Mayer, Michael, Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und „Judenpolitik“ in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich - ein Vergleich (= Studien zur Zeitgeschichte 80). Oldenbourg, München 2010. XII, 479 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Im Vichy-Frankreich ergingen am 3. 10. 1940 das Gesetz portant statut des juifs und am 2. 6. 1941 das Gesetz, welches das Statut vom Oktober 1940 ersetzte und erheblich ergänzte. Die Vergleichbarkeit bzw. Ähnlichkeit dieser beiden Gesetze mit dem BBG (Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums) vom 7. 4. 1933 – hinzu kommt noch das Rechtsanwaltsgesetz vom 10. 4. 1933 – und Teilen der Nürnberger Gesetze (insbesondere die 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. 11. 1935) waren für Mayer Anlass, die französische und die deutsche Judengesetzgebung zeitlich versetzt (1933/1935 für Deutschland und 1940/41 für Frankreich) miteinander in Beziehung zu setzen, wenn auch die Einführung von Rassengesetzen in Frankreich in den Jahren 1940/41 „eine fundamental andere Qualität“ hatte als die deutschen Gesetze von 1933/35 (S. 12). Beiden Gesetzgebungen liegt nach Mayer ein „Segregationsantisemitismus“ zugrunde, der die Juden aufgrund einer scheinlegalen Gesetzgebung ihrer Rechte beraubte und damit den Staat von einem vermeintlichen jüdischen Einfluss säubern sollte (vgl. S. 192f.). Beide Gesetzgebungen wurden primär von den traditionellen Ministerialeliten getragen, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich die republikanischen Eliten weitgehend aus dem Ministerialdienst verdrängt worden waren. Wiederholt stellt Mayer klar, dass die beobachteten Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern nicht dazu führen könnten, „dass die deutsche Verantwortung für die ab 1933 an den Juden verübten Verbrechen geschmälert wird“ (S. 407).

 

Im ersten Teil seines Werkes untersucht Mayer die Entstehung der Rassengesetze von 1933/35 bzw. von 1940/41 und deren verwaltungstechnische Umsetzung, deren Präsentation in der Öffentlichkeit und die Reaktion auf diese Gesetze bei den Kirchen im NS-Deutschland und im Vichy-Frankreich (S. 21-196). In der Zeit von 1940/41 wurde ein „autonomer französischer Antisemitismus“ umgesetzt (S. 195), der in der „überstaatlichen Tradition der Judenfeindschaft in Europa“ stand (S. 404). Der deutsche Einfluss auf die französischen Judengesetze von 1940/41 ist, wie Mayer anhand der deutschen und der erst seit kurzem zugänglichen französischen archivalischen Überlieferung nachweist, als „eher gering einzuschätzen“, zumal auch die Judenpolitik der deutschen Militärverwaltung lediglich auf kriegswirtschaftliche Ziele hin ausgerichtet war (S. 57). Die (traditionellen) Verwaltungseliten beider Länder betrachteten die „Judenfrage“ mit ihren jeweiligen Rassengesetzen, von denen die französische Loi von 1941 weniger weit ging als die Nürnberger Gesetze – beispielsweise war in Frankreich die Heirat zwischen Juden und Nichtjuden nicht gesetzlich verboten.

 

In Deutschland bekamen die radikalen Nationalsozialisten bzw. die nationalsozialistischen Institutionen ab 1938 gegenüber dem vom Reichsinnenministerium und dem Reichsjustizministerium vertretenen Segregationsantisemitismus die Oberhand. Der Verlust institutioneller Zuständigkeiten führte zu einem Machtverfall insbesondere des Innenressorts, das ab 1938 kaum noch Mitspracherechte in der Judenpolitik hatte, die zunächst von Göring koordiniert und später vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und der Parteikanzlei beherrscht wurde, die für den Holocaust primär verantwortlich sind. Der „Judenstern“ wurde in Deutschland im August 1941 ohne Beteiligung der Verwaltung eingeführt. Dem Reichsinnenministerium gelang es jedoch, die Deportation von „Mischlingen 1. Grades“ weitgehend zu verhindern. Die vorgesehene Sterilisation wurde nicht mehr durchgeführt. Auch in Frankreich übernahm der dem RSHA unterstellte Befehlshaber der Sicherungspolizei zulasten der Militärverwaltung die „Führung“ in der Judenfrage. Lavalle (französischer Ministerpräsident 1942-1944) konnte zwar die Auslieferung von Juden ein Jahr lang verhindern (S. 306). Jedoch erließ Pétain auf deutschen Druck zahlreiche neue Ausbürgerungsdekrete, die sich auf Naturalisierungen aus den Jahren von 1927 an bezogen. Die Vertreter des RSHA in Frankreich unterstützten ab Ende 1943 die radikalen paramilitärischen milices (S. 309). Auch in dem Abschnitt über die Segregationspolitik zur Vertreibung der Juden aus NS-Deutschland und Vichy-Frankreich geht Mayer auf die Reaktionen der Einführung des „Judensterns“ und die Deportation der Juden seitens der Kirchen in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich ein (S. 362). Im Anhang gibt Mayer die Erste Verordnung vom 14. 11. 1935 zum Reichsbürgergesetz und die beiden französischen Judengesetze von 1940/41 wieder. Nützlich wäre auch der Abdruck weiterer französischer Verordnungen und Gesetzentwürfe zur Judenfrage gewesen. Wichtig gewesen wäre eine detailliertere Beschreibung insbesondere der traditionellen „deutschen und auch französischen Ministerialbeamten bzw. der Verwaltungsbürokratie“. Etwas knapp behandelt ist die Endphase der Deportationen und Verfolgung der Juden in Frankreich, wozu man trotz der beschränkten Zielsetzung des Werkes gerne mehr gelesen hätte (vgl. S. 309). Aus rechtshistorischer Sicht sind von großem Interesse die detaillierten Analysen der Einzeltatbestände der deutschen Judengesetze und der französischen Gesetze von 1940/41 sowie der französischen Entwurfsfassungen vor und nach Erlass des Judengesetzes von 1941. Insgesamt trägt die Studie dazu bei, ein in der Forschung teilweise einseitiges Bild des Vichy-Regimes zu überwinden (S. 406). Der von Mayer herausgearbeitete qualitative Unterschied zwischen dem deutschen und französischen Segregationsantisemitismus und dem radikalen, mörderischen NS-Antisemitismus lässt die Singularität des Holocaust, den der französische Staat nicht aktiv gefördert hat, in aller Deutlichkeit erkennen.

 

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Werner Schubert