Wallbaum, Klaus, Der Überläufer. Rudolf Diels (1900-1957) - der erste Gestapo-Chef des Hitler-Regimes. Lang, Frankfurt am Main 2010. 375 S., 4 Abb. (zugleich Diss. phil. Hannover). Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Die erste zusammenhängende politische Biographie des Leiters der Politischen Polizei unter dem preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring in der Phase zwischen 1933 und 1934 spiegelt den um einiges untypischen, spannungsreichen Werdegang eines Mannes wider, dessen Rolle freilich nicht nur die eines schlichten „Überläufers“ gewesen ist. Der von Klaus Wallbaum, dem Sozialwissenschaftler und heute politischen Journalisten, gewählte Titel trifft allerdings eine wesentliche seiner wiederkehrenden Verhaltensweisen genau: der liberal-konservative Parteigänger der DDP der Weimarer Zeit, dann alsbald auch Sympathisant der autoritären Kanzlerschaft Kurt von Schleichers mit vielfältigen, undurchsichtigen Kontakten nach Links wie Rechts läuft ersichtlich als ehrgeiziger und umtriebiger Karrierist relativ bruchlos zur NSDAP über, um dann – nach dem schrittweisen Niedergang seiner Beamten- und Wirtschaftsführerlaufbahn während des Dritten Reiches – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als wichtiger Zeuge unter dem Schutze vor allem der Amerikaner einschließlich des US-Geheimdienstes zu wirken. Das konnte ihm bemerkenswerterweise in einer zwielichtigen Kombination als Be- und zugleich Entlastungszeuge gelingen, bevor er sich einige Jahre später nach dem vergeblichen Versuch, in irgendeiner Weise wie andere ehemalige Beamte in den Verwaltungs- bzw. Polizeidienst zurückzukehren, wieder mit Protagonisten rechtsextremer Politik einlässt.

 

So wie diese Vita nicht einer geraden Linie, sondern eher einem opportunistischen Zickzackkurs gleicht, so unterschiedlich sind in der meist krass beschönigenden Selbstdarstellung und in der diffusen oder partiellen Wahrnehmung der Zeitgenossen die Perspektiven im politischen Raum. Die Forschung ist denn auch in den Anfängen und manchmal bis heute seinen apologetischen Strategien namentlich aus den Spruchkammerverfahren aufgesessen. Die Darstellung der Verfahren zeigt an diesem Beispiel einmal mehr, wie fragwürdig deren Funktion auf dem aktuellen politischen Hintergrund sich entwickelte. Der erste Gestapochef, der weit mehr als nur ein Steigbügelhalter war, konnte auf diese Weise zum Schluss sogar in die Kategorie V – „entlastet“ - gelangen!

 

Diels’ missglückter Versuch einer Rechtfertigung seiner selbst, seiner Generation und in gewissem Sinne auch des Beamtentums im Dritten Reich oder gar partiell oder pauschal der NS-Funktionsträger in „Lucifer ante portas“ (1947) bemäntelt seine dubiosen Rollen schon beim Sturz der preußischen Regierung im Jahre 1932, seine wesentliche Mitwirkung bei der Verfolgung, Inhaftierung und Vernichtung politischer Gegner nach dem Reichstagsbrand und den – jedenfalls in der Anfangszeit nach dem Umsturz von 1933 – mittels direkten „Zugangs zum Machthaber“ möglichen Machtzuwachs.

 

Dass es in den Rivalitäten und Machtkämpfen trotz aller unterwürfigen Anbiederungen etwa an Himmler und Goebbels dann letztlich nur zu als Abstellgleise anzusehenden Positionen als Regierungspräsident in Köln, dann in Hannover reichte, dass er u. a. durch familiäre Beziehungen zu Mannesmann und Göring Direktor der Binnenschifffahrtsverwaltung der Reichswerke „Hermann Göring“ und damit zu einem allerdings gescheiterten Machtfaktor in der NS-Wirtschaftspolitik wurde, sollte ihm nach dem Ende des Dritten Reiches als Instrument vor der Spruchkammer dienen. Diels war, wie Wallbaum aufs Anschaulichste und stringent zeigt, insgesamt gesehen immer ein bereitwilliger Vollstrecker der Diktatur. Seine anpassungsfähige Kontaktfähigkeit, seine Neigung zu geheimdienstlicher Konspiration, ein geschickt eingesetzter Charme und die Bereitschaft, sich als Meister im Beziehungsgeschäft, für Zwecke der Gegenleistung oder Rückversicherung oder auch aus einer zivilen, menschenfreundlichen Haltung heraus für manche, auch für Regimegegner zuweilen zu verwenden, ließen ihn unter allen Regimes auch als unzuverlässigen, treulosen oder zum Zynismus neigenden Charakter erscheinen. Für andere war er ein liebenswürdiger Causeur, ein Hans Dampf in allen Gassen und Gossen oder auch eine zu unbedachten Äußerungen oder zu Provokationen neigende, unkonventionelle Beamtenseele, als die er sich aber primär aus staatlich- autoritärem „Ordnungssinn“ z. B. dem „Chaos“ der Konzentrationslager der SA widersetzte. Andererseits wurde ihm, als seine Ablösung in Hannover zur Debatte stand, auch zugetraut, ein williger Vollstrecker als Kopf der Zivilverwaltung in einem der besetzten Gebiete zu fungieren. Wenn er – wie das in der Fülle der reichlich ausgestellten „Persilscheine“ in seinem Entnazifizierungsverfahren aufscheint – gegen Ende des Krieges auch opportunistisch lose Kontakte zu Widerstandskreisen aufnahm, wenn er sogar aufgrund des Niedergangs seiner Positionen innerhalb der Machtkämpfe der Wirtschaft in Schutzhaft und zu einer SS-Strafkompanie kam und seine Stellungen verlor, ändert das letztlich nichts an der Tatsache, dass er immerhin von 1933 bis 1944 an zunächst entscheidenden, dann weiterhin auf nicht gänzlich unwichtigen Positionen in der Verwaltung sein Wirken mit dem der Machthaber aufs Engste verknüpfte, sich ihnen unterwarf und sich mit ihnen trotz einiger Differenzen und Kompetenzstreitigkeiten letztlich nie widersetzte. So ungeklärt wie die Frage nach der Täterschaft beim Reichstagsbrand, die auch anhand der Biografie oder der unterschiedlichen Äußerungen von Diels hier keine Klärung erfährt, so dubios scheint auch seine Rolle als Angehöriger des Kreises der von Hitler Eingeweihten vor dem „Röhm-Putsch“.

