Maier, Regina, NS-Kriminalität vor Gericht. Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Kassel 1945-1955 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 155). Selbstverlag der hessischen historischen Kommission Darmstadt und der historischen Kommission für Hessen, Darmstadt 2009. IX, 372 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Nachdem es – aus einer ganzen Reihe von Gründen – lange gedauert hat, bis die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch deutsche Gerichte nach Aktenlage untersucht worden ist, liegen nunmehr in zunehmendem Maße Arbeiten zu dieser Thematik vor. Freilich ist die einschlägige Tätigkeit der Justiz in der Nachkriegszeit erst relativ spät ins Blickfeld der Forschung getreten. In diesen Kontext reiht sich jetzt die vorliegende Studie ein, die als Dissertation vom Fachbereich „Geschichte und Kulturwissenschaften“ der Universität Marburg angenommen worden ist. Sie analysiert Verlauf und Ausgang von 78 Strafverfahren wegen NS-Straftaten, mit denen die Landgerichte Marburg und Kassel in der Zeit von 1945 bis 1955 befasst waren, bezieht aber in ihre Betrachtung die hessische Strafjustiz jener Phase insgesamt  ein (S. 70).

 

Als Quelle dienten Regina Maier die Ermittlungsakten der beiden Staatsanwaltschaften, die neben amtlichen Schriftstücken und Eingaben der Beschuldigten und Verwandten auch prozessbezogene Zeitungsartikel enthalten. Darüber hinaus hat die Verfasserin ministerielle Unterlagen (namentlich Weisungen an die Staatsanwaltschaften) herangezogen, die Quellensammlung „Justiz und NS-Verbrechen“ von C. F. Rüter, die sich allerdings auf deutsche Strafurteile wegen Tötungsdelikten konzentriert, Dokumente des Hessischen Hauptstaatsarchivs Marburg sowie eine Sammlung hessischer Justizakten ausgewertet, die indes ausschließlich die Judenverfolgung während des NS-Regimes zum Gegenstand haben. Im Unterschied zu einschlägigen Untersuchungen hat sich die Autorin nicht auf Verfahren beschränkt, die Kapitaldelikte betrafen, sondern im Untersuchungszeitraum abgeurteilte NS-Delikte jedweder Couleur einbezogen.

 

Die beiden Gerichte konnten – auf Betreiben der amerikanischen Militärregierung und des hessischen Justizministeriums – ihre Tätigkeit nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ schon recht früh, im Oktober 1945, aufnehmen. Endeten nach den Feststellungen der Verfasserin zunächst deutlich mehr Verfahren mit Verurteilungen (1948: 1819, 1949: 1523 Verurteilte), so nahmen diese Zahlen im Laufe der folgenden Jahre deutlich ab (1950: 980, 1953: 123, 1954: 44 und 1955: 21 Verurteilte). Zu diesem Rückgang der Verfahren trugen mehrere Faktoren bei: z. B. das Fehlen sachlicher oder örtlicher Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften, die Verjährung minderschwerer Straftaten 1950 sowie aller Vergehen der Körperverletzung, Freiheitsberaubung und der Eigentumsdelikte 1955. Von diesem Zeitpunkt an wurden nur mehr Mord, Totschlag und schwere Körperverletzung verfolgt. Das 2. Straffreiheitsgesetz (StFG) 1954 amnestierte die Straftäter, deren Taten nicht mit einer höheren Strafe als drei Monaten Gefängnis bedroht waren. Die sog. „Endphasenregelung“ dieses Gesetzes bezogen in die Amnestie alle zwischen dem 1. 10. 1944 und dem 31. 7.1945 begangenen Straftaten ein, die „in der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht begangen worden sind und für die keine höhere Strafe als drei Jahre Freiheitsstrafe verhängt oder zu erwarten sind“.

 

Die unmittelbar nach der Machtübernahme von 1933 begangenen Ausschreitungen und Verfolgung von Juden und politischen Gegnern, die dann in der sog. Reichspogromnacht vom 8./9. November 1938 einen weiteren Höhepunkt erlebten, zogen namentlich Verfahren wegen (gefährlicher) Körperverletzung und Landfriedensbruch nach sich. Die Verfasserin schildert eine ganze Reihe solcher Vorfälle, die zeigen, welchem Terror Juden und andere missliebige Personen vor allem von Angehörigen der SA und NSDAP ausgesetzt waren. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten Verfahren wegen (gefährlicher) Körperverletzung an Kriegsgefangenen, Fremdarbeitern und politischen Häftlingen. Namentlich im Zuge der Zwangsarbeit solcher Personen in Rüstungsbetrieben kam es immer wieder zu Misshandlungen brutalster Art, die schwere Gesundheitsschäden, wenn nicht gar den Tod des Opfers zur Folge hatten. In der Endphase des Krieges wurden vielfach angebliche Plünderer und Gestapo-Häftlinge (z. B. durch sog. Exekutionskommandos) erschossen. Immerhin fand bereits 1949 ein Verfahren wegen der Ermordung polnischer Juden, die deportiert wurden, statt  Es endete indessen ebenso wie ein Verfahren gegen zwei Mitglieder eines Sondergerichts, die 1950 wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag angeklagt wurden, mit einem Freispruch; sie hatten an der Verurteilung eines Juden wegen sog. Rassenschande als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ zum Tode mitgewirkt.

