Korb, Axel-Johannes, Kelsens Kritiker (= Grundlagen der Rechtswissenschaft 13). Mohr (Siebeck), Tübingen 2010. XII, 324 S. Besprochen von Thomas Olechowski.

 

Diese am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte entstandene Dissertation nähert sich Hans Kelsen von einem eher ungewöhnlichen Zugang, nämlich über seine Kritiker, von denen der Verfasser die folgenden ausgewählt hat: Ernst Schwind, Alexander Hold-Ferneck, Erich Kaufmann, Rudolf Smend, Carl Schmitt, Fritz Sander und Hermann Heller. Die Arbeit ist keine kollektive Biographie dieser sieben Juristen, stellt das Werk keines von ihnen an irgendeiner Stelle geschlossen dar. Im Mittelpunkt der Arbeit steht vielmehr Kelsen selbst, dessen Werk im Spiegel der zu ihm geschriebenen Kritiken analysiert und erläutert wird. Denn „zum Großteil bestand seine Arbeit aus der Beschäftigung mit Fremdmeinungen. Erst über sie gelangte er zu seiner eigenen neuen Konstruktion. Sie konnte wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen, nachdem zuvor andere Ansichten argumentativ niedergebrannt waren“ (2).

 

Im ersten, „philosophischen“ Kapitel stellt Korb zunächst Kelsen als Neukantianer dar (wobei er richtig vermutet, dass Kelsen – entgegen seiner eigenen Aussagen – weniger von der Marburger als vielmehr von der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus beeinflusst worden war) und konstatiert, dass diese philosophische Richtung eigentlich schon wenige Jahre nach Erscheinen von Kelsens Habilitationsschrift 1911 im Niedergang begriffen war und ihr Autor „nach dem Weltkrieg nicht zur wissenschaftlichen Avantgarde“ zählte, sondern „eher wie ein Relikt der Vorkriegszeit“ wirkte (28). Es war der Neuhegelianismus, dem die meisten seiner Gegner mehr (Kaufmann) oder weniger (Heller) huldigten; lediglich Sander bildete hier eine große Ausnahme: Der einstige Kelsen-Schüler ging so wie sein Lehrer von Kant aus, auch wenn er sich letztlich weit von ihm entfernte und Sanders Lehrgebäude als eine „rechtsphilosophische Einrichtung sui generis“ angesehen werden muss (60).

 

Das zweite, „methodische“ Kapitel bringt auch einige interessante Details zur Biographie Kelsens, zu seinen Schülern und zu seinen schärfsten Gegnern an der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, namentlich Hold-Ferneck und Schwind, die nicht nur literarisch, sondern auch universitätspolitisch gegen Kelsen auftraten, sei es bei dessen eigener Berufung zum Extraordinarius 1918, sei es bei der Habilitation der Kelsen-Schüler Fritz Schreier und Josef L. Kunz, was jedes Mal erfolglos zu verhindern versucht wurde. Schwind war im Übrigen ein philosophisches Leichtgewicht; wesentlich härter war die Auseinandersetzung, die Kelsen mit Hold-Ferneck zu führen hatte. Dabei erwies sich auch, dass „Kelsen den Vorwurf, Naturrechtler zu sein, leichter ertragen konnte, als wenn man ihn als klassischen Positivisten beschimpfte“ (104). – In Deutschland waren es vor allem Schmitt und Heller, die Kelsens Rechts- und vor allem Staatsauffassung gegenüber traten; besonders interessant ist hier die Feststellung, dass es durchaus Gemeinsamkeiten in den Ansichten Schmitts und Kelsens gab, sowie dass ihre methodischen Auseinandersetzung „zunächst von gegenseitigem Respekt geprägt“ war und erst allmählich „unversöhnlich“ wurde (135). Der in der Literatur schon vielfach bearbeitete Streit zwischen Kelsen und Schmitt über den „Hüter der Verfassung“ wird hier nicht länger als nötig referiert. Richtig erkennt Korb, dass die theoretischen Auseinandersetzungen die politische Entwicklung jener Zeit „flankierten“: „Die Verbindungen zwischen juristischer Methode und politischer Forderung wiesen nicht nur in die Zukunft, sondern waren ein Stück weit auch Erklärungen der Gegenwart“ (148).

 

Damit ist auch schon zum dritten und letzten Kapitel, jenem vom „Wesen der Demokratie und dem Wert der Religion“, übergeleitet. Das Verhältnis der genannten Juristen zu diesen beiden Themen kann geradezu als des Pudels Kern angesehen werden: Der Verfasser ortet bei Schwind eine „Neigung zum italienischen Faschismus“, bei Smend immerhin eine „republikanische Skepsis“, bei Schmitt und Sander schließlich eindeutig „nationalsozialistische Affinitäten“. Uneingeschränkt trat eigentlich nur Kelsen für die Demokratie ein, was mit seiner Reinen Rechtslehre eng zusammen hing, zumal diese ebenso wie Kelsens Demokratietheorie von der Vorstellung des autonomen Menschen und von der Überzeugung, dass es unmöglich sei, oberste Werte wissenschaftlich zu erkennen, ausging. Dem Verfasser „drängt sich die Vermutung auf, das Haupterkenntnisinteresse Kelsens sei nicht theoretisch oder gar philosophisch, sondern vielmehr politisch ausgerichtet gewesen.“ Doch er hält fest, dass Kelsen „seinem Reinheitspostulat letztlich treu blieb“ (196). Von besonderem Interesse, weil bislang nur wenig erforscht, sind Kelsens Überlegungen zu Theologie und Religion. (Ein Hinweis: Hier müsste künftig jedenfalls auch der Beitrag Horst Dreiers in der 2009 erschienenen Festschrift für Clemens Jabloner, der dem Autor der hier zu rezensierenden Arbeit offenbar noch nicht bekannt war, Erwähnung finden).

 

Korbs Dissertation ist primär nicht der Rechtsphilosophie, sondern der Rechtsgeschichte zuzuordnen. Der Verfasser hütet sich, die seinerzeitigen literarischen Kontroversen durch das Hinzufügen persönlicher Meinungen zu neuem Leben zu erwecken, sondern belässt sie dort, wo sie sind: In der Vergangenheit. Dennoch ist die Arbeit gerade auch für die Rechtsphilosophie von hohem Wert, zumal die historisierende Aufarbeitung von Kelsens Rechtslehre einige bemerkenswerte Einsichten in dieselbe ermöglicht. Am bedeutendsten ist wohl jene, dass Kelsen seine Lehren im Laufe der Zeit immer mehr verabsolutierte. „Hatte er ganz zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere noch eingestanden, dass seine Arbeit das Ergebnis einer wissenschaftlichen Grundentscheidung sei, so verblasste diese Einsicht im Laufe der Jahre immer mehr“ (271).

 

Bei alledem ist die Arbeit von großer gedanklicher Tiefe; der Autor zeigt fundierte Kenntnisse in Philosophie, Rechtswissenschaft und sogar Theologie. Kleinere Irrtümer bei den historischen Hintergründen (Kelsen wurde nicht schon 1918 mit der Erstellung von Vorentwürfen zur Bundesverfassung betraut und nicht erst 1921 zum Verfassungsrichter ernannt; beides erfolgte 1919) und eher belustigende Flüchtigkeitsfehler im Quellen- und Literaturverzeichnis (so wird ein Archiv angeführt, das es nicht gibt, und ein Buch, welches ich nie geschrieben habe; doch ist in beiden Fällen erkennbar, was gemeint ist) vermögen nicht, dem hervorragenden Gesamteindruck der Arbeit Abbruch zu tun.

 

Nur am Ende der Arbeit, als Korb es unternimmt, mit einigen kühnen Federstrichen den Bogen zur Gegenwart zu spannen, werden Aussagen getätigt, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen. So ist zunächst zur Feststellung, dass der „Sieg der Gegner dauerhaft“ gewesen sei (291), zu sagen, dass die Emigration Kelsens ja nicht erfolgte, weil ihm die Argumente ausgegangen waren, sondern weil er als Jude um sein Leben fürchten musste, dass also dieser „Sieg“, wenn er denn wirklich einer war, nicht mit den Waffen der Wissenschaft errungen worden war. Vor allem aber ist es unrichtig, dass heute „die Reine Rechtslehre, zumal im deutschen Sprachraum, nur ein Randphänomen“ sei (293). Dies beweist zum einen die große Bedeutung, die Kelsens Rechtslehre insbesondere an der größten und ältesten deutschsprachigen Universität, aber nicht nur an dieser, genießt (Kelsen-Forscher befinden sich nicht zuletzt auch im Herausgeberteam der „Grundlagen der Rechtswissenschaft“); vor allem aber hätten das nun schon seit über 37 Jahren tätige Hans Kelsen-Institut in Wien, und wohl auch die seit 2006 tätige Hans-Kelsen-Forschungsstelle in Erlangen zumindest eine Erwähnung verdient gehabt. Es scheint, dass sich Korb dazu hinreißen hat lassen, einen dramaturgisch wirkungsvollen Schluss zu finden.

 

Wien                                                                                                              Thomas Olechowski