Kotulla, Michael, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Alten Reich bis Weimar (1495-1934) (= Springer-Lehrbuch). Springer, Berlin 2008. XXIV, 669 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der in Hannover 1960 geborene, durch einen eher ungewöhnlichen Bildungsweg gekennzeichnete, nach dem Studium von Rechtswissenschaft und Geschichte in Marburg 1999 in Lüneburg habilitierte, umgehend auf einen öffentlichrechtlichen Lehrstuhl der Universität Bielefeld berufene Verfasser ist bereits durch eine ganze Reihe einschlägiger Arbeiten hervorgetreten. Der auf die Tragweite der Grundrechte der revidierten preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 konzentrierten Dissertation folgte 2003 als Quellensammlung mit historischer Einführung das gesamte konstitutionelle Verfassungswerk Preußens zwischen den Jahren 1848-1918. Ihr Erfolg veranlasste den Bearbeiter offensichtlich zu einer Ausweitung auf das deutsche Verfassungsrecht dieser Jahre insgesamt, von der bereits die ersten drei Bände zu Gesamtdeutschland, den anhaltischen Staaten, Baden, Bayern, Berg, Braunschweig, Bremen, Elsass-Lothringen und Frankfurt am Main in den Jahren 2005 bis 2008 vorgelegt wurden und sich weitere Bände in Bearbeitung befinden.

 

Selbst darüber greift das vorliegende Werk noch hinaus, indem es von den Quellen zur Sachdarstellung wechselt. Naturgemäß muss es dabei auch die Verfassungen einbeziehen, die in der monumentalen Quellensammlung noch nicht erschienen sind. Schließlich weitet es auch den zeitlichen Rahmen erheblich aus, indem es sich nicht mehr auf das 19. Jahrhundert beschränkt, sondern mit dem alten Reich einsetzt und erst 1934 endet.

 

Nach seinem Vorwort begreift der Verfasser überzeugend die Darstellung der deutschen Verfassungsgeschichte als eine wissenschaftliche Herausforderung. Er geht von ihrer zentralen Bedeutung für das Selbstverständnis insbesondere des modernen Juristen aus. Durch den rückwärts gerichteten Blick auf das in rechtliche Regeln gekleidete Handeln vorangegangener Generationen sieht er nicht einfach bloßes historisches Wissen erschlossen, sondern auch die für jeden Juristen unverzichtbare Erkenntnis vermittelt, dass und auf welche Weise die Entstehung, Existenz und Weiterentwicklung eines jeden Gemeinwesens von bestimmten äußeren und inneren Rahmenbedingungen geprägt ist.

 

Nicht zuletzt deshalb gilt ihm die deutsche Verfassungsgeschichte als ein für unsere juristische Grundlagenausbildung unverzichtbarer Bestandteil. Voll Zuversicht nimmt er an, dass sie es gerade deswegen auch künftig bleiben wird. Kaum weniger bedeutsam erscheint ihm die deutsche Verfassungsgeschichte auch als Teildisziplin des Geschichtsstudiums oder als Grundlage des politikwissenschaftlichen Diskurses.

 

Diesen Vorstellungen Rechnung tragend will das vorliegende Werk den sich mit der deutschen Verfassungsgeschichte Auseinandersetzenden die dafür benötigten Informationen und Erkenntnisse vermitteln. Bei der angesichts der nahezu unerschöpflichen Breite des Stoffes unvermeidlichen Auswahl legt der Verfasser besonderen Wert auf den Verlauf der maßgeblichen Geschichte, Demgegenüber mussten die geistesgeschichtlich bedeutsamen Strömungen in den Hintergrund treten und wurden nur insoweit eingeblendet, wie sie für das Verständnis der Zusammenhänge unabdingbar erscheinen.

 

„Diese Verfahrensweise halten wir deshalb für angezeigt, weil in Anbetracht der eigenen Lehrerfahrungen die erfolgtreiche Vermittlung des verfassungshistorischen Stoffes eindeutig mehr von der soliden Einbettung in den jeweiligen ereignisgeschichtlichen Kontext abhängt. Zu einigen weiteren Besonderheiten haben wir im einführenden Kapitel ausführlich Stellung genommen. Deshalb dürfen wir uns abschließend darauf beschränken, die vielfältig erfahrene Unterstützung bei dem Zustandekommen dieses Werkes zu würdigen“.

 

Danach erläutert der Verfasser seine „Grundkonzeption der hiesigen deutschen Verfassungsgeschichte“. Verfassung ist auch für ihn die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens, Verfassungsgeschichte die Geschichte der Verfassungen bzw. des Verfassungsrechts, wobei der Verfasser es nachdrücklich ablehnt, sich die bisweilen bevorzugte Perspektive des Jetzt (H. Heller, W. Frotscher/B. Pieroth) zu eigen zu machen, weil Verfassungsgeschichte nach „unserem“ Dafürhalten eben keine Geschichte der Gegenwart, sondern darauf gerichtet ist, das Zustandekommen und die Fortentwicklung von Rechtsordnungen einschließlich des dafür relevanten menschlichen Verhaltens unter den Bedingungen und Umständen ihrer eigenen Zeit zu beschreiben und zu beurteilen.

 

Danach grenzt der Verfasser die Verfassungsgeschichte von der Rechtsgeschichte ab. Verfassungsgeschichte thematisiert für ihn die auf Gemeinwesen bezogenen Verfassungsverhältnisse früherer Zeiten. Demgegenüber beschäftige sich die (deutsche) Rechtsgeschichte traditionell in erster Linie mit der zivilrechtlich geprägten Welt der Individuen. Wenn dies wirklich so wäre, könnte es keine Geschichte des öffentlichen Rechts - einschließlich des Verfahrensrechts und des Strafrechts - als Rechtsgeschichte geben, vielmehr ist Verfassungsgeschichte wohl nicht Anderes als die Geschichte des um politische Vorgänge angereicherten Verfassungsrechts und damit zwar in erster Linie Geschichte, aber eben Geschichte der Verfassung (und des Verfassungsrechts und damit eines Teiles des Rechtes).

 

Im Anschluss hieran erklärt der Verfasser seine Beschränkung auf eine deutsche Verfassungsgeschichte im Verhältnis zu einer vielleicht früher oder später kommenden europäischen Verfassungsgeschichte. Über die zeitliche Eingrenzung kann man, wie die Vielfalt der bisherigen verfassungsgeschichtlichen Werke zeigt, unterschiedlicher Ansicht sein, doch ist einem Spezialisten des 19. Jahrhunderts die Ausweitung auf die gesamte Neuzeit durchaus als Verdienst anzurechnen. Zweifeln wird man freilich dürfen, ob Geschichte tatsächlich im Jahre 2008 mit dem Jahre 1934 enden sollte, da sie ja dem Verständnis der Gegenwart dienen will, kann, darf, soll und vielleicht auch muss.

 

Das Buch richtet sich in erster Linie an Studierende. Trotz seines Umfanges will es aber (anscheinend auch für diese Gruppe) keineswegs mehr als die Eigenschaft eines Überblickswerks beanspruchen. Kann man angesichts dieser Darlegungen nicht die Verzweiflung Studierender gegenüber der Stofffülle verstehen?

 

Nach den Anmerkungen zu Methodik und Aufbau beginnt die Sachdarstellung. Sie gliedert sich überzeugend in drei Teile mit insgesamt 34 Paragraphen. Für das Heilige römische Reich deutscher Nation werden das alte Reich und seine Verfassung um 1495, die historische Ausgangslage für das 15. Jahrhundert, Reichsreformen zur Zeit Maximilians I., Wandel der Territorialverfassungen, Fortentwicklung der Reichsverfassung unter Karl V., Regierungszeit Kaiser Ferdinands I. zwischen 1556 und 1564, das Reich unter Kaiser Maximilian II., die Zeit der Kaiser Rudolf II. und Matthias, der Dreißigjährige Krieg, der Westfälische Friede(n), das Reich im ersten Nachkriegsjahrzehnt. das Reich unter Kaiser Leopold I., Das Reich unter Kaiser Joseph I., die Nachfolge Josephs I. durch Karl VI., Kaiserwahl und Dynastienwechsel, Schlesische Kriege, das Reich unter Kaiser Franz I., Kaiser Joseph II. und das Reich, die französische Revolution und das Reich, der „Abgesang des Reiches“, Ausbau landesherrlicher Macht zwischen 1648 und 1806 unterschieden.

 

Der zweite Teil betrifft das deutsche Staatensystem zwischen 1806 und 1866 (Rheinbund, Preußen und Österreich zwischen 1806 und 1814, Der Wiener Kongress, der Deutsche Bund und seine Rechtsordnung, Verfassungsverhältnisse im Vormärz, die Revolutionszeit, postrevolutionäre Reichsverfassungsbestrebungen, die Märzrevolutionen in den Einzelstaaten und ihre Folgen, das nachrevolutionäre Deutschland zwischen 1850 und 1866, die Verfassungsentwicklung in Preußen und Österreich zwischen 1850 und 1866). Der dritte Teil behandelt Deutschland unter nationalstaatlichen Vorzeichen (Norddeutscher Bund, Deutscher Bund/Deutsches Reich 1871-1918, die Weimarer Republik). Damit sind wohl insgesamt alle verfassungsgeschichtlich bedeutsamen Vorgänge zwischen 1495 und 1934 angemessen aufgegriffen, ohne dass an dieser Stelle auf Einzelheiten eingegangen werden kann.

 

Im Anhängen bietet der Verfasser verdienstvolle chronologische Übersichten, Literaturhinweise und sieben schwarz-grau-weiße Karten. Ein Personenverzeichnis und ein Stichwortverzeichnis runden den stattlichen, mit Artikel 1 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 geschmückten Band ab. Möge das wissenschaftliche Ziel des Verfassers auf möglichst große Anerkennung der Allgemeinheit stoßen.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler