Pauli, Frank, Wehrmachtsoffiziere in der Bundeswehr. Das kriegsgediente Offizierkorps der Bundeswehr und die Innere Führung 1955-1970. Schöningh, Paderborn 2010. 387 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als im Zuge der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland unter den Vorzeichen eines sich immer stärker polarisierenden Ost-West-Konfliktes mit globalen Dimensionen in den 1950er Jahren die junge Bundeswehr ins Leben gerufen wurde, war die Ausgestaltung ihres inneren Gefüges eine der Kernaufgaben für die Planer. Dieses sollte sowohl den liberal-demokratischen Grundlagen der Staats- und Gesellschaftsordnung als auch den anspruchsvollen militärischen Herausforderungen in einem atomar hochgerüsteten Verteidigungsverbund gerecht werden. So wurde in der Dienststelle Blank, der Vorgängerorganisation des nachmaligen Bundesministeriums der Landesverteidigung, benannt nach dem späteren ersten Minister Theodor Blank, das dynamische Konzept der Inneren Führung entwickelt: Der Soldat sollte „Staatsbürger in Uniform“ mit grundgesetzlich garantierten Rechten bleiben, mitdenkenden Gehorsam aus Einsicht üben, auftragsorientiert und aus Eigeninitiative handeln lernen, fordernd und einsatznah ausgebildet und dabei stets im Geist der demokratischen Grundordnung erzogen werden. Für die vollständige Implementierung wurde einmal realistisch ein Zeitrahmen von „50 Jahren“ (S. 8) genannt. Ein wesentlicher Grund für das Ansetzen eines so überraschend weiten, immerhin ein halbes Jahrhundert umfassenden Zeithorizonts war der Umstand, dass der neue Weg zunächst mit und von einem Führerkorps ins Werk gesetzt werden musste, das seine Sozialisierung unter ganz anderen politischen Voraussetzungen und Werthaltungen erfahren hatte, als sie nun gelten sollten: den kriegsgedienten Offizieren.

 

In einem ersten Abschnitt zeigt Frank Pauli, selbst Offizier und promovierter Militärhistoriker, dass der Begriff „kriegsgediente Offiziere“ eine Homogenität suggeriert, von der in Wahrheit keine Rede sein kann. In Anlehnung an die Typologie Georg Meyers (Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Band 3, München 1993) unterscheidet er folgende, deutlich voneinander abzugrenzende Gruppierungen: reichswehrgeprägte Offiziere (Geburtsjahrgänge 1900-1914, Offizierslaufbahnen ab 1920-1934), Vorkriegsoffiziere (geboren 1914-1918, Offizier ab 1935-1938), Kriegsoffiziere (geboren um 1920, Offizier ab 1939-1942) sowie Volks- und Tapferkeitsoffiziere (geboren um 1923, Offizier ab 1943-1945). Vereinfacht gesagt, bildet diese Differenzierung verschiedene Entwicklungen ab, die vom nahezu geschlossenen System der Offizierskaste mit ihren streng normierten, noch vom Kaiserreich geprägten Wertbegriffen hin zur völligen sozialen Einebnung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges führen sollten. Damit verbunden war zugleich ein intellektueller Substanzverlust, der sich einerseits im Rückgang der Allgemeinbildung der Offiziere vom akademischen bis zuletzt auf Volksschulniveau, andererseits aber auch in einem fatalen Verfall der fachspezifischen militärtheoretischen Führungsausbildung manifestierte. Mutigen und entschlussfreudigen Soldaten jedweden Ranges winkten während des Krieges durch die Praktik der Leistungsbeförderung steile Karrieren und damit Dienstposten, für die sie nicht mehr qualifiziert waren und die sie überforderten. Fühlten sich die reichswehrgeprägten Offiziere dem Staatsgedanken verpflichtet, so überwog bei den Vorkriegsoffizieren der Nationalgedanke; Kriegs-, Volks- und Tapferkeitsoffiziere waren stark vom nationalsozialistischen Totalitarismus beeinflusst, was seinen Ausdruck „in einem allgemeinen Hang zur Verabsolutierung von Überzeugungen und zur Radikalisierung von Meinungen“ (S. 276) finden konnte. Nach Kriegsende, in den Jahren von 1945 bis 1955, „hinterließen die behördliche Drangsalierung, die zahlreichen, teils ungerechtfertigten Kriegsverbrecherprozesse, der pauschale Schuldvorwurf sowie die offene Versorgungsfrage bei den meisten Offizieren den Eindruck einer Diffamierungskampagne“ (S. 123).

 

Die Rekrutierung kriegsgedienter Offiziere für die Bundeswehr erfolgte in den Jahren 1955 bis einschließlich 1960 und war an ein umfangreiches Aufnahmeverfahren geknüpft, um antidemokratische und andere ungeeignete Elemente fernzuhalten. Fast ausschließlich bewarben sich ehemalige Berufssoldaten aus weitgehend ideellen Motiven, wobei die besser gebildeten und sozial den gehobenen Schichten entstammenden Gruppierungen der reichswehrgeprägten und der Vorkriegsoffiziere im Vorteil waren. Die Altersstreuung insgesamt war beträchtlich; so fanden sich „in jedem Dienstgrad Offiziere aus 20 Altersstufen“ (S. 144). Eine „ausgewogene Verbindung aus Anciennität und Leistung“ eröffnete den angenommenen 13.000 kriegsgedienten Offizieren, darunter auch einigen aus der ehemaligen Waffen-SS, jedenfalls „gute und regelmäßige Beförderungsmöglichkeiten“ (S. 147).