 

Knapp die Hälfte der von der Verfasserin ausgewerteten 78 Verfahren wurde durch Hinweise aus der Bevölkerung in Gang gebracht. Die relativ wenigen Opfer-Zeugen schränkten im Laufe des Verfahrens ihre belastenden Aussagen aus den verschiedensten Gründen ein. Die Täter-Zeugen, die oft genug die einzigen Zeugen darstellten, suchten sich vielfach selbst zu schützen oder Kameraden zu schonen. In keinem einzigen Falle hat ein Angeklagter seine Tat in vollem Umfange eingeräumt (S. 143). Soweit Angeklagte Misshandlungen zugegeben haben, haben sie zumeist ihr Verhalten bagatellisiert oder relativiert. Nicht selten haben sie sich auf sog. Befehlsnotstand berufen. Insgesamt waren die Beschuldigten- und Zeugenaussagen durch zahlreiche Widersprüche gekennzeichnet. Die Verfasserin registriert nicht weniger als neun Verteidigungsstrategien (S. 143), die man großenteils auf die von Sykes/Matza herausgearbeiteten Neutralisierungsmechanismen zurückführen könnte. Problematisch erschien ihr der Umstand, dass die Richter nicht selten die Glaubwürdigkeit von Opfer-Zeugen anzweifelten, während sie diejenige Angeklagter oder von Entlastungszeugen nicht zur Diskussion stellten (S. 171).

 

Bei der Strafzumessung fielen häufig mildernde Umstände ins Gewicht; sie überwogen gegenüber straferschwerenden (S. 200). Die Opferperspektive trat vielfach nicht ins Blickfeld oder sie wurde mit dem Schicksal des deutschen Volkes in Zusammenhang gebracht. Charakteristisch für die Strafbemessung sind etwa die Verurteilungen wegen Landfriedensbruchs. In 95 % der Fälle wurde auf Strafen im untersten Fünftel des Strafrahmens erkannt (S. 203). Insgesamt waren in den NS-Verfahren von 1945 bis 1955 Verurteilungen in der Minderzahl. In der Mehrzahl der Fälle wurde entweder das Verfahren eingestellt oder mit einem Freispruch beendet (S. 210). Nur sieben von insgesamt 91 Verurteilten mussten die ganze Strafe verbüßen. 27 Verurteilte fielen unter das Straffreiheitsgesetz 1949, 56 mussten aus anderen Gründen ihre Strafe überhaupt nicht oder nicht in voller Länge absitzen (S. 235).

 

Die Verfasserin geht auch der Frage nach, wie die  nordhessische Bevölkerung zu den NS-Prozessen eingestellt gewesen ist. Sie kann dies freilich nur, soweit in Medienberichten und Leserbriefen öffentliche Reaktionen zutage getreten sind. Das Bild, das sich da bietet, zeigt, dass die Strafverfahren nur auf wenig positive Resonanz (etwa bei NS-Opfern und entsprechenden Opferorganisationen) stießen. „In der breiten Bevölkerung findet sich keine Zustimmung“ (S. 297). Während den Beschuldigten viel Verständnis entgegenschlug, wurde das Schicksal der Opfer weitgehend ausgeblendet. Die Verfasserin schreibt „den mangelhaften Respekt vor den Leiden der NS-Opfer“ nicht zuletzt einem „in weiten Teilen der Bevölkerung verbreiteten Antisemitismus, Rassismus und Antikommunismus“ zu (S. 303). Die Presse selbst lässt fast durchweg eine kritische Auseinandersetzung mit NS-Prozessen vermissen (S. 312).

 

Insgesamt fügt sich das alles zu einem Bild, wie es auch schon in anderen Untersuchungen dieser Art zutage getreten ist: In der Nachkriegszeit war die Bereitschaft, sich mit der NS-Vergangenheit zu beschäftigen, denkbar gering. Das wirkte sich auf die Einleitung von Strafverfahren wegen NS-Delikten negativ aus. Die strafrechtliche Aufarbeitung dieser Kriminalität litt auch darunter, dass nicht wenige Juristen, die nach 1945 als Staatsanwälte oder Richter fungierten, dem NS-Regime in dieser oder in anderer Weise gedient haben. Den Bemühungen des hessischen Ministeriums, die einschlägige Strafverfolgung durch Weisungen gegenüber den Staatsanwaltschaften voranzutreiben, war nur begrenzter Erfolg beschieden. Auf Richter konnte und wollte man natürlich im Hinblick auf die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit keinen Einfluss ausüben. Alle diese Umstände spiegelt die Erfahrung wider, dass es der damaligen deutschen Justiz nicht gelungen ist, der Bevölkerung ein Bewusstsein für den kriminellen Gehalt der NS-Verbrechen zu vermitteln (S. 334).

 

Regina Maier hat eine überaus gründliche Arbeit vorgelegt, welche die von ihr untersuchten nordhessischen NS-Prozesse von 1945 bis 1955 nach allen in Betracht kommenden zeitgeschichtlichen Aspekten analysiert, unter denen auch die strafrechtlichen keineswegs zu kurz kommen. Dadurch, dass sie ihre Studie in den umfassenderen Kontext bisheriger Arbeiten zur NS-Diktatur und der – freilich zunächst defizitären – Ansätze juristischer Aufarbeitung jenes Regimes gerückt hat, hat sie einen beachtlichen Beitrag zur zeitgeschichtlichen Forschung geleistet.

 

Saarbrücken                                                                                       Heinz Müller-Dietz