Schlotmann, Karsten, Recht und Gerechtigkeit im Werk Heinrich Bölls. Ein Beitrag zur Verfassungslehre und Kulturwissenschaft. Nomos, Baden-Baden 2008. 212 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Die Bayreuther Dissertation setzt sich mit grundlegenden Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit im Werk Heinrich Bölls (1917-1985) auseinander – dem ja keineswegs nur aus literaturwissenschaftlicher Sicht ein großes Echo zuteil geworden ist. Nicht zuletzt sind strafrechtliche Aspekte in den literarischen Arbeiten des Schriftstellers untersucht worden. Karsten Schlotmann ist mit seiner Studie den Spuren seines Lehrers Peter Häberle gefolgt, der es schon seit längerer Zeit darauf angelegt hat, die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft zu begründen und ihr damit zu einer umfassenden, disziplinübergreifenden Grundlage zu verhelfen. Dem Verfasser geht es also mit seiner Untersuchung des Böll’schen Werkes im Blickwinkel grundsätzlicher Rechtsfragen darum, die Tragfähigkeit und Erkenntnisqualität jenes theoretischen Ansatzes zu erproben. Dies geschieht namentlich durch eine verfassungsbezogene Analyse der Romane und Erzählungen, aber auch öffentlicher Statements des Schriftstellers zu Fragen der Zeit. Ausgewählt und herangezogen hat Schlotmann aus dem umfangreichen Gesamtwerk natürlich vor allem Texte, die im Sinne seines Themas besonders aussagekräftig erscheinen. Das gilt etwa für Romane wie „Haus ohne Hüter“ (1954), „Billard um halb zehn“ (1959) und „Gruppenbild mit Dame“ (1971) sowie Erzählungen wie „Ende einer Dienstfahrt“ (1966) und – namentlich – „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974).

 

Schlotmann geht seine Fragestellung nicht in chronologischen Schritten, die der Entstehung und den Veröffentlichungen der Texte folgen, sondern vielmehr in thematischer Weise an, die zugleich für das jeweilige verfassungsrechtliche und kulturwissenschaftliche Gewicht einschlägiger Aspekte stehen. Seine Studie leitet er mit einer Darstellung des Wirkens und Selbstverständnisses der Gruppe 47 ein. Böll ist ja nicht nur eines ihrer prominenten Mitglieder gewesen, sondern hat auch zusammen mit anderen Autoren – als Reaktion auf die NS-Diktatur – in ambitionierter Weise Einfluss auf Politik und Recht zu nehmen versucht. Anschließend skizziert der Verfasser das kulturwissenschaftliche Konzept Häberles, in dem der Belletristik die Rolle eines Seismographen „staatlicher Verfasstheit“ und eines „großen Anregers“ auf den Gebieten der Verfassungsinterpretation und Verfassungsfortentwicklung zugewiesen wird. In solcher Perspektive kommt der Literatur aber auch eine gewichtige Funktion für das Vorverständnis in Verfassungsfragen zu. Dieser über den „bloßen“ Verfassungstext hinausweisende Ansatz ist freilich nicht unumstritten geblieben. Er hat inzwischen aber auch als Bereicherung der Verfassungslehre Anerkennung gefunden.

 

