Kümper, Hiram, Sachsenrecht. Studien zur Geschichte des sächsischen Landrechts in Mittelalter und früher Neuzeit (= Schriften zur Rechtsgeschichte 142). Duncker & Humblot, Berlin 2009. 778 S., Tab., Abb., Diss. phil. Mannheim 2007. Besprochen von Marek Wejwoda.

 

Kein anderer Text hat in der deutschen Rechtsgeschichte des Mittelalters so viel Aufmerksamkeit gefunden wie der Sachsenspiegel. Mit mehr als 460 erhaltenen Handschriften ist er einer der am breitesten überlieferten Texte des Mittelalters überhaupt und etwa auch für Germanisten und Allgemeinhistoriker von höchstem Interesse. Dennoch kann bei weitem nicht die Rede davon sein, dass die Geschichte des Rechtsbuches erschöpfend behandelt wäre. Während sich die Forschung im Laufe der Zeit verschiedenen Problemen intensiv gewidmet hat – man denke etwa an Autor und Entstehung, an die Quellen und den Gedankengang des Rechtsbuches, sowie nicht zuletzt an die Bilderhandschriften –, sind andere Aspekte aus verschiedenen Gründen bisher nur wenig untersucht worden. Dazu gehört besonders die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels in Spätmittelalter und früher Neuzeit, die man bisher eigentlich nur in den Umrissen kennt. Zwar ist die weitreichende Rezeption des Textes in Osteuropa mittlerweile Gegenstand eines Leipziger Akademieprojektes geworden und auch in die Forschung über die Glossierung und ihre Auswirkung auf das Sächsische Recht ist im Anschluss an die von Frank-Michael Kaufmann vorgelegte Edition der Buch’schen Landrechtsglosse[1] insbesondere durch die Arbeiten von Bernd Kannowski[2] in den letzten Jahren Bewegung gekommen. Von den drei methodischen Zugängen zur Frage nach Einfluss und Wirkung des Sachsenspiegels, die Karl Kroeschell 1977 umrissen hat[3] – 1. handschriftliche Verbreitung, 2. Benutzung in anderen Rechtsaufzeichnungen, 3. Zeugnisse der unmittelbaren Anwendung in der Gerichtspraxis – ist aber keiner bisher ausgereizt. Insbesondere über den tatsächlichen Gebrauch in der Rechtspraxis (Zugang 3) weiß man bisher nur wenig.

 

Dieses bemerkenswerte Desiderat greift die 2007 an der Universität Mannheim eingereichte Dissertation Hiram Kümpers auf. Da eben nicht „schon alles gesagt“ ist – wenn auch einiges schon von fast jedem – nimmt Kümper die „tiefgreifende Wirkung des Sachsenspiegels über die Jahrhunderte hinweg“ in den Blick (S. 13). Sein Ziel ist es dabei zum einen, „Grundlagenarbeit zur Erschließung des reichen Quellenmaterials“ zu leisten, zum anderen, die „auf der Grundlage dieses relativ geschlossenen Korpus von Normtexten gewonnen Ergebnisse in weitere Kreise einzubinden“ (S. 14), welcher letztere, etwas diffus formulierte Ansatz offenkundig den Anspruch der Arbeit beschreibt, über den engeren Interessenbereich der Rechtsgeschichte hinaus für andere historische Disziplinen anbindungsfähig zu sein und so auch der von Kümper – im Anschluss an Hans Fehr – diagnostizierten Gefahr einer Isolierung der Rechtsgeschichte entgegenzuwirken.

 

Konkret geht es Kümper dabei darum, „die tatsächliche Verbreitung des Sachsenspiegels als Textkorpus“ [Hervorhebung des Verfassers] (S. 15) so genau wie möglich erkennbar zu machen. Die methodische Grundlage dieser Untersuchung soll eine differenzierte Analyse der Rezeption des Sachsenspiegels in anderen Rechtsbüchern bieten, die nicht bei den Artikeln ansetzt, sondern auf der Ebene der Paragraphen, bei den kleinsten Texteinheiten also: Kümper will sich nicht mit der verbreiteten, unpräzisen Feststellung begnügen, „dieser oder jener Text sei vom Sachsenspiegel beeinflusst“ (S. 15), sondern das genaue Ausmaß der Rezeption ermitteln und mit Hilfe von Konkordanzen abbilden, was an sich nichts Neues, wenngleich noch nicht für alle Rechtsbücher geleistet worden ist. Darüber hinaus geht es dem Verfasser aber auch darum, paragraphenweise Form und Grad der Beeinflussung erfassen, um etwa unterscheiden zu können zwischen a) wörtlichen Übernahmen, b) Konkretisierungen und ergänzenden Interpretationen, c) sinnentstellenden Umdeutungen der Sätze des Sachsenspiegels (S. 62). Kümper beschränkt sich dabei auf das Landrecht und klammert das Lehnrecht mit guten, nachvollziehbaren Gründen aus.

 

Da der Verfasser damit Quellen untersucht, die üblicherweise als deutsche „Rechtsbücher“ des Mittelalters bezeichnet werden, hält er es zunächst für erforderlich, den überkommenen Begriff „Rechtsbuch“ zu hinterfragen (S. 16-44). Er analysiert den (unspezifischen) Gebrauch des Terminus in den Quellen und dessen (weitgehend unreflektierte) Verwendung in der Literatur, um sich dann der Destruktion der klassischen Definition zu widmen, wonach es sich bei Rechtsbüchern um „deutschrechtliche Arbeiten“ „privaten Charakters“ „mit gesetzesähnlicher Geltung“ handelt. An die Stelle dieser von ihm eingehend diskutierten und schließlich verworfenen drei Kriterien setzt Kümper eine alternative Kennzeichnung der Rechtsbücher als „autoritative Lehrbücher“ (S. 44-48), worauf zurückzukommen sein wird. Für den Gang der Untersuchung, der anschließend (S. 57-67) erläutert wird, bleibt diese Umdeutung allerdings im wesentlichen folgenlos. Auch die Auswahl der als „Rechtsbücher“ behandelten Texte – Kümper beschränkt sich auf Landrechtsbücher, bei denen eine Beeinflussung durch den Sachsenspiegel bekannt oder zu vermuten ist (S. 60) – geht nicht erkennbar, jedenfalls nicht explizit darauf zurück.

 

Das einleitend umrissene Forschungsprogramm wird freilich erst im dritten der vier Haupteile des Buches umgesetzt. Zuvor zeichnet Kümper in einem ersten Hauptteil (Kapitel B: „Die Ausgangslage: Eike von Repgow und der Sachsenspiegel“, S. 68-206) den Gang und den gegenwärtigen Stand der Sachsenspiegelforschung nach. Kenntnisreich und detailliert referiert er die Literatur und die z. T. sehr ausufernden Diskussionen über den Verfasser des Sachsenspiegels, dessen Stand und Bildung, Entstehungszeit und Entstehungsort, Quellen und Gedankengang des Spiegels, und setzt sich z. B. ebenso ausgewogen wie kritisch mit Peter Landaus Altzelle-These auseinander. Behandelt wird des weiteren die handschriftliche Überlieferung in der üblichen, auf Homeyer zurückgehenden Klassifizierung. Ausgiebige Berücksichtigung finden hier die codices picturati und die Debatte um die Deutung der dargestellten Szenen und Gebärden. Kümper beschränkt sich aber nicht auf solche Probleme aus dem Zentrum der Sachsenspiegelforschung, sondern bezieht auch eher randständige Aspekte in seinen Forschungsbericht ein. Die Frage der Entstehung des „Mühlhäuser Rechtsbuches“, von dem man zeitweise annahm, es sei vor dem Sachsenspiegel und mithin als erstes der Rechtsbücher entstanden, wird hier ebenso abgehandelt wie die Rechtssprichwörter im Sachsenspiegel, dessen rechtsgelehrte Kommentierung (Glosse, Richtsteig Landrechts) und die bisher im wesentlichen unerforschten Benutzungs- und Vermittlungshilfen (Abecedarien, Remissorien, Vokabularien). Schließlich resümiert der Verfasser auch die – wissenschaftsgeschichtlich mit dem Sachsenspiegel verbundene – Literatur zur Sächsischen Weltchronik und die zum sächsischen Lehnrecht.

 

Der zweite Hauptteil entwirft die „Grundlinien einer Wirkungs- und Literaturgeschichte des Sachsenspiegels und des Gemeinen Sachsenrechts“ (Kapitel C, S. 207-334), vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Kümper unterscheidet hier mit Blick auf signifikante Veränderungen in der Rezeptionsweise des Textes fünf Phasen (S. 212ff.): Während das 13. Jahrhundert (Phase 1) demnach als „Epoche der Konsolidierung und der Ausbreitung des Sachsenspiegels“ zu kennzeichnen ist, erlangte er im 14. Jahrhundert (Phase 2) eine Stellung als anerkannte Autorität und wird daher vor allem in dieser Zeit von seinen Tochterrechtsbüchern verarbeitet. Zwar fällt auch die Glossierung schon in das 14. Jahrhundert. Dennoch ist die sächsische Rechtspraxis erst im 15. Jahrhundert (Phase 3) entscheidend von der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts und von einer wachsenden Normenkonkurrenz geprägt, nicht nur, wie Kümper richtig bemerkt, zwischen gelehrtem und traditionalem Recht, sondern auch zwischen lokaler Gewohnheit oder Willkür und dem übergreifendem „Gemeinen Sachsenrecht“, das sich aus Sachsenspiegel und Weichbild entwickelt. Im 15. Jahrhundert beginnt daher auch eine aktive und kontinuierliche wissenschaftliche Bearbeitung des Sachsenspiegels die dann charakteristisch für die Rezeptionsweise des 16. und 17. Jahrhunderts (Phase 4) wird, bevor schließlich das juristisch-praktische Interesse in einem längeren Prozess seit dem 18. Jahrhundert immer mehr in ein primär und endlich ausschließlich historisches Interesse umschlägt (Phase 5).

 

Gerade für das Spätmittelalter, das nach der überkommenen rechtshistorischen Periodisierung im ganzen pauschalisierend als „Rechtsbücherzeit“ gilt, bedeutet diese einleitend vorgestellte Differenzierung einen deutlichen Gewinn an Präzision und Aussagekraft. Dabei geht sie gewissermaßen als Synthese und überzeugendes Deutungsangebot aus der detaillierten Darstellung hervor, die das Kapitel im folgenden bietet. Kümper verfolgt hier die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Sachsenspiegel von seiner „projizierten Vorzeit“, nämlich der mittelalterlichen Rückführung auf Karl den Großen, die zur Grundlage der Autorität des Spiegels wurde, über Rezeption, Kritik und tatsächliche rechtspraktische Anwendung, bis hin zu der im Spätmittelalter einsetzenden Ausformung zum gemeinen Sachsenrecht und der Verwissenschaftlichung durch die sächsischen Juristenfakultäten, die – in erkennbarer Form – mit dem Leipziger Ordinarius Dietrich von Bocksdorf († 1466) begann und mit Benedikt Carpzov dem Jüngeren († 1666) nicht beendet war. Schließlich schildert Kümper auch die historische Erforschung des Sachsenspiegels von der historischen Rechtsschule und der deutschen Privatrechtswissenschaft über den Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Grundlage ist auch hier wieder die ebenso breite wie verzweigte Literatur, die der Autor in beeindruckender Weise überblickt. Hinzu treten einzelne weiterführende Beobachtungen aus punktuell herangezogenen Quellen, mittelalterlichen Handschriften und frühneuzeitlichen Drucken, sowie Hinweise auf die Nachlässe wichtiger Forscher.