 

Seine im Persönlichen wie Politischen schillernde, ambivalente Haltung ließen ihn in der Nachkriegszeit weder den Mythos des heimlichen Hitlergegners erfolgreich aufbauen, noch verhalfen sie erneut zu irgendeiner relevanten Stellung. Für den Chefankläger Kempner in Nürnberg war er offenbar als nützlicher Zeuge akzeptabel, für seinen alten Rivalen und Gegner Hans-Bernd Gisevius ein zum letzten entschlossener brutaler Gestapochef. Bemerkenswert für den Zeitgeist und die fragwürdigen Verbindungen von Diels in dieser Zeit sind seine damaligen engen Kontakte zu Rudolf Augstein in den Anfängen des „Spiegel“. Doch fand eine dort auf 20 Folgen konzipierte Memoiren-Serie von Diels wohl primär durch Einwirkung der Engländer, die ihn schon in Nürnberg am liebsten auf der Anklagebank gesehen hätten, ein vorschnelles Ende. Anders als etwa der im Hintergrund agierende Werner Best gelangte Diels zu keinem politischen Einfluss über die damalige FDP. Sein provokantes Buch über den in die DDR übergewechselten Verfassungsschutzpräsidenten Otto John machte Diels 1954 letztmals zu einem brisanten und politisch strittigen „Fall“ zusammen mit dem skandalösen Casus des kurzeitigen niedersächsischen Kultusministers, des rechtsextremen Verlegers Leonhard Schlüter (FDP).

 

Wenn es jemals die Chance einer Wiederverwendung Diels' nach 1945 gegeben hätte – mit diesem leichtfertigen, frustrierten und die politische Lage ganz falsch einschätzenden Rundumschlag gegen Bonn und die Amerikaner war sie endgültig dahin. Wallbaum verdienstvoller, auf bislang nur zum Teil ausgewerteten oder unbekannten Archivalien sich stützender Studie gelingt es, Aufstieg, Bedeutung und Gewicht dieses politisch wirkenden Beamten und Geheimdienstlers sehr vielschichtig und differenziert, fundiert und obendrein sehr gut lesbar - stets im Zusammenhang mit den allgemeinen historischen Entwicklungen - auf das richtige Maß zurückzuführen.

 

Als Angehöriger der Generation 1900 und Mitglied eines studentischen Freikorps konnte Diels in der frühen Weimarer Republik sich durch sein Engagement in der DDP und entsprechende Förderer aus gehobenen Kreisen innerhalb des Komments des Beamtenkorps und durch geschicktes Lavieren zwischen vielen Fronten durchaus anders entwickeln als Generationsgenossen wie etwa Friedrich Wilhelm Heinz (der es nach 1945 aber immerhin kurzzeitig bis zum Sicherheitschef unter der Kanzlerschaft Adenauers bringen sollte) oder Waldemar Pabst, die beide in Weimar auf terroristische Gegenrevolution und die Wehrmacht als Machtfaktoren gesetzt hatten. Ein genauerer Vergleich mit solchen unterschiedlich verlaufenden Werdegängen hätte sich vielleicht auch angeboten.1 Die „politische Gesamtentwicklung“ (Joachim Perels im Vorwort) dieses widersprüchlichen Protagonisten der NS-Zeit aus der zweiten Reihe hätte sich damit durch eine weitere Dimension noch kontrastreicher oder auch in mancher Hinsicht parallel – Pabst findet seine Position ebenfalls in der Wirtschaft zwischen 1933 und 1945 - darstellen lassen. Aber auch ohne solche Ausweitungen wird hier eine Figur nunmehr prägnant und in ihrer exemplarischen wie zum Teil ungewöhnlichen Entwicklung eines Mannes deutlich, der nach Wallbaum im Unterschied zu dem von Hans Mommsen, Ulrich Herbert und Michael Wildt beschriebenen Personal keinen festen weltanschaulichen Hintergrund, weder als Monarchist, Demokrat, Nationalist oder Sozialist besessen habe, sondern „zu jeder Zeit von jedem etwas“ war (S.39).2

 

Freiburg im Breisgau                                       Albrecht Götz von Olenhusen



1 S. dazu Susanne Meinl: Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition von Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000, ferner Wolfram Wettes Biografie über die Rolle von Pabst nach 1918 in seiner Biografie über Noske. S. ferner Norbert Frei: Karrieren im Zwielicht, Frankfurt a.M. 2001.

2 S. Hans Mommsen: Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966; Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903 bis 1989, Bonn 2001; Michael Wildt, Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.