor allem aber ohne Unterbrechungen Hitlers und ohne von diesem geblendet zu sein, die Wahrheit ungeschminkt auszusprechen, was er von da an in einer Serie immer düsterer Denkschriften bis kurz vor Kriegsende tat. Speer hatte zweifellos ab 1944 die klarste Vorstellung von einem Deutschland nach Hitler. Daher stemmte sich der Rüstungsminister den Zerstörungsbefehlen des Diktators entgegen, ja sabotierte sie sogar, wozu – wie Zelle zutreffend bemerkt – unter den gegebenen Umständen eine gehörige Portion Mut gehörte.

 

Zelle untersucht nicht nur sehr, manchmal zu detailreich abweichende Positionen des Quartetts gegenüber Hitlers Linie in Fragen von Politik und Kriegführung, wobei es insbesondere um die heiß diskutierte Totalisierung der Kriegführung sowie einen Separatfrieden ging. Er fragt auch nach den Positionen gegenüber zentralen Elementen der NS-Ideologie, sofern Hitler diese definierte. Was den Begriff des „Opfers“, notfalls unter Einschluss des eigenen Volkes, angeht, stand die Destruktivität des Diktators allein.

 

Bei allen aufgezeigten Meinungsverschiedenheiten – meist waren die Männer der Elite mit ihrer realistischeren Sichtweise gegenüber Hitler sachlich im Recht – bestand die emotionale Bindung an den Diktator weiter fort, vielleicht mit Ausnahme Himmlers. Speer konnte sich bis zu seinem Tod 1980 nie restlos von seinem einstigen Idol lösen. Alle vier befanden sich in der zweiten Kriegshälfte in einem unauflösbaren Zwiespalt zwischen verstandesmäßiger Erkenntnis der näher rückenden Katastrophe und illusionären Hoffnungen auf eine glückliche Wendung. So banal dies klingen mag, denn auf welchen Deutschen traf dieses Dilemma nicht zu, so sehr kann Zelle die hieraus resultierenden Reaktionen differenzieren: Alle vier wahrten nach außen die Fassade der Siegesgewissheit, suchten und fanden aber je individuelle Wege, ihrer Skepsis Ausdruck zu verleihen und diese wenigstens teilweise auch in Taten umzusetzen: „Alle vier Personen zeigten – zumal in den letzten Kriegsjahren – ein stark schwankendes Verhalten. Sie agierten in mehreren kaum miteinander zu vereinbarenden Rollen: einer offiziellen des reibungslosen Funktionierens und einer geheimen der Zweifel und der inneren Ablösung von Hitler, bis hin zu Planungen für eine Zeit nach dessen Tod“ (S. 356f.).

 

Das Schlusskapitel analysiert dann das extrem widersprüchliche Verhalten der zweifelnden Elite anhand sozialpsychologischer Modelle, insbesondere jenes der kognitiven Dissonanz. Dabei wird deutlich, dass es sich bei Goebbels, Göring, Himmler und Speer keineswegs um psychisch kranke Menschen im klinischen Sinn handelte, sondern um Männer, die in einer ausweglosen Situation unterschiedlich, aber doch zweifelnd reagierten – insoweit trifft der Buchtitel exakt den Punkt.

 

Auf einer beeindruckenden Quellen- und Literaturbasis hat Zelle interessante neue Einsichten herausgearbeitet, wenn er auch dazu neigt, die bisherige Forschung – für einen Dissertanten ungewöhnlich – allzu oberlehrerhaft zu kritisieren. Insgesamt formuliert er klar, überzeugend und vor allem nicht spekulativ; eine stringente Kapitelgliederung und eingeschobene kurze Zusammenfassungen erleichtern die Lektüre, so dass man über die eine oder andere Wiederholung und die passagenweise Langatmigkeit des Verfassers hinwegsehen kann. Beispielhaft hierfür sei nur auf eine lange Endnote verwiesen (S. 408, Endnote 25), die sich mit Hitlers Augenfarbe beschäftigt und diesbezüglich ein Forschungsdesiderat ausmacht. Auch mag man kritisieren, dass der Autor die intensive Diskussion über Quellenwert, Aussagekraft und Verlässlichkeit der Goebbels-Tagebücher – immerhin eine seiner meistzitierten Quellen – nicht rezipiert hat. Zelle hat gleichwohl eine solide Grundlage gelegt, die der Forschung eine neue Frage zur Beantwortung aufgibt: Wie bewerkstelligte es Hitler, seine zweifelnde Elite cum grano salis bis zu jenem Moment bei der Stange zu halten, als die Russen vor seinem Bunker standen?

 

Graz                                                                                                   Martin Moll