 

Obwohl sich die Kriegsgedienten in der großen Mehrheit redlich bemühten, den Herausforderungen ihres Berufes unter den neuen Voraussetzungen zu entsprechen, zeigt der Verfasser, dass ihre Situation in der von ihm ins Auge gefassten Aufbau- und Konsolidierungsphase der Bundeswehr von ständiger Überforderung gekennzeichnet war, was bei den Betroffenen die ohnehin weit verbreitete Unsicherheit und die Vorbehalte gegenüber dem als unklar empfundenen System der Inneren Führung verstärkte. Während die reichswehrgeprägten Offiziere Dienstposten von der Brigadeebene aufwärts einnahmen, wurden Bataillone und Kompanien zunächst von den anderen Offiziersgruppierungen geführt. Auf diesen unteren Ebenen lastete der größte Druck, sodass „die Anforderungen an einen Bataillonskommandeur der Bundeswehr gegenüber einem Bataillonskommandeur der Wehrmacht ungefähr ein Dreifaches betrugen“ (S. 227). Hauptursache war vor allem der durch politische Vorgaben verursachte Zwang zum raschen Wachstum durch Aufstellung neuer Truppenteile, der auf Kosten der Qualität gehen musste und in Skandalen wie der „Nagold-Affäre“ im Sommer 1963 (im Zusammenhang mit dem Tod eines Wehrpflichtigen während eines Ausbildungsmarsches wurden 39 Fälle von Misshandlung, entwürdigender Behandlung und Missbrauch der Befehlsbefugnis aktenkundig) gipfelte. Die Konsequenz solcher Auswüchse war eine verstärkte Bürokratisierung und eine extreme Absicherungsmentalität bei den übergeordneten Führungsstellen, die aus Furcht vor öffentlicher Anprangerung, aber auch aus einem „nie offen zugegebenen, aber enormen Misstrauen der reichswehrgeprägten Offiziere gegenüber den Fähigkeiten der Offiziere und Unteroffiziere der unteren Führungsebene“ diesen vorschrieben, „wie einfachste Handlungsabläufe vorzunehmen seien“ (S. 235). Das berechtigte Gefühl des fehlenden Rückhalts und der nicht mehr zu bewältigende Wust an Vorschriften führten folgerichtig zu einer Vertrauenskrise und zur allgemeinen Demotivation. So kam denn auch „ein monolithisches, kriegsgedientes Offizierkorps, welches seine Interessen geschlossen formulieren und durchsetzen konnte, […] in der Bundeswehr nie zustande“ (S. 283); die vorhandenen internen Spannungen fasst Frank Pauli zu insgesamt acht Gruppen von gegenseitigen Vorbehalten zusammen.

 

Positiv bleibt festzuhalten, dass „die reichswehrgeprägten Offiziere bis hin zu den Volksoffizieren der Bundesrepublik Deutschland loyal gegenüberstanden“ und „bereit gewesen wären, für dieses Land wieder ihr Leben einzusetzen“; ihre größte Aufmerksamkeit galt „der Schlagkraft der Bundeswehr auf dem Gefechtsfeld“ (S. 357). Interessant ist auch, dass Äußerungen von Offizieren der Nationalen Volksarmee (NVA) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in den 1990er Jahren eine starke Affinität zur Mentalität der reichswehrgeprägten Offiziere offenbaren, obwohl jene weder am Aufbau noch an der Dienstgestaltung der NVA beteiligt waren. Ein Ausweg aus der Krise der Inneren Führung der Bundeswehr bahnte sich nach Pauli erst mit der von Helmut Schmidt in den späten 1970er Jahren initiierten militärischen Bildungsoffensive an, wonach fast alle jungen Offiziere ein Hochschulstudium absolvierten; leider sei aber seit den Jahren um die Jahrtausendwende wieder ein gegenläufiger Trend und ein deutliches Sinken des Bildungsniveaus zu beobachten.

 

Der Verfasser arbeitet, wie das ausführliche Literaturverzeichnis erweist, das relevante Fachschrifttum in seine Studie konsequent ein und stützt sich quellenmäßig auf ein beachtliches Korpus vor allem interner Papiere der Bundeswehr, mit Masse auf Bestände des Führungsstabes der Bundeswehr (ab 1965 Führungsstab der Streitkräfte) und der Schule der Bundeswehr für Innere Führung (ab 1981 Zentrum Innere Führung). Seine Untersuchungen im Kontext der Inneren Führung, bezogen auf die angesprochenen Gruppierungen der kriegsgedienten Offiziere, behandeln ausführlich die Themenbereiche der soldatischen Ordnung, der zeitgemäßen Menschenführung, der psychologischen und geistigen Rüstung, des staatsbürgerlichen Unterrichts und der Truppenführung; sie münden in nachvollziehbare und kongruente Ergebnisse. Nur wenige Fragen bleiben offen, etwa, wer denn jene angeblich „unter strengen Kriterien ausgewählten“ Prüfoffiziere (S. 134) waren, die über Annahme oder Ablehnung eines kriegsgedienten Bewerbers zu entscheiden hatten, und welche Qualifikationen sie selbst mitbringen mussten. Was dem gut lesbaren Band allerdings fehlt, ist ein breit angelegtes Stichwortverzeichnis, wie es für jede größere wissenschaftliche Publikation als Standard zu fordern ist; das vorhandene Personenregister kann diesen Mangel nicht kompensieren. Hingegen kann man davon ausgehen, dass der Verfasser als akademisch facheinschlägig gebildeter Offizier auch mit der preußischen Militärgeschichte so vertraut ist, dass er im Fall einer weiteren Auflage seines Werks dafür Sorge tragen wird, dass der nicht ganz unbekannte Reformer Scharnhorst dort unter seinen korrekten Vornamen Gerhard Johann David aufscheinen darf und nicht mehr - wie hier noch - als „August Graf Neidhardt von“ mit Namen und Titel Gneisenaus belegt wird.

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic