Stollberg-Rilinger, Barbara, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des alten Reiches. Beck, München 2008. 439 S. 17 Abb. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Unter dem Haupttitel „Des Kaisers alte Kleider“, eine Formulierung, die Hegels bekannter Kritik an der Reichsverfassung des Alten Reiches entlehnt ist, legt Frau Stollberg-Rilinger eine neue Art von Darstellung der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches vor, mit der die ausgefahrenen Pfade der bisherigen Historiographie der Verfassung des Reiches bewusst verlassen werden und das Augenmerk auf einen Aspekt gelenkt wird, der in den bisherigen Darstellungen bestenfalls gestreift, keinesfalls jedoch in seiner ganzen Bedeutung für das Verständnis des Reiches und seiner Verfassung erfasst wurde: die Bedeutung der Symbolik für die reale Erfahrung und Vergegenwärtigung der Reichsverfassung. Die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches, erst spät zu einer institutionellen Verfestigung gelangt, war kein geschlossenes Normensystem, wie dies in der Moderne - von Ausnahmen im angelsächsischen Raum abgesehen – die Regel ist, sondern eine Ordnung, deren Herrschaft, Organisation und Funktionieren sich bis zum Ende des Reiches vor allem in der symbolischen Veranschaulichung manifestierte. Das öffentliche Auftreten von Kaiser und Reichständen, das Zeremoniell der Gebärden, Handlungen und Äußerungen bei Ausübung amtlicher Funktionen, das Ritual bei Versammlungen und anderen offiziellen Anlässen war nicht nur inszenierte gesellschaftliche Ritualität oder gar Theatralik, sondern sichtbare Darstellung der Verfassung und ihrer Funktionen, eine Erkenntnis, die von der bisherigen verfassungsgeschichtlichen Forschung in der Tat zu Unrecht beiseite gelassen worden ist. Diese Erkenntnis zur Grundlage einer neuen Art von verfassungsgeschichtlicher Darstellung zu machen, ist die Absicht der Verfasserin. Ihre Arbeit steht im Zusammenhang mit den Forschungen, die an der Universität Münster/Westfalen im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft angestellt worden sind, deren Fragestellungen die Verfasserin nach eigenem Bekunden entscheidende Hinweise verdankt.

 

Zu Recht verzichtet Frau Stollberg-Rilinger auf einen allgemeinen Überblick und konzentriert sich stattdessen nach einer Einleitung, in der sie sich mit den bisherigen Ansätzen in der Verfassungsgeschichtsschreibung auseinandersetzt, auf jene Ereignisse und Schauplätze, die als entscheidend für die Reichsverfassung, deren Entwicklung wie deren Funktionieren anzusehen sind, nämlich den Wormser Reformreichstag von 1495, den Augsburger Reichstag von 1530, den Regensburger Reichstag von 1653/54, die Wahl Josephs II. 1764 in Frankfurt, die Sitzungen des Immerwährenden Reichstags in Regensburg sowie die Rolle des kaiserlichen Hofs in Wien als „Bühne des Reiches“.

 

Für den Wormser Reichstag weist sie zutreffend darauf hin, dass anders als in der herkömmlichen Verfassungsgeschichtsschreibung dargestellt, von einer organisierten Vertretung der deutschen Nation auf diesem Reichstag keine Rede sein kann, sich die dort stattfindenden Beratungen vielmehr in personalisierter Begegnung der anwesenden Teilnehmer abspielten, ohne dass sich schon jenes Verfahren herausgebildet hätte, das für die späteren Beratungen und Beschlussfassungen kennzeichnend war. Tatsächlich braucht man nur einmal die zeitgenössischen Berichte über den Verlauf des Reichstages zu lesen, um sich zu vergewissern, dass die herkömmlichen Darstellungen und Deutungen der Beratungen nicht den zweifelsfrei überlieferten Fakten entsprechen. Ähnliches gilt vom Augsburger Reichstag, bei dem die Glaubensspaltung die jeweilige Kommunikation und deren Formen in empfindlicher Weise in Unordnung gebrachten hatten, die nur mühsam in ein der religiösen Situation angemessenes Zeremoniell des Umgangs miteinander gebracht werden konnte. Auch dies wird von der Verfasserin eindrucksvoll geschildert. Gleiches gilt von der Verhandlungen des Regensburger Reichstages, auf dem, wie man weiß, die Maßnahmen zum Vollzug des Westfälischen Friedens beschlossen und insbesondere der Westfälischen Friede endgültig zum Reichsgrundgesetz des Heiligen Römischen Reiches erhoben wurde. Zu Recht weist Frau Stollberg-Rilinger hier darauf hin, dass es dem Kaiser entgegen manchen Darstellungen in der bisherigen verfassungsgeschichtlichen Forschungsliteratur auf diesem Reichstag gelungen ist, seine Rechtsstellung im Reich stärker zu betonen und dies durch das Zeremoniell der kaiserlichen Präsentation auf dem Reichstag auch für jedermann sichtbar zu machen. Sie sieht darin einen besonders augenfälligen Beleg für die Wirksamkeit symbolisch-ritueller Inszenierung des kaiserlichen Herrschaftsanspruches und damit der kaiserlichen Herrschaft im Reich. Die Funktion der Inszenierung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs als Instrument der Veranschaulichung der herrschaftlichen Stellung des Kaisers im Reich erkennt sie auch in der Praxis des höfischen Zeremoniells in der kaiserlichen Residenz und Hofhaltung in Wien. Als Musterbeispiel führt sie hier die feierlichen Belehnungen mit Reichslehen an, in denen sich stets und immer wieder aufs Neue die Lehnsbindungen von Reichsfürsten und Reichsadel manifestiert hätten. Tatsächlich wurde die Einhaltung des Lehnszeremoniells, wie der Rezensent aus eigener Kenntnis der Lehnsakten des Reiches bestätigen kann, bis in die letzten Jahre des Alten Reiches peinlich genau beachtet, wenn auch nicht mehr persönlich von Kaiser und Vasallen selbst praktiziert, sondern durch Stellvertreter ausgeübt. Anschaulich schildert Frau Stollberg-Rilinger in diesem Zusammenhang auch das ambivalente Verhältnis Maria Theresias als Kaiserin zu ihrem Sohn Joseph II. nach dessen Wahl zum deutschen König sowie Josephs Ablehnung des überlieferten Zeremoniells und der sich in dieser ausdrückenden Missachtung der herkömmlichen verfassungsrechtlich relevanten Präsenz der Rangordnung der Funktionsträger.

 

Im letzten Kapitel ihres Buches hebt Frau Stollberg-Rilinger zutreffend hervor, dass die Art und Weise der Auflösung des Reiches durch den Kaiser aus dem Rahmen dieser zum Bestandteil des Reichsherkommens gewordenen Zeremonialordnung herausfiel, indem dieser die Auflösung durch eine simple Verlautbarung der kaiserlichen Urkunde durch den Reichsherold von der Balustrade der Kirche zu den Neun Engelschören in Wien und in einer zeitgleich ohne Widerspruch von den Gesandten der Reichsstände entgegengenommenen Verlesung der Urkunde im Reichstag zu Regensburg vollziehen ließ. Frau Stollberg-Rilinger deutet dieses Geschehen in der Weise, dass sich an ihm zeige, wie sehr das Reich zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer bloßen Fiktion geworden und seiner  Verfassung zu einer institutionellen Heuchelei verkommen sei.

 

Mit ihrem Buch hat Frau Stollberg-Rilinger eine Darstellung der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches vorgelegt, in der die Geschichte der Reichsverfassung nicht nur in einem neuen Licht erscheint, sondern Struktur und Funktionieren der Reichsverfassung abseits der bisherigen norm- und dogmengeschichtlichen, wenn nicht gar ideologisch motivierten Verfassungsgeschichtsschreibung als ein Herrschaftsgebilde beschrieben werden, dessen rechtliche Existenz viel stärker als dies heute der Fall ist von der sichtbaren Präsenz und dem zur Schau gestellten Handeln der Herrschaftsträger bestimmt wurde. Freilich, und dies muss der Rechtshistoriker einschränkend hinzufügen, war diese Präsenz nicht nur eine Inszenierung von Macht und Machtausübung, sondern primär eine Veranschaulichung der Verfassungsordnung des Reiches und der bestehenden Rechtsverhältnisse. Das gilt nicht nur von den großen zeremoniellen Handlungen wie Wahl, Krönung, Eröffnung und Abschied von Hof- und Reichstagen, oder den Belehnungen, es gilt auch von den hierbei praktizierten begleitenden Ritualen wie dem Einzug und Auszug der handelnden Personen zu den Orten des Geschehens, den zeremoniellen Mahlzeiten und deren Ritualen usw., die auf den ersten Blick eher beiläufig erscheinen, in Wahrheit aber nicht weniger rechtlich relevant waren als die großen Handlungen. Wenn es dazu noch eines Beweises bedürfte, dann sei auf die lebhafte Diskussion in der Reichspublizistik vor allem des 18. Jahrhunderts verwiesen, in der diese Themen nicht nur beiläufig behandelt, sondern ausdrücklich als Rechtsfragen intensiv erörtert wurden. Die von Frau Stollberg-Rilinger beschriebenen symbolhaften Visualisierungen waren in Wahrheit keine bloßen Inszenierungen, sondern Rechtsvorgänge und Rechtshandlungen, in denen Struktur und Funktionieren der Reichsverfassung sichtbar vor Augen geführt wurden. Doch vermögen diese aus Sicht eines Rechtshistorikers vorgetragenen Einwände Substanz und Wert des ebenso kenntnisreichen wie glänzend geschriebenen Buches von Frau Stollberg-Rilinger weder in dessen Bedeutung für die verfassungsgeschichtliche Forschung noch als wissenschaftliche Leistung zu mindern. Seit langem ist keine Darstellung der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches erschienen, in der derart neue Perspektiven für Verständnis und Deutung der Verfassung des Alten Reiches formuliert worden sind wie in dem vorliegenden Buch.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann