Rass, Christoph, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974 (= Studien zur historischen Migrationsforschung 19). Schöningh, Paderborn 2010. 571 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Seit seiner Entstehung ist der Mensch in Bewegung. Ganz allmählich hat er sich von Ostafrika aus über alle Erdteile verbreitet. Ein rund zweihundert Jahre währender Abschnitt der europäischen Geschichte an der Grenze zwischen den Epochen Altertum und Mittelalter wird sogar überhaupt als Völkerwanderung bezeichnet.

 

Gleichwohl ist vermutlich erst im 20. Jahrhundert die größte Zahl von Menschen gleichzeitig gewandert. Dies dürfte mit den verbesserten Bewegungsstrukturen und den erweiterten Unterrichtungsmöglichkeiten zusammenhängen. Hieraus sind internationale politische Fragen erwachsen, deren sinnvolle und dauerhafte Lösung derzeit noch nicht wirklich absehbar ist.

 

Mit einem wichtigen Ausschnitt aus dieser Problematik befasst sich die von Paul Thomas betreute, im Jahr 2007 an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule Aachen angenommene Habilitationsschrift des 2001 in Aachen mit einer Untersuchung über Menschenmaterial - Sozialprofil, Machtstrukturen und Handlungsmuster einer Infanteriedivision der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg promovierten Verfassers. Begonnen wurde die Untersuchung als Projekt zur Rolle von Bürokratien in Migrationsprozessen am Beispiel der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, doch erwies sich rasch die Notwendigkeit der Internationalisierung der Betrachtung. Ziel ist es nach den Worten des Verfassers, zum Schließen einer Forschungslücke beizutragen und das Verständnis der Arbeitsmigration im Europa des 20. Jahrhunderts zu erhellen, um aus der Geschichte für die Gestaltung der Zukunft zu lernen.

 

Nach einer kurzen Einleitung untersucht der Verfasser zunächst das europäische Arbeitswanderungssystem mit den zur Steigerung der Gewinne aufnehmenden westeuropäischen Industriestaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweden und Schweiz (und damit ohne Großbritannien) und den peripher gelegenen Abwanderungsländern Algerien, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Marokko, Polen, Portugal, Spanien, Türkei und Tunesien. Danach wechselt er überzeugend zur Institutionalisierung regulierter Arbeitsmigration und behandelt in diesem Rahmen nach Anfängen im 19. Jahrhundert die Internationale Arbeitsorganisation (1919-1975), die supranationalen Organisationen in Europa nach 1945 (OEEC/OECD, Europarat, EGKS/EWG) und vor allem die bilateralen Wanderungsabkommen zwischen 1919 und 1974, wobei er für die Zeit bis 1945 besonders auf Frankreich, Belgien, Schweiz, Deutschland und Österreich und für die Zeit zwischen 1945 und 1971 auf Italien, Griechenland, Spanien, Türkei, Marokko, Portugal, Jugoslawien, Tunesien und Algerien eingeht.

 

Nach seinen Erkenntnissen war der erste moderne Wanderungsvertrag zur Organisation von Arbeitsmigration der zwischen Frankreich und Polen 1919, der Frankreich zu (billigen) Arbeitskräften und Polen zu Einkünfte ermöglichender Arbeit verhalf. Der dadurch entstehende Wettbewerbsdruck führte zwischen 1919 und 1934 zu 24 Abkommen, zwischen 1945 und der Ölpreiskrise und dem anschließenden Abbruch der Wanderungsverträge zu 59. Dabei stieg die Niederlassungsneigung der Wanderer, sobald die Garantie der freien Bewegung ihre Glaubwürdigkeit verlor, doch blieb die temporäre Arbeitsmigration mit all ihren Fragen die am schnellsten wachsende Form ökonomisch motivierter Wanderung und ist ein Konzept für die Organisation temporärer Arbeitsmigration, das eine höhere Chance für einen von den Aufnahmestaaten gewünschten Verlauf des Migrationsprozesses (Wohlfahrtswachstum) bietet, auch die Interessen und die Würde der Migranten wahrt und Vorteile für die Herkunftsländer bewirkt, eines der gegenwärtig wichtigsten (migrationspolitischen und) wirtschaftspolitischen Zukunftsprojekte.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler