McLoughlin, Barry/Leidinger, Hannes/Moritz, Verena, Kommunismus in Österreich 1918-1938. StudienVerlag, Innsbruck: 2009. 528 S., 45 Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Wer ein Buch mit dem Titel „Kommunismus in Österreich“ zur Hand nimmt, wird – in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich – eine Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) im Untersuchungszeitraum, der Zwischenkriegszeit, erwarten. Zu den Aspekten, mit deren Behandlung der Leser rechnet und rechnen darf, gehören beispielsweise das Führungspersonal der Partei, ihre Ideologie und politische Programmatik, organisatorische Strukturen auf Gemeinde-, Länder- und Bundesebene, Vorfeldorganisationen und eventuelle Abspaltungen, Mitgliederentwicklung und Wahlresultate sowie, für die KPÖ wenigstens ansatzweise, die Übernahme öffentlicher Funktionen in Gemeinderäten usw. Da sich Kommunistische Parteien bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion in der Regel weit stärker als andere politische Parteien als Teil einer Weltbewegung verstanden und deren Moskauer Zentrale seit den Tagen Lenins zu Gehorsam verpflichtet waren, wird folglich auch die Rolle der KPÖ innerhalb der Kommunistischen Internationale zu behandeln sein.

 

Sieht man von dem zuletzt genannten Aspekt des Weltkommunismus einmal ab, bietet das hier vorzustellende Buch von all dem buchstäblich nichts. Es ist nämlich alles andere als eine Geschichte der KPÖ, sondern eine Darstellung im weitesten Sinne kommunistischer und/oder sowjetischer Aktivitäten auf dem Boden der Alpenrepublik. Wohlgemerkt: Kommunistische Aktivitäten meint hier nicht etwa nur österreichische KPler, sondern z. B. auch die aus ihren Heimatländern in Ost- und Südosteuropa geflüchteten Emigranten kommunistischer Orientierung, sofern sie sich für kürzere oder längere Zeit im Österreich der Ersten Republik aufhielten. Der Konnex zu Österreich ergibt sich hier also einzig aus dem zeitweiligen Lebensmittelpunkt dieser Ausländer in der Alpenrepublik und den Reaktionen der österreichischen Behörden auf die keineswegs wohlgelittenen, sondern meist als Troublemakers wahrgenommenen Exilanten. Ist der Horizont der einbezogenen Personen und Gruppen im Wortsinn grenzenlos, so verengen sich umgekehrt deren von den Autoren untersuchte Tätigkeiten auf konspirative, nachrichtendienstliche und mitunter direkt kriminelle Aktionen. Fragen der politischen Taktik in Tagesfragen kommen gelegentlich zur Sprache; programmatisch-ideologische Diskussionen, an denen die Geschichte des Weltkommunismus so überreich ist, hingegen so gut wie nicht.

 

Die Struktur des Bandes ist wenig geeignet, die Darstellung – man müsste eher von Darstellungen sprechen – leserfreundlich zu bündeln. Obwohl je ein größerer Abschnitt aus der Feder jedes der drei Autoren stammt, ist der Text in zwei „Bücher“ gegliedert, deren erstes die Jahre 1918-1927 umfasst (Beiträge Moritz und Leidinger), während Buch 2 dem restlichen Zeitraum bis 1938 gewidmet ist (Beitrag McLoughlin). Die Anordnung der Autorennamen auf dem Titelblatt ist unerfindlich, da sie weder der alphabetischen noch der Reihenfolge der Texte entspricht. Die Einleitung rechtfertigt die Zäsur der beiden Bücher, das Jahr 1927, mit dem Brand des Justizpalastes im Juli desselben Jahres, ohne dass die Texte irgendwie die Behauptung stützen würden, es habe sich um ein für die Geschichte des Kommunismus derart herausragendes Ereignis gehandelt.

 

Die ersten knapp 100 von ihr verfassten Seiten stellt Verena Moritz unter die Überschrift „Staatsgeschäfte“. Sie widmet sich insbesondere den diplomatischen Beziehungen zwischen dem untergehenden Habsburgerreich bzw. der jungen Republik auf der einen, dem Sowjetstaat auf der anderen Seite. Schon an dieser frühen Stelle der Lektüre fällt dem Leser die Zufälligkeit der herausgegriffenen Fragen auf, darunter die Problematik der Kriegsgefangenen, die Moritz andernorts bereits ausführlich abgehandelt hat. Der diplomatische Verkehr drehte sich anscheinend in erster Linie um die Auswahl der nach Wien entsandten, ständig wechselnden Sowjetbotschafter und um die ihnen an der Donau zu Teil gewordenen, regelmäßig ziemlich misstrauische Aufnahme. Ebenso punktuell und stark persönlich sowie auf Einzelbeispiele zugeschnitten bleiben die knappen Ausführungen zu den Wirtschaftskontakten. Das dritte Unterkapitel befasst sich mit dem Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober und dessen Wahrnehmung der „roten Gefahr“. Soviel Interessantes hier auch nachzulesen ist, so werden doch nur Bruchstücke der behördlichen Reaktionen auf das Auftauchen kommunistischer Gruppen geboten, denn auf die zum Teil harsche Unterdrückung durch die Polizei geht auch Hannes Leidinger im nächsten Abschnitt ein. Übrigens macht sich hier die chronologische Zweiteilung des Bandes besonders störend bemerkbar.

 

Leidingers mit „Parteiarbeit“ überschriebener Teil ist rund 130 Seiten lang und behandelt vor allem internationale Aspekte, allen voran die Stellung Wiens als eines der Zentren der Kommunistischen Internationale außerhalb Moskaus sowie als „Ausweichquartier“ für unzählige aus ihren Heimatstaaten vertriebene kommunistische Gruppen und Parteien bzw. Parteireste. Um überhaupt verständlich zu machen, was diese Polen, Bulgaren, Jugoslawen, Rumänen, Griechen, Türken und unzählige Andere nach Wien brachte, muss Leidinger notgedrungen immer wieder die innenpolitische Entwicklung der betroffenen Länder skizzieren, so dass passagenweise der Österreichbezug verloren geht. Überhaupt darf man sich generell fragen, ob es wirklich einen derart gewichtigen Aspekt von „Kommunismus in Österreich“ darstellt, dass allerhand kurz- oder langfristige Exilanten an der Donau ihr politisches Süppchen kochten. Kein Wunder, dass die zahllosen Personennamen (deren Zahl sich durch die ebenfalls minutiös verzeichneten Decknamen mindestens verdoppelt) sowie die vielen Fraktionen und Fraktiönchen den Leser verwirren. Denn diese Gruppen bekämpften nicht allein die „bürgerlichen“ oder autoritären Regime ihrer Herkunftsstaaten, sie lagen sich auch untereinander ständig in den Haaren, wie im Unterkapitel „Die Fraktionskämpfe der zwanziger Jahre“ nachzulesen ist. Die ebenfalls in einem Unterabschnitt behandelte Kominternstrategie hatte es wahrlich nicht leicht, Ordnung in diese zerstrittenen Haufen zu bringen, sofern dies überhaupt ihr Anliegen war.

 

Der mit rund 250 Seiten bei weitem umfangreichste Teil (Buch 2) stammt aus der Feder Barry McLoughlins. Er bietet eingangs am ehesten Mosaiksteine einer Geschichte der KPÖ nach den Juliereignissen von 1927, während der Weltwirtschaftskrise und im Gefolge der beiden bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen vom Februar und Juli 1934. Über den Text verstreut, bringt McLoughlin einige Daten zur Mitgliederentwicklung und zu den organisatorischen Strukturen der KPÖ; auch auf die Frage der Strategie gegenüber den Sozialdemokraten (Einheitsfront der Arbeiterklasse oder strikte Abgrenzung) geht er ein. Diese wenigen systematischen Ansätze werden leider immer wieder durch langatmig abgehandelte Intrigen und ähnliche Episoden konterkariert. Auch für diesen Autor scheint sich kommunistische Politik vorrangig auf einer persönlichen, bestenfalls zwischenmenschlichen Ebene abzuspielen. Kein Wunder, dass der Leser schnell den Überblick darüber verliert, wer hier wann gegen wen intrigierte und polemisierte.

 

Der zweite Abschnitt von Buch 2, ca. 120 Seiten lang, nimmt „Die Geheimapparate“ in den Blick, primär die diversen Nachrichtendienste der UdSSR und der Komintern mit deren wechselseitigen Verflechtungen. Sodann wird erneut, nun für die Zeit ab 1927, auf die exilierten ausländischen Sektionen der Kommunistischen Internationale in Österreich eingegangen, bevor die beiden letzten Unterkapitel kommunistische Passfälscher und Fememorde ansprechen – erneut eine Sturzflut an Namen, Pseudonymen, Adressen konspirativer Wohnungen usw. So spannend diese Ausführungen sind, so übertrieben ist die diesen Spezialthemen gewidmete Aufmerksamkeit. 40 Seiten ausschließlich über Passfälschungen und Fememorde (es handelt sich in Wirklichkeit um einen Mordfall) blähen diese Randaspekte einer Geschichte des „Kommunismus in Österreich“ über Gebühr auf.

 

Der Band klingt aus mit einer weiteren Reihe von Fallgeschichten, die darlegen, welches (häufig tödliche) Schicksal die nach Moskau geflüchteten, irgendwie mit Österreich verbundenen Kommunisten während der Stalinistischen Säuberungen der Dreißiger Jahre erlitten. Die letzte Textzeile des Buches meldet den Tod einer reichsdeutschen, zeitweilig in Österreich aktiv gewesenen Kommunistin in einem sowjetischen GULAG. Auf eine Zusammenfassung, Bündelung oder Synthese der drei höchst disparaten Teile wartet der Leser vergeblich.

 

So bleibt als Fazit, dass wichtige Aspekte des „Kommunismus in Österreich“ gar nicht angesprochen, andere – und zwar zweit- oder drittrangige – hingegen mit überbordender Detailgenauigkeit ausgebreitet werden. Die Autoren haben eine unglaubliche Fülle teilweise erstmals zugänglicher Primärquellen in österreichischen, deutschen, britischen und russischen Archiven sowie eine beeindruckende Literaturmenge ausgewertet. Eine gut gegliederte Zusammenschau aller bedeutsamen Facetten ihres Themas legen sie nicht vor, vielmehr bieten sie auf weiten Strecken eine Aneinanderreihung von Episoden und Anekdoten, die sie schlicht erzählen, selbst fasziniert von ihren Entdeckungen, ohne deren Relevanz zu reflektieren. Schon die Einleitung gibt sich methodisch-analytisch recht anspruchslos und dieser erste Eindruck verstärkt sich durch die folgende, extrem personalisierende Erzählweise, die keinerlei analytische Ambitionen erkennen lässt. Typisch hierfür ist etwa der – für die Charakterisierung der sich als international verstehenden Kommunisten eigenartige – Umstand, dass die Autoren ständig auf den ethnischen Hintergrund ihrer Protagonisten (Juden ausgenommen) verweisen.

 

Moritz, Leidinger und McLoughlin haben mit großem Forscherfleiß eine Fülle bisher unbekannter Details vor allem zu den konspirativen Facetten kommunistischer Aktivitäten in Österreich – und vermittelt durch die Drehscheibe Wien auch in weiten Teilen Europas – zusammengetragen. Ein übersichtliches, gut lesbares Buch ist daraus leider nicht geworden und noch viel weniger eine Geschichte des „Kommunismus in Österreich“ vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum „Anschluss“ an das Deutsche Reich unter Adolf Hitler.

 

Graz                                                                                       Martin Moll