Unter dieser Prämisse setzen Darstellung und Analyse des Böll’schen Werkes mit einer ausgiebigen und ergiebigen Untersuchung des Verständnisses von Gewalt ein, das die Erzählung über Katharina Blum kennzeichnet. Der Text weist ja mit seinem Untertitel „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ selbst auf eine solche Fährte hin. Der Verfasser begreift die darin geschilderte Tötung des Journalisten Tötges durch die Protagonistin als Ausdruck privater Gewalt, die der strukturellen Gewalt im Sinne John Galtungs entgegengesetzt wird (S. 31f.). Hiernach manifestiert sich strukturelle Gewalt in der Gestalt defizitären Funktionierens des demokratischen Rechtsstaates. Dies hat namentlich zur Folge, dass der Einzelne mehr oder weniger hilflos der Macht der (Boulevard-)Presse ausgeliefert ist, weil das Gemeinwesen nicht in der Verfassung ist, ihn und seine Ehre vor ihr zu schützen. In solcher Sicht schaukeln sich die von Böll im Text ins Feld geführten Defizite, die vom Mangel wahrer Rechtsstaatlichkeit – der sich z. B. in einer Instrumentalisierung von Beschuldigtenrechten äußert – über die Herrschaft außerstaatlicher Institutionen und totalitärer Strukturen hinter demokratischer Fassade bis hin zur Existenz einer Klassengesellschaft reichen sollen, derart auf, dass das Tötungsdelikt Katharina Blums fast als „Befreiungsschlag“ empfunden wird. Unter solchen Vorzeichen verwandelt sich die Opferrolle, in welche die Titelfigur durch die Machenschaften der scheinbar allmächtigen Boulevardpresse gerät, in eine Täterrolle. Dieser Wechsel des Sozialstatus erinnert den Verfasser auf Grund der gesellschaftlichen Ausgrenzungen und des daraus sich entwickelnden (Selbst-)Zuschreibungsprozesses folgerichtig an die Theorie des „labeling-approach“ und veranlasst ihn zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihr.

 

Schlotmann erblickt in der Erzählung – aber auch in anderen Texten des Schriftstellers – den Versuch, die Ausübung von Privatgewalt gegen die vom Rechtsstaat nicht kontrollierte oder unzureichend beherrschte strukturelle Gewalt (der Presse) zu legitimieren. Vom Gewaltmonopol des Staates und von seiner einschlägigen Schutzpflicht im Verhältnis zum Einzelnen ausgehend unterzieht der Verfasser die Sichtweise Bölls einer kritischen Betrachtung, in der er auch den verfassungsrechtlichen Gehalt des Gewaltbegriffs entfaltet. Vor allem aber analysiert er die verfassungsrechtlichen Institute und Möglichkeiten, die hinreichender Kontrolle und Abwehr der in Pressegewalt und –konzentration angelegten Gefahren für die Freiheit des Bürgers dienen. Es sind zum einen etwa institutionelle Aspekte, die auf „Herstellung innerer Pluralität“ der Presse (S. 87) und auf Wahrung „innerer Pressefreiheit“ (S. 100) zielen. Zum anderen verweist der Verfasser auf die aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht fließenden Befugnisse des Betroffenen, sich gegen Verletzungen seiner Ehre auf straf- und zivilrechtlichem Wege zur Wehr zu setzen. Von ihnen macht Katharina Blum freilich auf Grund ihrer eingeengten Sozialisation und Persönlichkeitsstruktur keinen Gebrauch und greift stattdessen zum Mittel der Selbstjustiz. Dass die Protagonistin, die in einem trotz seiner Mängel durchaus funktionierenden Rechtsstaat lebt, ihre Rechte nicht auf legale Weise wahrnimmt, begreift der Verfasser als ein in erzählerischer Hinsicht zwar nachvollziehbar geschildertes, aber letztlich doch tragisches Schicksal, das es unter den Prämissen einer solchen Rechtsordnung eigentlich nicht geben dürfte (S. 111).

 

Bereits hier tut sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Rechtswirklichkeit, wie sie von juristischer Seite gesehen wird, und der Realitätswahrnehmung Bölls in der Erzählung auf. Erst recht werden Unterschiede, wenn nicht gar ein Gegensatz sichtbar, wenn man dem Text ein auf Gewalt- und Herrschaftsfreiheit gerichtetes Verständnis staatlicher Ordnung entnimmt und der von Schlotmann herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Stellung der Presse wie des Einzelnen gegenüberstellt. Diese Differenzen erschöpfen sich auch schwerlich in der – auch von Juristen - immer wieder berufenen Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit.

 

Diese Position, die sich also bereits in und mit der Gestalt Katharina Blums angedeutet hat, hat Böll dem Verfasser zufolge in anderen literarischen Texten noch radikalisiert. Demnach hat er in ihnen die Legitimität geltender Gesetze dadurch in Zweifel gezogen, dass er ihren Anspruch auf Geltung dem Urteil des Einzelnen unterworfen hat. Letztlich mündet diese Sichtweise in ein Rechtsverständnis, das in einer der Anarchie sich annähernden Weise den Gesetzesgehorsam aufkündigt, indem sich das Individuum über ihn infolge seines eigenen moralischen Urteils erhebt. Solche Anklänge glaubt Schlotmann Erzählungen wie „Der tote Indianer in der Duke Street“, „Die Waage der Baleks“, „Wenn Seamus einen trinken will“ und „Straßen wie diese“ – wenngleich auf unterschiedliche Weise – entnehmen zu können. In ihnen setzen sich Protagonisten dem Vernehmen nach über bestehende Regeln hinweg, weil sie ihnen nicht menschengerecht oder sinnlos erscheinen und sie es deshalb vorziehen, nach dem von ihnen selbst in Anspruch genommenen ungeschriebenen – womöglich „ewigen“ – Recht zu leben.

 

Diese Sichtweise erklärt sich für Schlotmann mitnichten allein aus negativen Erfahrungen Bölls mit der NS-Diktatur und den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, welche die  Freiheit und das Leben der Menschen in rechtlicher wie in geradezu existenzieller Hinsicht beschnitten haben. Sie sind ihm zufolge Ausdruck einer Haltung, die auf unablässiger Suche nach einer menschengerechten Daseinsordnung ist und in Anleihen beim Naturrecht oder „ewigen Recht“ noch nicht ihre Antwort gefunden hat. Ihre Problematik zeigt sich nach dem Verfasser auch darin, dass Böll verschiedentlich eine Lösung in Gestalt „einfachen“, gar noch ungeschriebenen Rechts anvisiert, das in der Moderne mit ihren durch „gesteigerte Komplexität“ wachsenden Anforderungen an die „Positivität“ des Rechts zwangsläufig in Konflikt geraten muss und damit eigentümlich historisch erscheint (S. 129).

 

Dabei erblickt Böll gerade im Grundgesetz dank der „Verpflichtung des Rechts auf eine Kultur der Menschenwürde“ „eine der besten Verfassungen, die es gibt“ (S. 138). An diese hohe Einschätzung anknüpfend konfrontiert Schlotmann eine ganze Reihe zentraler Wertentscheidungen und Grundrechte mit dem Werk des Schriftstellers. Jedenfalls in allgemeiner Hinsicht korreliert ihm zufolge die vom Grundgesetz angestrebte Freiheitsmaximierung mit den Vorstellungen Bölls (S. 142). Das gilt etwa weitgehend für das Sozialstaatsprinzip und die Maxime der „Chancengleichheit“, die Böll in die alte militärische Metapher kleidet, jeder müsse den „Marschallstab im Tornister“ haben.

 

Am Roman „Haus ohne Hüter“, der die Beschädigung der Ehe durch den Krieg und durch prekäre Lebenssituationen von Ehe und Familie im Nachkriegsdeutschland thematisiert, veranschaulicht der Verfasser in recht differenzierter Darstellung die Sicht Bölls, der darin beiden Instituten grundlegende Bedeutung für das Zusammenleben beilegt. Demnach erblickt der Schriftsteller in der Ehe namentlich eine vom Staat durch Friedenssicherung zu schützende, in Freiheit auf Dauer eingegangene Lebensgemeinschaft, in der Mann und Frau gleichberechtigt und verpflichtet sind, den Kindern familiäre Geborgenheit zu bieten (S. 161). Der Familie, deren Grundlage – freilich keineswegs ausschließlich - die Ehe bildet, kommen in diesem Konzept Ernährer- und Sozialisationsfunktionen zu; sie fußt auf positiven sozialen Bindungen. Mit den dem Grundgesetz, insbesondere Art. 6, entnommenen Wertentscheidungen (in Form der Freiheits- und Institutsgarantie) stimmen die Vorstellungen Bölls Schlotmann zufolge weitgehend überein. Den vom Schriftsteller befürchteten restaurativen Tendenzen – die in der Nachkriegszeit in der Tat sichtbar geworden sind – würden Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht entgegentreten.