 

Der dritte Hauptteil, das Kernstück der Arbeit, widmet sich den verschiedenen „Erscheinungsformen der Sachsenspiegel-Rezeption in einzelnen deutschen Rechtsbüchern“ (Kapitel D, S. 335-482). Hier findet nun die von Kümper angekündigte Rezeptionsanalyse, seine genuine Forschungsarbeit also statt. Als Rezeptionsträger werden bekannte und weitgehend unbekannte Rechtsbücher untersucht, daneben aber auch einzelne Neuentdeckungen- oder Wiederentdeckungen. Gleichzeitig und zuerst dient aber auch dieses Kapitel dazu, die Literatur zum jeweiligen Rechtsbuch in einem Forschungsbericht zu bündeln und auf dieser Grundlage das jeweilige Rechtsbuch zu charakterisieren. Der sog. „Schwabenspiegel“ (S. 364-391) und das Magdeburger Recht (S. 392-431) erfahren daher eine besonders eingehende Behandlung, die mit ihrer relativ intensiven Erforschung korrespondiert. Jedem Abschnitt ist hier eine Konkordanz zu den Paragraphen des Sachsenspiegels beigegeben, welche die direkten Übernahmen oder Parallelen kennzeichnet. Zusätze und Umarbeitungen erwähnt oder erläutert Kümper dagegen im Text, bisweilen werden sie zusätzlich auch durch Kollationstabellen dokumentiert. Eine Gesamtkonkordanz findet sich im Anhang (S. 571-617).

 

Auf der damit geschaffenen Grundlage skizziert Kümper im vierten und letzten Kapitel seines Buches (Kapitel E „Rezeptionsgeschichtliche Analysen und Einzelbefunde zur Charakteristik und zu einzelnen Rechtsinstituten der sächsischen Rechtsbücher“, S. 483-566) die Wirkungsgeschichte ausgewählter Ideen und Rechtsinstitute des Sachsenspiegels in ihrer Rezeption durch die Rechtsbücher. Was zuvor formal analysiert wurde, wird hier nun gewissermaßen historisch-inhaltlich ausgewertet. Insofern ist es vor allem dieser Teil, der in dem von Kümper angestrebten Sinne anbindungsfähig für andere historische Disziplinen und übergreifendere Fragestellungen sein dürfte. Das Spektrum der behandelten Themen reicht hier von formalen Aspekten, Technik und Stil der Rechtsbücher (man denke etwa an die verbreiteten Vorreden), über bestimmte außerrechtliche Grundgedanken, bis hin zu konkreten Regelungen, Rechtsinstituten und Rechtsbegriffen in verschiedenen Rechtsbereichen. Nach mittlerweile gewohntem Muster erörtert Kümper dabei jeweils zunächst wieder Gang und Stand der Forschung, um dann die neuen Aspekte einzuführen, die sich aus seiner Rezeptionsanalyse ergeben haben. Auf diese Weise verfolgt er etwa die Aufnahme der Zwei-Schwerter-Lehre und der berühmten Quaestio von der Unfreiheit (Ldr. III 42 §§ 3-6). Analysiert werden Vorstellungen über das Verhältnis von Rechtsgewohnheit und geschriebenem Recht und zur Frage von Rechtsfähigkeit und Rechtsstatus, der auch in den späteren sächsischen Rechtsbüchern an die Geburt gebunden bleibt. Im Bereich des Güterrechts und des Erbrechtes behandelt Kümper einige zentrale Probleme des mittelalterlichen Rechtslebens und der modernen Rechtsgeschichte, den Schlüsselbegriff der Gewere, den Grundsatz „Hand wahre Hand“ und Fragen des Erbrechts. Des weiteren äußert sich der Verfasser zu ausgewählten Problemen aus dem Bereich des Strafrechts sowie schließlich zu den vom Sachsenspiegel erhobenen „Regelungsansprüche[n] gegenüber Reich, Kirche, Welt“ (S. 547-567). Kümper referiert und diskutiert hier zentrale Debatten der deutschen Verfassungsgeschichte, über die Königswahl, über den Leihezwang und über das eventuell im Sachsenspiegel formulierte Widerstandsrecht der Untertanen. Zwar versucht der Autor, dazu neue Gesichtspunkte einzubringen, der rezeptionsgeschichtliche Befund ist hier aber dürftig und trägt wenig Erhellendes bei. Er beschränkt sich im Gegenteil zumeist auf die Feststellung, dass die Rechtsbücher diese verfassungsrechtlichen oder öffentlichrechtlichen Fragen kaum rezipiert, sondern zumeist ausgeschieden haben, was ihren partikularen Horizont unterstreicht. Auch an anderen Stellen fallen Kümpers rezeptionsgeschichtliche Analysen bisweilen sehr knapp aus und nehmen dann die Form von losen Notizen an, so, wenn der Autor zwar über mehr als zwei Seiten die Diskussion zu den Tier-, Schein- und Schattenbußen des Sachsenspiegels wiedergibt, zu seiner eigentlichen Frage nach der Rezeption dieser Erscheinungen aber nur die abschließende Bemerkung gibt, der Schwabenspiegel habe diese Bußen weitgehend getreu übernommen und noch um eine Scheinbuße für Kaufleute erweitert (S. 529ff.). Ist hier der Ertrag auch eher spärlich, so gewinnt Kümper an anderen Stellen freilich durchaus wichtige Erkenntnisse, so etwa die im Abschnitt über die Sexualdelikte entwickelten Einsichten zur Rechtsstellung der Frau.

 

Kümper beendet sein Buch mit „Zusammenfassende[n], aber nicht abschließende[n] Betrachtungen“ (S. 568-570), die einerseits einige allgemeine Beobachtungen zur Rezeption des Sachsenspiegels, andererseits Perspektiven für die künftige Forschung umreißen. Die knappen Ausführungen zeigen, dass sich die Ergebnisse gerade in der Vielfalt der jeweils für sich – wie Kümper oft betont – „bemerkenswerten“ Einzelbefunde einer umfassenden zusammenführenden Deutung doch widersetzen. Man mag das bedauerlich finden, den Wert der Arbeit mindert es jedenfalls nicht. Denn unabhängig davon, wie man den Ertrag von Kümpers rezeptionsgeschichtlichen Studien und Einzelanalysen beurteilt: Seine Arbeit bietet darüber hinaus nicht weniger als ein Kompendium der Sachsenspiegelforschung und der Rechtsbuchforschung – zwar keine Synthese, aber eine sehr nützliche Synopse.

 

Es steht außer Frage und fällt daher auch nicht weiter ins Gewicht, dass hier – trotz einer unverkennbar enzyklopädischen Tendenz des Autors – Vollständigkeit und Fehlerlosigkeit prinzipiell nicht zu erreichen waren. Umso mehr sei es dem Rezensenten gestattet, hier einige Ergänzungen und Richtigstellungen aus seinem eigenen Arbeitsgebiet (Dietrich von Bocksdorf) nachzutragen, soweit sie sich aus der Literatur und der gedruckten Überlieferung ergeben: Die von Kümper S. 259 Anm. 242 als „verschollen“ bezeichnete, ehemals Görlitzer Handschrift Varia 4, welche die von Guido Kisch Dietrich von Bocksdorf zugeschriebenen „Informaciones domini ordinarii[4] enthält, ist bereits 1982 von Friedrich Ebel in der Universitätsbibliothek Wroclaw wieder aufgefunden[5] und hier auch von Oppitz verzeichnet worden (Nr. 274). Bei der von Kümper im Anhang (S. 624f.) in Auszügen abgedruckten „Textprobe“ aus dem von ihm in der Österreichischen Nationalbibliothek aufgefundenen „Weissenfelser Rechtsbuch“ handelt es sich nicht um irgendwelche, von den Redaktoren des Buches zusammengestellten erbrechtlichen Regeln (S. 459), sondern um Dietrich von Bocksdorfs „Sippzahlregeln“ in der Textgestalt, wie sie von Hermann Wasserschleben bereits 1860 publiziert[6] und von Guido Kisch dem Leipziger Ordinarius zugeschrieben wurden.[7] Falsch ist, dass Dietrich von Bocksdorfs weitverbreitetes Remissorium „zwar Sachsenspiegel und Weichbildvulgata, nicht aber die Landrechtsglosse“, das seines Onkels Tammo „nicht das Weichbild, wohl aber die Landrechtsglosse“ verarbeitet habe, wie der Verfasser auf S. 184 offenbar im Anschluss an die unpräzisen Angaben bei Oppitz[8] behauptet, und zwar in beiden Fällen in den Einschränkungen. Dies ergibt sich auf den ersten Blick schon aus den Vorreden und dem Remissionenbestand beider Arbeiten in der von Kümper herangezogenen und auch im Quellenverzeichnis aufgeführten (ebd., S. 260f., 630)  Handschrift Ye 2o 62 der Universitäts- und Landesbibliothek Halle, und – für Dietrichs Remissorium – auch aus dem Primärdruck Augsburg 1482 (GW 9265), den Kümper ebenfalls anzieht. Falsch ist schließlich auch, dass Hugo Böhlau in seiner Edition von Dietrich von Bocksdorfs sog. „Gerichtsformeln“ die abweichenden Lesarten der Handschrift Ms II, VIII, 28 der Zwickauer Ratsschulbibliothek berücksichtigt habe (S. 261 Anm. 258). Diesen Textzeugen kannte Böhlau gar nicht, er legte seiner Edition den Zeitzer Textzeugen zugrunde und kollationierte mit einer Münchner Handschrift.

 

In dem Bereich, den der Rezensent aufgrund seiner eigenen Arbeit überblickt, beeinträchtigen diese und weitere Versehen den Wert der Arbeit zwar nicht wesentlich, gleiches gilt für die zahlreichen Druckfehler. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass Kümpers Anspruch, das weite Feld der Sachsenspiegelforschung in seiner gesamten Breite zu erfassen und zu behandeln, eine Stärke und eine bemerkenswerte Leistung, gleichzeitig doch aber auch seine größte Schwäche darstellt. Neben seiner eigentlichen Forschungsleistung will der Autor ein Programm bewältigen, das eher einem Alterswerk als einer Qualifikationsarbeit angemessen ist und dabei noch eine Vielzahl von verstreuten Einzelbeobachtungen aus den zahlreichen Handschriften in- und ausländischer Bibliotheken (Handschriftenverzeichnis S. 629-632) unterbringen, die er nach einem zuweilen schwer durchschaubaren Prinzip ausgewählt und eingesehen hat. Dies hat beinahe zwangsläufig zur Folge, dass so im einzelnen viele Erkenntnismöglichkeiten nicht genutzt werden können, vieles auch im Ungefähren bleibt, gerade dort, wo die Desiderate liegen. Kümper interessiert sich für alles, will sich zu jeder Frage von Bedeutung äußern, reißt vieles an, kommt aber – notgedrungen durch sein sehr umfassendes Programm eilend – kaum je dazu, ein Problem zu vertiefen. Besonders bedauerlich ist dies für die aus den Handschriften gewonnenen Einzelbeobachtungen. Wo Kümper von ihm neu entdeckte oder bisher nicht ausgewertete Quellen heranzieht, bleibt er meist bei einer „flüchtige[n] Durchsicht“ (S. 160) oder „ersten Sichtung“ stehen (S. 294). Für eine wirklich ertragreiche Vertiefung fehlen ihm aber Zeit und Raum. Statt­dessen wird auf künftige Studien und Editionen verwiesen (z. B. S. 261, 459), von denen abzuwarten bleibt, ob sie tatsächlich erscheinen werden.

 

Letztlich ist dies Folge einer konzeptionellen Grundsatzentscheidung gegen eine Spezialstudie und für eine übergreifende Gesamtdarstellung, eine Entscheidung, für die man gute Gründe anführen kann, die man als Leser zu akzeptieren hat und die zu einem Ergebnis geführt hat, das im Ganzen und im Wesentlichen durchaus wertvoll und auch beeindruckend ist. Der Anspruch, quellen­erschließende Grundlagenarbeit zu leisten, den Kümper erhebt (S. 14), wird aber auf diese Weise nur sehr bedingt eingelöst.

 

Ein Wort schließlich noch zu Kümpers ausführlicher Auseinandersetzung mit dem überkommenen Begriff des Rechtsbuches, wonach es sich hierbei um eine „deutschrechtliche Privatarbeit von gesetzesähnlicher Geltung“ handelt. Zwar ist es richtig, dass die Aufzeichnung von Rechtsgewohnheiten seit dem Hochmittelalter kein spezifisch deutsches, sondern ein allgemeineuropäisches Phänomen gewesen ist, dass der Benutzungskontext der Rechtsbücher nicht angemessen als „privat“ charakterisiert werden kann und dass sie keine „Gesetze“ im modernen Sinn gewesen sind. Was aber mit der Kennzeichnung der Rechtsbücher als „autoritative Lehrbücher“ gewonnen sein soll, die Kümper an die Stelle des von ihm als untauglich qualifizierten Begriffsinhaltes setzen möchte, kann ich nicht erkennen und zwar schon deshalb, weil wir sowohl über die Entstehungsumstände, als auch über den Gebrauchskontext der überlieferten Texte in den meisten Fällen kaum etwas wissen. Aus dem gleichen Grund kann diese Charakterisierung nichts dazu beitragen, definitorische Probleme zu lösen, etwa, was die Abgrenzung zu verwandten Textgattungen (z. B. Statuten, städtische Willküren) betrifft. Dafür ist sie überhaupt auch viel zu offen. Als Kriterium der von Kümper getroffenen Auswahl kann sie kaum ernsthaft gedient haben.

 

Den Begriff des Rechtsbuches mit der Charakterisierung als „autoritatives Lehrbuch“ zu füllen bleibt daher weitgehend unbewiesenes Postulat über Zweck und Gebrauch der Rechtsbücher, ein Postulat zumal, das – zumindest mit Blick auf den Sachsenspiegel – sicherlich einen Aspekt, aber wohl kaum den Kern ihrer Funktion erfasst. Denn es kann ja kein Zweifel daran bestehen, dass zumindest Landrecht und Lehnrecht des Sachsenspiegels ebenso wie das Weichbildrecht in der Praxis als geltendes Recht aufgefasst worden sind. Auch die Beobachtungen, die Kümper selbst über einige westfälische Sachsenspiegelhandschriften macht (S. 263f.), weisen auf einen Gebrauch im Bereich der Rechtsprechung hin. Warum man daher von einer Charakterisierung als Text von „gesetzesähnlicher Geltung“ absehen sollte, ist mir unverständlich, zumal die vorgeschlagene Alternative nicht weiterführt, denn eine Funktion als Lehrbuch kann ja erst dann überhaupt sinnvoll gedacht werden, wenn der Text in irgendeiner Weise als verbindlich anzusehen ist. Insofern stellen beide Charakterisierungen nicht etwa Gegensätze dar, sondern bedingen sich gegenseitig.

 

Auch die Gründe, mit denen Kümper das Merkmal der „Privatarbeit“ verwirft, sind für mich nicht nachvollziehbar: Jenseits der von ihm ausführlich referierten Debatte über Privatheit und Öffentlichkeit im Mittelalter (S. 35ff.), spielt es für die Eignung dieser Beschreibung doch gar keine Rolle, dass die – freilich oft unbekannten – Benutzungsumstände nicht angemessen als „privat“ zu charakterisieren sind (S. 38), was zweifellos zutrifft. Die Kennzeichnung als „privat“ zielte aber doch zumindest ursprünglich – so weit ich sehe – zuerst auf die Entstehung des Textes ab, nicht auf seinen Gebrauch. Und fasst man den Begriff der „Privatarbeit“ eher ex negativo in dem Sinne, dass es sich nicht um von einem Herrscher konzipierte und erlassene Gesetze handelt, sondern um Rechtsaufzeichnungen, die auf verschiedene Weise vorhandene Rechtsgewohnheiten und Rechtsvorstellungen eines Einzelnen oder eines Personenkreises verschriftlichen und die aufgrund einer erst in der Folge erlangten Autorität später als verbindlich angesehen wurden, dann wäre diese Charakterisierung – nach allem, was man weiß – nicht nur angemessen, sie würde sogar dazu beitragen, anachronistischen Vorstellungen über die Gesetzesqualität der Rechtsbücher vorzubeugen.

 

Ebensowenig erscheint mir schließlich plausibel, warum die Tatsache, dass die Verschriftlichung von Rechtsgewohnheiten kein spezifisch deutsches, sondern – wie Kümper ausführlich darlegt – ein allgemein europäisches Phänomen gewesen ist, einer Charakterisierung der Rechtsbücher des deutschen Mittelalters als „deutschrechtlich“ entgegenstehen soll – was sind sie denn sonst, möchte man fragen und darauf hinweisen, dass der etwas altertümliche Terminus zuerst doch wohl „nicht gelehrt römisch-kanonisch“ meint und über die europäischen Dimensionen des Trends zur Rechtsaufzeichung gar nichts aussagt.

 

So verdienstvoll und richtig Kümpers Hinweise auf die zweifellos im Begriff des Rechtsbuches mitschwingenden Anachronismen und die damit verbundenen Probleme daher auch sind: Eine kritische Präzisierung und Operationalisierung der bisher verwendeten Kriterien hätte der Sache sicher mehr gedient als die plakative Deklarierung als „autoritative Lehrbücher“, eine zwar wohlklingende Phrase, deren Bedeutungsgehalt aber nirgendwo explizit geklärt wird und die in ihrer Allgemeinheit – über die von Kümper angedeutete Assoziation mit den englischen „books of authority“ hinaus – letztlich auch wenig aussagt.

 

All diese Einwände betreffen allerdings durchaus nicht den Kern dessen, was das Buch positiv leistet. Hiram Kümper hat eine nicht nur sehr fleißige, sondern auch kompetente, gut geschriebene und phasenweise geradezu anregende Arbeit vorgelegt, die eine enorm umfangreiche Literatur zu verarbeiten hatte (Literaturverzeichnis: S. 632-771). Entstanden ist dabei eine Art Kompendium der Geschichte und nicht zuletzt auch der Wissenschaftsgeschichte des sächsischen Rechts, das – ungeachtet der einen oder anderen Schwäche im Detail – in weiten Teilen als Bilanz und Summe der bisherigen Forschung gelten kann, das mit einer Analyse der Rezeption des Spiegels in den folgenden Rechtsbüchern und mit diversen Einzelbeobachtungen aber durchaus auch darüber hinaus führt. Freilich hätte der Ertrag noch weit größer sein können, wenn die Studie nicht derart breit angelegt gewesen wäre. Gerade mit seiner enzyklopädischen Tendenz wird Hiram Kümpers „Sachsenrecht“ aber künftigen Studien zweifellos als Grundlage, als maßgebliche Referenz und hoffentlich nicht zuletzt auch als Anregung dienen.

 

Leipzig                                                                                               Marek Wejwoda



[1] Glossen zum Sachsen­spiegel. Landrecht. 1. Buch’sche Glosse. 3 Bände, hrsg. von Frank-Michael Kaufmann (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris Germanicarum. NS 7), Hannover 2002

[2] Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch'sche Glosse (= MGH-Schriften 56), Hannover 2007.

[3] Karl Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit. Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hrsg. von Peter Classen (Vorträge und Forschungen 23), Sigmaringen 1977, S. 349-380.

[4] Guido Kisch, Dietrich von Bocksdorfs „Informaciones"“(Zur sächsischen Rechtsliteratur der Rezeptionszeit 1,1), Leipzig 1923.

[5] Friedrich Ebel, Nachträge zu Homeyer-Borchling-Gierke-Eckhardt. Die deutschen Rechtsbücher des Mittelalters und ihre Handschriften, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 99 (1982), S. 310-312, hier S. 310.

[6] Hermann Wasserschleben, Das Prinzip der Successionsordnung nach deutschem, insbesondere sächsischem Rechte. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte, Gotha 1860, S. 125 ff.

[7] Guido Kisch, Dietrich von Bocksdorfs „Informaciones“ (Zur sächsischen Rechtsliteratur der Rezeptionszeit 1,1), Leipzig 1923, S. 29 ff.

[8] Oppitz, Rechtsbücher I, S. 79.