Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit 1750, hg. v. Ruppert, Stefan (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 249 = Lebensalter und Recht 2). Klostermann, Frankfurt am Main 2010. XXXIII, 360 S., graph. Darst. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der Band dokumentiert im Wesentlichen die Ergebnisse, die auf der Arbeitstagung der selbstständigen wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe „Lebensalter und Recht“ des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte im Oktober 2007 vorgetragen worden sind. Diese Arbeitsgruppe befasst sich mit den gesetzlichen Altersgrenzen, die seit dem 19. Jahrhundert den Lebenslauf eines Menschen bestimmen und den modernen dreigeteilten institutionellen Lebenslauf auch normativ durchsetzten (hierzu der Einleitungsaufsatz des Projektleiters Stefan Ruppert: Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit 1750; S. VIIff.). Gegenstand der Tagung war auch die sozialhistorische Perspektive auf die Entstehung von Lebenslaufmodellen, die historische Rekonstruktion von Altersbildern und die seit über 20 Jahren fest etablierte Lebenslaufsoziologie. In diesem Rahmen liefert Gerd Hardach die für die Thematik notwendigen statistischen Daten (S. 323ff.). Gerd Göckenjan (Fachbereich Sozialwesen an der Universität Kassel) stellt in seinem Beitrag: „Vom Greis zum Rentner – Alter als soziale Leistung“ (S. 187ff.) fest, dass es vor dem Einsetzen des wohlfahrtstaatlich bzw. sozialpolitisch organisierten Alters „keine regulativen Altersgrenzen“, sondern lediglich gewisse Altersmarkierungen (S. 193) gab. Die Soziologin Simone Scherger befasst sich in ihrem Beitrag: „Lebenslaufmuster im Wandel – das Beispiel des Auszugs aus dem Elternhaus“ (S. 263ff.) mit Tendenzen der Destandardisierung von Lebensläufen auch hinsichtlich der ersten Eheschließung und der ersten Elternschaft. Leider sehr knapp ist der Beitrag der Bevölkerungswissenschaftlerin Elke Loichinger über „Politische Maßnahmen und demografische Maßzahlen: Illustration am Beispiel der Familienpolitik in Schweden“ (S. 287ff.). In diesem Beitrag geht es um den möglichen Einfluss konkreter Maßnahmen auf das Geburtsverhalten einer Bevölkerung.

 

Der erste Abschnitt „Kindheit und Jugend“ wird eröffnet mit dem Beitrag Christian Langes: „Bayerische öffentliche Kleinkindererziehung im 19. Jahrhundert. Die Geschichte einer Institution und ihr Recht“ (S. 3ff.). Die erste zusammenhängende Regelung von Kleinkinderbewahranstalten, die von den später entstandenen Kindergärten nach der Konzeption Fröbels zu unterscheiden sind, erfolgte bereits 1839 (Neuregelung noch 1910). Durch die in privaten Anstalten organisierte Erziehung kam es bereits im 19. Jahrhundert zu einer „Synchronisierung der Kleinkindphase vor allem der Kinder ärmerer städtischer Familien“ (S. 27). Im Beitrag Thilo Engels: „Die Bevormundung des Vormunds. Eltern, Kinder und Staat im deutschen und französischen Jugendrecht (1830-1924)“ (S. 29ff.) geht es vornehmlich um Fragen der Einschränkung der väterlichen bzw. elterlichen Gewalt, der Amtsvormundschaft, die Beschränkung der Kinderarbeit und die Zwangserziehung auch nicht straffälliger Jugendlicher. Es ist zu erwarten, dass die Monographie Engels die komplexe Thematik des Referats detaillierter und zusammenhängender darstellen wird, als dies in der kurzen Abhandlung möglich war. Andreas Roth befasst sich in der Abhandlung: „Kinder und Jugendliche vor Gericht im 19. Jahrhundert“ (S. 57ff.) mit Rechtsstreitigkeiten von Kindern mit den Eltern um die Eheschließung, die Strafmündigkeit im 19. Jahrhundert und die Etablierung von „Jugendgerichten“ Anfang des 20. Jahrhunderts sowie mit der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Tatjana Mill stellt die Ergebnisse ihrer inzwischen erschienenen Dissertation „Zur Erziehung verurteilt. Die Entwicklung des Jugendstrafrechts im zaristischen Russland 1864-1917“ (2010, S. 77ff.) dar. Sabine Arheidt zeigt in ihrem Beitrag: „Der Jugendliche im Jugendhilferecht zwischen 1961 und 1991“ (S. 99ff.) die Entwicklung vom „schwachen Jugendlichen“ im Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 über das Scheitern eines Diskussionsentwurfs von 1973, der sich für eine starke Rechtsposition des Jugendlichen einsetzte, bis zum Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990 (SGB VIII), das wieder stärker an der Familie und dem Sorgeberechtigten orientiert war. Der Abschnitt des Bandes über „Alter“ bringt zunächst die beiden einander ergänzenden Beiträge von Ulrike Haerendel: „Die Frauenaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung: Geschichte, Funktion, Vergleiche mit dem Ausland“ (S. 127ff.) und von Dorothea Noll: „Der weibliche Lebenslauf in der gesetzlichen Rentenversicherung 1889 bis 1967“ (S. 151ff.). Beide Autorinnen stellen heraus, dass erst mit der Rentenreform von 1957 die Altersgrenze für Frauen von 65 auf 60 Jahre herabgesetzt wurde. Während Haerendel auch die Entwicklung in der DDR und in Österreich mit einbezieht, liegt der Schwerpunkt des Beitrags von Noll auf der Witwenrente und der Abfindungsregelung für die verheiratete, grundsätzlich aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Frau (1967 abgeschafft). Birgit Fastenmayer stellt in ihrem Beitrag (S. 169ff.) wichtige Ergebnisse ihrer Dissertation: „Hofübergabe als Altersversorgung. Generationenwechsel in der Landwirtschaft 1870 bis 1957, 2009 (Rezension von W. Schubert, ZRG GA 127, 1063ff.) vor. Erste Ergebnisse ihres Dissertationsvorhabens bietet Kathrin Linderer in ihrer Abhandlung: „Der Hochaltrige im Recht. Heimrecht in der Bundesrepublik (von 1965 bis 1975)“ (S. 219ff.). Hierbei geht es um die Beaufsichtigung der gewerblichen Altenheime nach § 38 Ziff. 10 GewO von 1967, die auf dieser Norm beruhenden Heimordnungen der Länder und das Heimgesetz von 1974, das die Grundlage für eine Institutionalisierung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Heim für alle Lebensalter bildet. Nach Ssoufian Bouchouaf („Alterdiskriminierung durch rechtliche Altersgrenzen aus verfassungsrechtlicher Perspektive“, S. 241ff.) unterliegen die generellen Regelungen von Altersgrenzen (u. a. für Hebammen, Prüfingenieure, Vertragsärzte und Piloten) schweren verfassungsrechtlichen Bedenken. Im Abschnitt über „Lebenslaufmuster“ beschreibt Helmut Landerer in seinem Beitrag: „Alter, Recht und Straßenverkehr seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Zugangsbeschränkungen, Schutzbestimmungen und Ausschluss von Mobilität mit Hilfe von Altersstufen“ (S. 295ff.) detailliert die mobilitätsbezogene Normierung des menschlichen Lebenslaufs und die seit den Anfängen des Fahrrads und der Motorfahrzeuge bestehenden „Mobilitätsgrenzen“. Zahlreiche Normen – so Landerer – „standardisieren unseren Lebenslauf und führen uns an den Verkehr von Kindesbeinen an heran“. Der Führerscheinbesitz mit 18 Jahren sei in heutiger Zeit „,Muss’ für alle“ (S. 320f.).

 

Wenn auch die Beiträge nicht alle Bereiche der Thematik „Lebensalter und Recht“ abdecken – so fehlt ein separater Beitrag über das Alter im zivilrechtlichen Bereich –, so zeigen sie insgesamt ihre große Bedeutung für die neueste Rechtsgeschichte auf. Insbesondere hat die rechtliche Bedeutung des segmentierten Lebenslaufs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich zugenommen. Es ist zu begrüßen, dass sich dieses bisher weitgehend von der Sozialgeschichte bearbeiteten Bereichs nunmehr auch die Rechtsgeschichte angenommen hat. Es ist zu erwarten, dass Ruppert in seiner angekündigten Monographie: „Recht macht alt“ den „Wechselbeziehungen von Lebensalter und Recht aus rechtshistorischer Perspektive“ (S. IX) systematischer nachgeht, als es in den Einzelmonographien der Mitglieder der Arbeitsgruppe – zwei von ihnen sind, wie erwähnt, bereits erschienen – möglich erscheint.

 

Kiel

Werner Schubert