Kesper-Biermann, Sylvia, Einheit und Recht. Strafgesetzgebung und Kriminalrechtsexperten in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch 1871 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 245). Klostermann, Frankfurt am Main 2009. VIII, 502 S. Besprochen von Lieselotte Jelowik.

 

Die Arbeit ist eine von Diethelm Klippel (Bayreuth) angeregte und in Gießen im Wintersemester 2007/2008 angenommene geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift. Sie versteht sich als Versuch, eine rechtshistorische Materie ideengeschichtlich aufzuarbeiten und entspricht damit dem Anliegen des Forschungsprogramms „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit – Ansätze zu einer neuen ‚Geistesgeschichte’“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in dessen Kontext die Arbeit entstanden ist. Wie sehr die Autorin sich dieser auf Ideen und deren Wirkungsweise fixierten Forschungsstrategie verpflichtet fühlt, offenbart sie bereits in der Einleitung: Die Prämissen der Arbeit entsprechen denen des DFG-Projekts. Dementsprechend ist es ihr Ziel, die „Wechselwirkungen von Ideen und Gesetzgebung im Strafrecht des 19. Jahrhunderts“ zu untersuchen (S. 5).

 

Die in 7 Kapitel gegliederte Studie beginnt mit einer knappen Darstellung von „Kriminalität und Strafrecht im 19. Jahrhundert“ (S. 15ff.), der wohl eine Einführungsfunktion zugedacht ist. Sie zielt in Inhalt und Duktus auf den Nichtjuristen und enthält neben themenrelevanten Begriffserklärungen elementare Ausführungen über Strafarten und Nebenstrafrecht. Erläutert wird ferner der Zusammenhang von materiellem Strafrecht, Strafprozess und Strafvollzug, auf den die Autorin im weiteren Verlauf ihrer Arbeit hier und da zurückkommt. Einige soziologische Angaben zur Entwicklung der Kriminalität im Untersuchungszeitraum vervollständigen das Kapitel.

 

Im 2. Kapitel nimmt Kesper-Biermann den Personenkreis in den Blick, der unter dem Begriff „Kriminalrechtsexperten“ im Untertitel ihrer Arbeit genannt ist („’Alles Recht muß gedacht sein, ehe es werden kann’ – Träger und Themen des Diskurses über die Strafgesetzgebung“, S. 53ff.). Nach einer der Geschichtswissenschaft entlehnten Definition des Experten-Begriffs erfasst sie in dieser „durchaus überschaubar(en)“ Gruppe (S. 57) vor allem Rechtswissenschaftler und Juristen im höheren Justizdienst mit jeweils besonderen Kenntnissen im Strafrecht. Deren Kommunikation, vermittelt durch persönliche Bekanntschaft und Begegnung, Briefwechsel und publizistisches Wirken in juristischen Fachzeitschriften und Rezensionsblättern, ist eine der Quellen, von denen sich Kesper-Biermann Zugang zu den themenrelevanten Ideen der Experten verspricht. Allerdings sind aus dem Briefwechsel, aus dem sie eifrig zitiert, kaum inhaltliche Aufschlüsse über strafrechtliche Ordnungsvorstellungen im Sinne des Ideen-Begriffs, den sie ihrer Arbeit zugrunde legt, zu gewinnen, weil „die wissenschaftliche Diskussion von Problemen des Strafrechts und der Strafgesetzgebung in den Briefen fast ausnahmslos fehlt“ (S. 85). Der Diskurs über das Strafrecht und seine Reform, an dem alle namhaften Vertreter des Faches beteiligt waren, vollzog sich vornehmlich in Form wissenschaftlicher Abhandlungen, von Fachgutachten zu und Kritik an Gesetzentwürfen. Dem Nachweis der wechselseitigen Bedingtheit strafrechtlichen Denkens einerseits und der Strafgesetzgebung im 19. Jahrhundert andererseits sind die folgenden Kapitel der Arbeit gewidmet.

 

Durch philosophisch fundiertes Orientierungswissen der Strafrechtsexperten vorbereitet und von ihrem Problemlösungswissen begleitet, vollzog sich die Reform des Strafrechts innerhalb eines Zeitrahmens, den Kesper-Biermann von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Jahr 1870 absteckt (3. Kapitel: „Reformen durch Recht. Strafgesetzgebung in den deutschen Einzelstaaten“ – S. 119ff.). Da sie dabei auf das Kriterium der Kodifikation abstellt,  erscheint bei ihr der Kreittmayrsche Codex iuris Bavarici criminalis von 1751 als zeitlicher Beginn des Reformprozesses, der  nach Jahrzehnten vergeblicher Anläufe und lediglich einzelnen Erfolgen (vornehmlich in Bayern in Gestalt des Feuerbachschen Strafgesetzbuchs von 1813) in den dreißiger und vierziger Jahren des Jahrhunderts eine regelrechte „Kodifikationswelle“ erfährt, in deren Ergebnis bis 1848/51 „in insgesamt acht größeren deutschen Staaten Strafgesetzbücher in Kraft traten“ (S. 146; an anderer Stelle – S. 453 – heißt es dann aber, dass „zwischen 1830 und 1848/51 .... fast alle deutschen Staaten moderne Strafgesetzbücher in Kraft setzten“).

 

Im 4. Kapitel („Die Kriminalrechtskodifikationen im Gesetzgebungsprozess der deutschen Einzelstaaten“ – S. 165ff.) demonstriert die Autorin in einem deutschlandweit angelegten Querschnitt das fünfstufige partikularstaatliche Gesetzgebungsverfahren vom Entwurf bis zum In-Kraft-Treten eines Strafgesetzbuchs. Dies geschieht unter steter Betonung des maßgeblichen Anteils der Strafrechtsexperten am Zustandekommen reformierter Strafgesetzbücher in Gestalt von Entwürfen, Gutachten, Kritiken und parlamentarischer Mitwirkung. Als exponierte, in den Gesetzgebungsprozess in besonderem Maße involvierte Experten wirkten vor allem Feuerbach, Mittermaier, Abegg, Bauer und Wächter. Kesper-Biermann schließt von daher zu Recht auf den „großen Einfluß der Wissenschaft auf die Kriminalgesetzgebung in Deutschland“ (S. 196f.), die selbst „in den Landtagsverhandlungen als Bezugsgröße einen festen Platz einnahm“ (S. 231).

 

Das 5. Kapitel leitet zu der Problematik über, auf die es Kesper-Biermann vor allem ankam und die folglich auch dem Buch zu seinem Titel verhalf („Einheit und Recht. Strafgesetzgebung und Nation in Deutschland“ – S. 235ff.). Auch hier nimmt sie das gesamte 19. Jahrhundert in den Blick mit dem Ergebnis, dass die Idee eines einheitlichen deutschen Strafgesetzbuchs auch in der ersten Jahrhunderthälfte vorhanden war, freilich „eher als Hoffnung und als fernes Ziel“ (S. 113). Zudem hatten sich im Zuge der einzelstaatlichen Kodifikationen bereits „staatenübergreifende Vereinheitlichungstendenzen“ gezeigt (S. 236). Dass es dennoch auch in und nach den eine Zäsur bildenden Revolutionsjahren von 1848/49 und trotz einer „breite(n) Front der Befürworter nationaler Gesetzbücher“ (S. 247) zunächst nicht zu der von den meisten Strafrechtsexperten erhofften Strafrechtseinheit kam, führt Kesper-Biermann auf den Vorrang anderer Bereiche der Nationalgesetzgebung und einen gewissen Vereinheitlichungsprozess des Strafrechts im Ergebnis der einzelstaatlichen Kodifikationen der dreißiger und vierziger Jahre zurück, in welche die „deutschlandweite wissenschaftliche Diskussion über die Strafgesetzgebung“ eingegangen war (S. 269). Erst mit der um das Strafrecht erweiterten Gesetzgebungskompetenz des Norddeutschen Bundes wurde binnen weniger Jahre die deutsche Strafrechtseinheit Wirklichkeit. In einem summarischen Überblick beschreibt Kesper-Biermann an dieser Stelle den Weg vom Strafgesetzbuch für die Norddeutschen Bund zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich.

 

Nach der Intention der Autorin sollte dieses Gesetzbuch „im Mittelpunkt der vorliegenden  Studie“ stehen (S. 8). Ihm sind deshalb die folgenden umfänglichen Kapitel 6 und 7 gewidmet („ Das Reichsstrafgesetzbuch: Gesetzgebungsprozess, Akteure und Motive“ – S. 297ff.; „’[...] die deutsche Wissenschaft in unerhörter Weise übergangen’? Reichsstrafgesetzbuch, Experten und Ideen“ – S. 373ff.). Kesper-Biermann reklamiert für sich, hierin „die erste systematische Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte des Reichsstrafgesetzbuches von 1871“ (S. 9) zu liefern. In der Tat sind ihre Darlegungen geeignet, gründlich mit der landläufigen Formel von einer durch Zeitdruck erzwungenen, mehr oder weniger kritiklosen Übernahme des preußischen Strafgesetzbuches von 1851 aufzuräumen, obwohl sie sicherlich nicht vordergründig darauf zielen. Es verbietet sich aus Platzgründen schlichtweg, die geradezu minutiöse Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens und seiner Ergebnisse auch nur ansatzweise  referieren zu wollen. Ihrem Anliegen, den Wechselwirkungen zwischen Ideen und Gesetzgebung nachzugehen, bleibt die Autorin auch hier treu. Am Beispiel der Auseinandersetzungen über die Todesstrafe, die Ehrenstrafen und das sogenannte Polizeistrafrecht demonstriert sie den unterschiedlich erfolgreichen Einfluss der Experten und ihrer Ideen auf das Reichsstrafgesetzbuch. Freilich ist dabei wie in der Arbeit allgemein häufig von Ideen die Rede, wo es sich allenfalls um bloße Meinungsäußerungen, nicht selten rein kontemplativer Natur, nicht aber um strafrechtliche Ordnungsvorstellungen handelt.

 

Dennoch: Die Autorin bewegt sich erstaunlich sicher auf dem der Geschichtswissenschaft zwar verwandten, aber eben doch speziellen Fachgebiet der Rechtsgeschichte. Sie lenkt mit ihrer fleißigen, verdienstvollen Arbeit die Aufmerksamkeit des Rechtshistorikers auf die von diesem aus mancherlei Gründen oft vernachlässigte Ideengeschichte als unabdingbaren Bestandteil seines Faches.

 

Leicht hat es der Leser des Buches freilich nicht. Anstelle der sonst bei Graduierungsarbeiten meist üblichen und häufig als störend empfundenen stofflichen Zergliederung hat sich Kesper-Biermann für eine „großräumige“ Systematisierung entschieden, die im Verein mit der zwangsläufig kompakten Stofffülle und der themenbedingten Häufung von Zitaten die ohnehin nicht eben kurzweilige Lektüre zusätzlich erschwert.

 

Die Arbeit ist durch Archivalien solide fundiert. Kesper-Biermann hat nicht nur die entsprechenden Bestände des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, sondern auch die diverser Landesarchive benutzt und offenbar gründlich ausgewertet. Sie konnte sich zudem auf einschlägige editorische Vorleistungen, unter anderen Werner Schuberts und J. Regges, stützen.

 

Kesper-Biermann hat ferner eine Fülle zeitgenössischer und neuerer Literatur und gedruckter Quellen beigezogen. Das entsprechende Verzeichnis umfasst mehr als 750 Titel von Büchern, Aufsätzen, Gesetzentwürfen und anderen einschlägigen Materialien. Diese überreiche literarische und Quellenbasis hat vermutlich eine Reihe von Ungenauigkeiten und Fehlern begünstigt, die sich hier und da eingeschlichen haben. So finden sich mehrfach fehlerhafte Buchtitel (z. B. HRG, S. 457; Abegg, S. 460; Feuerbach, S. 463). Mehrere von Kesper-Biermann benutzte Bücher, die als rechtshistorische Standardliteratur gelten können, sind durch neuere Auflagen längst überholt (z. B. Kleinheyer/Schröder, S. 486; Schlosser, S. 495). Ungereimtheiten finden sich leider auch im Text, so die durchaus widersprüchlichen Angaben zu Beseler (S. 381, 383 Anm. 41) und die rätselhafte, angeblich archivalisch belegte Existenz eines politisch-territorialen Gebildes Sachsen-Anhalt im Jahre 1869, das es allerdings vor 1947 gar nicht gab (S. 446 Anm. 327). Zu bedauern ist, dass der Benutzer des materialintensiven und an „handelnden“ Personen reichen Buches ohne jedes Register auskommen muss.

 

Halle (Saale)                                                   Lieselotte Jelowik