 

Den in der Erzählung „Ende einer Dienstfahrt“ geschilderte Strafprozess über ein sog. „Happening“, welches das Verbrennen eines Bundeswehrjeeps unter einer Art „Begleitmusik“ verkörpert haben soll, erörtert der Verfasser im Blickwinkel der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG, vgl. S. 177). Dass im Text dem Strafverfahren nur begrenzte Bedeutung beigelegt und das Strafmaß gering gehalten wird, die Frage aber offengelassen wird, ob in der inkriminierten Handlung Kunst zu sehen ist, verweist auf eine Sicht Bölls, die das Verhältnis von Staat und Kunst problematisiert: Der Staat räume der Kunst zwar große Freiheit ein, suche aber ihre gesellschaftliche Wirkung auszuschließen. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wendet demgegenüber Schlotmann ein, dass die Freiheit der Kunst nicht den Anspruch umfasse, notfalls mit Gewalt öffentliche Aufmerksamkeit erzwingen zu dürfen (S. 178).

 

Auch in weiteren Texten („Deutsche Meisterschaft“, „Wanderer, kommst du nach Spa“) – die sich mit der Rechtfertigung der Wehrpflicht und dadurch mit dem Opfer des Lebens auseinandersetzen, das dem Einzelnen gegebenenfalls abverlangt wird – tut sich für den Verfasser ein im Grunde unüberbrückbarer Dissens zwischen den Wertentscheidungen des Grundgesetzes und den Anschauungen Bölls auf. Dies gilt jedenfalls insoweit, als der Schriftsteller die Legitimität der Wehrpflicht deshalb in Zweifel zieht, weil sie eben das Opfer des Lebens nach sich ziehen kann. Denn diese Pflicht folgt aus der Notwendigkeit, im Falle eines Angriffs von Außen die dadurch bedrohten Werte des Grundgesetzes verteidigen zu müssen, die ja ohne Gegenwehr ihrerseits verloren gingen. Das Recht, aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern zu dürfen, kommt zwar Bölls Vorstellungen entgegen, bleibt aber natürlich hinter seiner grundsätzlichen Ablehnung der Wehrpflicht zurück.

 

Was die Grundvorstellungen Bölls von Recht und Gerechtigkeit anlangt, wie sie Schlotmann in seiner Studie präsentiert, so verlangen sie aus juristischer Sicht der Verfassung mehr ab, als sie leisten kann. Das wird namentlich dort deutlich, wo utopische Elemente in das Rechtsdenken des Schriftstellers einfließen. Die Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts im demokratischen Rechtsstaat, ohne dass die freilich ihrerseits problematischen Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 GG vorliegen, markiert den entscheidenden Bruchpunkt zwischen der Verfassung und Autoren wie Böll. Allerdings trifft dies – wie die ausgiebige Diskussion über den zivilen Ungehorsam gezeigt hat – vor allem auf gewaltsam ausgeübte Widerstandsakte zu. Darin liegt Schlotmann zufolge ein „bleibendes Vertrauensdefizit“, das sich durch kein hermeneutisches Verfahren – hinsichtlich der Texte des Schriftstellers und des Grundgesetzes – einfach hinwegdisputieren lässt. Es bleibt – ungeachtet des Bestrebens um Reformen – bei der Unvollkommenheit des geltenden Rechts im Blickwinkel des Gerechtigkeitsideals, wie es Böll vorgeschwebt hat.

 

Dennoch ist – und so ist wohl auch der Verfasser aus seiner kulturwissenschaftlichen Sicht im Geiste Häberles heraus zu verstehen – in diesem Dissens ein heilsamer Zwang für den Gesetzgeber und die Rechtspraxis zu sehen, nicht nur die eigenen Entscheidungen vor der Verfassung legitimieren zu müssen, sondern auch im Lichte literarischer Kritik neu zu überdenken. Dies gilt ungeachtet des so oft und gern bemühten Einwandes, dass Schriftsteller dazu neigen würden, überzogene oder unrealistische Erwartungen an Recht und Gesellschaft zu richten. Was ja – wie Schlotmann in kundiger und einfühlsamer Weise dargelegt hat – vor allem im späteren erzählerischen und essayistischen Werk Bölls Ausdruck gefunden hat.

 

Saarbrücken                                                                                                              Heinz Müller-Dietz