Mertens, Bernd, Rechtsetzung im Nationalsozialismus (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 62). Mohr (Siebeck), Tübingen 2009. XII, 181 S. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Die Beschäftigung mit der Gesetzgebung im Nationalsozialismus ist in mancher Hinsicht ein Stiefkind der zeithistorischen Forschung. Das Interesse der Forschung war bisher nur auf eine wenige, für die Gesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit als typisch angesehene Gesetze sowie auf Novellierungen einzelner vor der nationalsozialistischen Zeit entstandener Gesetzeswerke oder auf einzelne Gesetzesvorhaben gerichtet, nicht hingegen auf die Rechtsetzung in der Zeit des Nationalsozialismus im Ganzen. Ausnahmen bilden lediglich die monographische Darstellung Hubert Schorns aus dem Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts über die Gesetzgebung des Nationalsozialismus und die Dokumentation der nationalsozialistischen Gesetzgebung des Rezensenten aus dem Beginn unseres Jahrhunderts[1]. Eine umfassende Untersuchung der Rechtsetzung in der nationalsozialistischen Zeit fehlt dagegen. Diese Forschungslücke zu schließen, ist die Absicht der vorliegenden Studie von Bernd Mertens, Inhaber des Erlanger Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Europäische und Deutsche Rechtsgeschichte seit 2004.

 

Anders als Schorn will Mertens nicht die funktionale Bedeutung der Gesetzgebung für die Ausübung der politischen Macht des Nationalsozialismus untersuchen, sondern das Verfahren der Rechtsetzung in der nationalsozialistischen Zeit als solches einer Analyse unterziehen und dessen typische Merkmale ermitteln. Zu Recht beschränkt er sich hierbei auf die Reichsgesetzgebung und das Verfahren der Entstehung von Reichsgesetzen und  Verordnungen der verschiedenen Verordnungsgeber des Reiches. Eine Analyse der Rechtsetzung von Ländern und Kommunen hätte nicht nur den Rahmen der Untersuchung gesprengt, sondern kaum signifikante Ergebnisse für die Ermittlung der typischen Merkmale der Rechtsetzung erbracht.

 

Mertens beginnt seine Analyse nach einem Überblick über den aktuellen Forschungstand und einer kritischen Würdigung der bisherigen Forschungsergebnisse mit einer Schilderung der an der Rechtsetzung beteiligten Organe, von Mertens als „normgebende Akteure“ bezeichnet, und deren Kompetenzen. Es folgt die Darstellung der Details des Verfahrens bei der Ausarbeitung der Gesetzentwürfe, bei der nicht nur die Beteiligung der nach der Geschäftsordnung der Reichsregierung zuständigen Ministerien und sonstigen Regierungsstellen, sondern auch der Parteistellen der NSDAP und der Akademie für Deutsches Recht sowie die Berücksichtigung von ausländischen Gesetzgebungen erörtert wird. Zu Recht verweist Mertens darauf, dass anders als in der Zeit vor 1933 für die Abfassung von Gesetzesvorhaben keine umfassenden Dokumentationen ausländischen Rechts angelegt und ausgewertet wurden, sondern nur mehr selektiv die Gesetzgebungen von wesensverwandten Staaten, hier vor allem des faschistischen Italiens, Beachtung fanden. Eingehend werden von Mertens die Details des Rechtsetzungsverfahrens beschrieben, vor allem wird die Rolle der Reichskanzlei als zentrale legislative Koordinierungsstelle hervorgehoben, deren koordinierende Funktion sich nicht nur auf Vorhaben und Entwürfe aus den Fachministerien, sondern auch auf solche aus den anderen mit Rechtsetzungskompetenz ausgestatteten Reichsorganen erstreckte. Nach einer Auflistung der typischen Merkmale der nationalsozialistischen Rechtsetzung, die er in der Auflösung der überlieferten Normenhierarchie, der Instrumentalisierung der Rechtsetzung als politisches Steuerungsmittel, der verstärkten Verwendung von unbestimmten Tatbeständen, unbestimmten Rechtsbegriffen, Generalklauseln, Blankettgesetzen sowie in einem Streben nach Volkstümlichkeit von Gesetz und Gesetzessprache erblickt, versucht Mertens am Schluss eine Art Bilanz seiner Analyse der nationalsozialistischen Rechtsetzung zu ziehen. Als beherrschendes Merkmal erkennt er die Unberechenbarkeit der Rechtsetzung durch die Zurückführung aller legislativen Entscheidungen auf den Willen des „Führers und Reichskanzlers“, die auch durch die Bemühungen der zeitgenössischen Rechtswissenschaft, dieses Phänomen theoretisch erfassen, nichts von ihrem Charakter einer Unberechenbarkeit verloren hätten.

 

Durch Mertens’ sorgfältig gearbeitete Studie, in der erstmals das Verfahren der Rechtsetzung im nationalsozialistischen Staat detailgenau beschrieben wird, werden endlich die bisher in der zeithistorischen Forschung kursierenden und vielfach divergierenden Ansichten durch eine seriöse Darstellung abgelöst und wird das Fundament für weitere Untersuchungen zur Geschichte der Gesetzgebung in der nationalsozialistischen Zeit gelegt. Nur durch Untersuchungen wie die von Mertens vorgelegte wird es gelingen, endlich ein unvoreingenommenes und ideologiefreies Bild von der legislativen Entwicklung in der nationalsozialistischen Zeit zu gewinnen, aus der sich wichtige Folgerungen auch für die Beurteilung die Gesetzgebungsgeschichte der nachfolgenden Zeit - und nicht nur dieser - ergeben.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann



[1] Hubert Schorn, Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik, Frankfurt am Main 1963; Arno Buschmann, Nationalsozialistische Weltanschauung und Gesetzgebung 1933-1945, Band 2, Wien New York 2000.