Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950-1953, hg. v. Karner, Stefan/Stelzl-Marx, Barbara (= Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung 5). Böhlau/Oldenbourg, Wien/München 2009. 676 S., zahlr. Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Während der zehnjährigen Besatzungszeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 bis zum Staatsvertrag 1955 wurden an die 2000 Personen aus zumeist geringfügigen Gründen von den sowjetischen Behörden in Österreich festgenommen, 104 davon unter dem Vorwurf der Spionage für die westlichen Mächte nach der Verurteilung zwischen 1950 und 1953 in Moskau erschossen und beigesetzt. Schon früh haben sich der Grazer Wirtschafts- und Sozialhistoriker Stefan Karner und die Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung erfolgreich um Zugang zu russischen Archiven bemüht, um nun, über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Stalin-Herrschaft, das Schicksal jener Verschleppten zu klären, den Opfern „Namen und Gesicht“ zurückzugeben und den Angehörigen Gewissheit zu verschaffen.

 

Der umfangreiche Band ist in seiner Konzeption dreigeteilt. Im ersten Abschnitt, der insgesamt an die 280 Druckseiten einnimmt, entfalten elf Autoren in ebenso vielen wissenschaftlichen Beiträgen die Rahmenbedingungen für das gegenständliche Geschehen. Barbara Stelzl-Marx bietet zunächst auf fast 60 Seiten unter dem Titel „Verschleppt und erschossen“ eine breite einführende Darstellung mit zahlreichen konkreten Fallbeispielen. Bald nach der Wiedereinführung der kurzfristig abgeschafften Todesstrafe im Jänner 1950 und anhaltend bis zum Februar 1953 wurden die von den Militärtribunalen des Truppenteils 28990 in Baden bei Wien und des Moskauer Militärkreises verhängten Todesurteile durch Erschießen vollstreckt. Wie die Gnadengesuche zeigen, war es in den meisten Fällen die wirtschaftliche Not, gepaart mit einem Schuss Naivität, welche die Verurteilten zu ihrer Spionagetätigkeit verleitet hatte. Dem weiteren Schicksal der Delinquenten geht Arsenij Roginskij genauer nach: dem Abtransport, dem Gefängnisalltag in der berüchtigten Moskauer Butyrka, der Vollstreckung und der Beisetzung auf dem Donskoe-Friedhof.

 

In der Folge beschäftigen sich mehrere Beiträge mit dem Themenkomplex Spionage: Nikita Petrov untersucht „Die militärische Spionageabwehr in Österreich und die Todesstrafe“; er erörtert die Genese und die zeitgenössische Diskussion um den entscheidenden, wohl auf Stalins Auftrag hin in Kraft gesetzten Ukaz von 1950 und die Struktur der als „Hauptinstrument der sowjetischen Strafpolitik“ (S. 92) im besetzten Österreich  charakterisierten, in vier Abteilungen gegliederten und dem Ministerium für Staatssicherheit der Sowjetunion (MGB) unterstehenden Organe der militärischen Spionageabwehr. Vasilij Christoforov überschreibt seine Ausführungen „Kalter Krieg und sowjetische Spionageabwehr in Österreich. Todesurteile im Spiegel von Archivdokumenten“ und wirft darin unter anderem einen näheren Blick auf die Rechtsgrundlagen, das Verfahren und das Procedere beim Militärtribunal. Dieter Bacher handelt über „Die KPÖ und die sowjetischen Nachrichtendienste“ und – zusammen mit Harald Knoll – generell über „Nachrichtendienste und Spionage im Österreich der Besatzungszeit“. Diese fanden dort zwar „optimale Arbeitsbedingungen“ (S. 157) vor, aber „Personalengpässe“ und „unzureichende Ausbildung ihrer Mitarbeiter“ (S. 168) bewegten die Geheimdienste der Westmächte, die sich erst mit der Entnazifizierung, dann mit der Problematik der als „displaced persons“ (DPs) bezeichneten, zahlreichen Flüchtlinge und Vertriebenen und schließlich mit dem sich immer mehr verschärfenden Gegensatz zur sowjetischen Besatzungsmacht zu befassen hatten, mit finanziellen Anreizen einheimische Informanten zu ködern, die sich wiederum oft der letalen Tragweite ihrer Tätigkeit nicht bewusst waren. Mit der „Wirtschaftsspionage für den Westen. Erdölarbeiter im Spannungsfeld des Kalten Krieges“ rückt Walter M. Iber eine spezielle Facette dieses Forschungsbereichs ins Licht. Die ostösterreichischen Gebiete lieferten 1944 zwei Drittel der Erdölproduktion im Deutschen Reich und wurden nach dem Potsdamer Abkommen vom August 1945 von der UdSSR als Sowjetische Mineralölverwaltung für Österreich (SMV) zum sowjetischen Eigentum erklärt; diese ließ „auch ihre Arbeiterschaft die Autorität der sowjetischen Besatzungsmacht mit voller Wucht spüren“ (S. 187). Tatsächlich hatten aber auch „nahezu alle der wegen ‚Spionage auf dem Erdölsektor’ verurteilten österreichischen Zivilisten … geheime Informationen aus den verschiedenen Erdölbetrieben gesammelt und weitergegeben – und immer spielte dabei die Entlohnung eine wichtige Rolle“ (S. 181).

 

Olga Lavinskaja richtet anschließend ihr Augenmerk auf „Das Militärtribunal der Zentralen Gruppe der Streitkräfte“ und die „Verurteilung von Personen nicht österreichischer Staatsangehörigkeit“, die ein beachtliches Drittel der eingangs genannten Opfer ausmachen und die Korrektheit des Untertitels des vorliegenden Bandes („Verschleppte und erschossene Österreicher…“) etwas in Frage stellen. Zahlreiche Opfer der vom Geheimdienst dominierten sowjetischen Militärtribunale, nämlich 2944 gefällte Todesurteile, von denen 1609 sicher, weitere 615 wahrscheinlich vollstreckt worden sind, gab es zwischen 1945 und 1955 auch in der SBZ/DDR (ohne Einschluss der ehemaligen Ostgebiete), wie dann Andreas Hilger in seinem „Staatsschutz versus Rechtssicherheit“ überschriebenen Aufsatz ausführt. Unter anderem zeigt er am Beispiel des Prozesses gegen den ehemaligen sächsischen Gauleiter Martin Mutschmann „die schweren rechtsstaatlichen Mängel“ (S. 276) auf, die diese Verfahren, die einen klaren Zweck verfolgten, generell kennzeichneten. Denn: „Die verstörende Gleichförmigkeit und Oberflächlichkeit der Verfahren … machte sie in ihrer Gesamtheit zu einer wichtigen Komponente sowjetischer Repressionspolitik“ (S. 281).

 

Zwei Aufsätze – beide mit Zitaten betitelt - setzen sich näher mit der Situation der Angehörigen auseinander: Während Tessa Szyskowitz unter „Ihr Hunde, lassts den Vater da!“ auf die spezifischen Verhältnisse in Österreich eingeht, beschäftigt sich Frank Drauschkes Beitrag „Diese Unwissenheit ist eine Qual“ mit der Lage auf ostdeutschem Boden; er beschließt zugleich den ersten Teil des Bandes.

 

Der folgende zweite Großabschnitt – man kann ihn mit gutem Grund als Kern des vorliegenden Werkes betrachten -  ist den Biographien der Akteure gewidmet, vor allem jenen der 104 Opfer, deren Lebensläufe Edith Petschnigg in alphabetischer Abfolge (von Aleksandr A. Achtyrskij bis Ljudmilla Zwinger) auf etwa 300 Seiten in verdienstvoller Weise dokumentiert. Ihre Darstellungen stützen sich weitgehend auf Material aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) und vermitteln dem Leser neben den üblichen persönlichen Daten Einblicke in das Prozessgeschehen und in die den Angeklagten jeweils vorgehaltenen Delikte. Man erfährt unter anderem auch, wer von den hingerichteten 94 Männern und zehn Frauen nach dem Umbruch von 1989 von der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft (GVP) rehabilitiert worden ist – immerhin zwei Drittel der Betroffenen – und wer nicht. Damit aber nicht nur die Opfer, sondern auch die Verantwortlichen für ihr Schicksal, die Leiter und stellvertretenden Leiter der Verwaltung für Spionageabwehr des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR (MGB) der Zentralen Gruppe der Streitkräfte (CGV), fassbar werden, hat Nikita Petrov auch deren Werdegang kurz erfasst: Persönliches, ihre Karrieren, ihre Ränge und Auszeichnungen. Der Mehrzahl der Biographien ist jeweils auch ein Passbild beigefügt.

 

70 Seiten Anhang bilden den dritten Teil der Arbeit. Die statistische Auswertung der Opferdaten geht dabei sehr stark ins Detail. Während manche Informationen – wie jene über die militärische Zugehörigkeit der Hingerichteten im Zweiten Weltkrieg oder ihre Mitgliedschaft in NS-Organisationen – durchaus Aussagewert besitzen  oder – wie die Aufschlüsselung der Verhaftungs- und der Urteilsgründe laut Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RFSFR) bzw. laut „Ukaz 43“ des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR – sogar ganz entscheidende Grundlagen für die historische und rechtliche Beurteilung bereitstellen, wird man fragen dürfen, welcher tiefere Erkenntnisgewinn aus einer „Gegenüberstellung des Geburtsortes nach Staat mit der Nationalität“ oder aus der Auflistung, wie viele Kinder die Verurteilten jeweils hatten, tatsächlich zu ziehen ist.

 

Sehr nützlich ist mit Sicherheit das Anführen der Rechtsnormen, die den Urteilen zugrunde gelegt wurden. Zur Verhängung der Todesstrafe wurden die Artikel 58-1 (Vaterlandsverrat), 58-2 (Teilnahme am bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht), 58-6 (Spionage), 58-7 (Wirtschaftliche Schädigung), 58-8 (Verübung von Terrorakten gegen Vertreter der Sowjetmacht) und 58-9 (Diversion) des Strafgesetzbuches der RSFSR herangezogen. Dazu traten die Ukaze des Obersten Sowjets der UdSSR: jener vom 19. April 1943 „Über Maßnahmen zur Bestrafung deutsch-faschistischer Übeltäter“ und ihrer sowjetischen „Helfeshelfer“ (in Kraft bis zum Jahr 1983); jener vom 26. Mai 1947 „Über die Abschaffung der Todesstrafe“; schließlich deren Wiedereinführung durch das ausdrückliche Ausnehmen von Vaterlandsverrätern, Spionen und Saboteuren (12. Jänner 1950) sowie subversiven Diversanten (12. April 1950) von dieser Abschaffung.

 

Es folgen die Listen von weiteren 73 zwischen 1945 und 1947 hingerichteten Opfern aus Österreich mit Geburts- und Sterbedaten - ihr näheres Schicksal bedarf als „Forschungslücke“ noch der Klärung - , der bereits im zweiten Abschnitt des Buches näher vorgestellten Opfer der Jahre 1950 bis 1953 und der Leiter der Verfolgungsbehörden; danach die üblichen, hier besonders aufwändig differenzierten Verzeichnisse (Abbildungen, Abkürzungen, Quellen, Literatur) und Register (Personen, Orte). Eine Zusammenstellung der wichtigsten biographischen Daten und wissenschaftlichen Aktivitäten der Verfasser der einzelnen Beiträge – immerhin sind unter den Autoren auch mehrere russische Gelehrte – fehlt allerdings, im Vorwort der Herausgeber finden sich dazu nur einige spärliche Hinweise.

 

Aus rechtsgeschichtlicher Sicht haben Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx damit eine Arbeit vorgelegt, die geeignet ist, einen sehr gut verständlichen Einblick in Grundlagen, Funktion und politische Instrumentalisierung der sowjetischen Militärgerichtsbarkeit gegenüber Zivilisten durch die Stalin-Diktatur während der Nachkriegsjahre zu vermitteln und die rechtsstaatlichen Defizite dieser Verfahren zu dokumentieren.

 

Kapfenberg                                                                            Werner Augustinovic