Kéry, Lotte, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 10). Böhlau, Köln 2006. XI, 754 S. Besprochen von Harald Maihold.

 

Das Buch Lotte Kérys, eine aus dem DFG-Projekt zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts entstandene Bonner Habilitationsschrift, ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten und grundlegendsten Publikationen zur kirchlichen Strafrechtsgeschichte der letzten Jahrzehnte. Obwohl sich die Autorin in Bescheidenheit kleidet und das Exemplarische ihrer Studien hervorhebt, ist nicht zu übersehen, dass wir es hier mit der ersten umfassenden historischen Darstellung des kanonischen Strafrechts seit Stephan Kuttners Kanonistischer Schuldlehre von 1935 zu tun haben. Im Unterschied zu Kuttners weitgehend dogmengeschichtlichen Untersuchung wählt Kéry einen entwicklungsgeschichtlichen Ansatz, der dem Untersuchungsgegenstand besser gerecht wird und die Eigenart der jeweiligen Quellen stärker zur Geltung bringt, dabei aber die systematischen Kriterien, die für ein öffentliches Strafrecht sprechen, nicht aus den Augen verliert.

 

Kéry geht es nicht um die Entwicklung einer eigenen Grammatik des öffentlichen Strafens, sondern sie entnimmt die Indikatoren und Unterscheidungskriterien für ein öffentliches Strafrecht, die sie ihrer Untersuchung der verschiedenen Quellen zugrunde legt, der Literatur. Dazu gehören die Abgrenzung von Buße und Strafe, die persönliche Schuld im rechtlichen Sinne als Voraussetzung für Strafe, Zweck, Maß und Grenzen des kirchlichen Strafanspruches, der Begriff der Öffentlichkeit, die Frage nach materieller Wahrheit statt formaler Beweismethoden im Strafprozess, die Unterscheidung der Vergehen gegen Individuum und Gemeinschaft sowie das Symbolische bzw. Ritualisierte der Konfliktaustragung. Das staatliche Strafmonopol und das Legalitätsprinzip, die früher die Diskussion um die Entstehung eines öffentlichen Strafrechts beherrschten (und behinderten!), werden von Kéry nicht vorausgesetzt, sondern unter dem Begriff der Öffentlichkeit selbst zum Thema der Diskussion gemacht. Diese in der Einleitung (S. 11ff) vorgestellten Kriterien werden in den vier Hauptkapiteln der Arbeit an den klassischen Quellen des kanonischen Rechts exemplarisch untersucht und überprüft.

 

Im ersten Teil beschäftigt sich Kéry ausführlich mit vorgratianischen Quellen, mit den Entscheiden der Bischöfe, Synoden und Sendgerichte, mit den Bußbüchern und Gottesfrieden (S. 16ff). Gestützt auf die bisherige Forschung, die sie durch zahlreiche Detailbeobachtung zu ergänzen und zu berichtigen weiß (weshalb dieser Teil als besonders gelungen und lesenswert bezeichnet werden darf!), zeichnet Kéry für die Zeit bis ins 12. Jahrhundert ein vielschichtiges und differenziertes Bild, bei dem sich trotz aller Einschränkungen und Unklarheiten bereits ein bestimmender Einfluss der Kirche auf das öffentliche Strafrecht abzeichnet. Die Sondergerichtsbarkeit der Kirche tritt auch im Bereich der Strafverfolgung gegen Laien schon früh in Konkurrenz mit der königlichen Strafrechtspflege, ja sie scheint dieser oft sogar überlegen und daher höchst willkommen gewesen zu sein. Der Strafprozess zeigt bereits gelegentlich Elemente des späteren Inquisitionsprozesses. Gleichwohl geht es dieser Zeit eher um die Friedenswahrung und die Wiederherstellung der gestörten Ordnung als um die Ahndung einer individuellen Schuld. Freiwillige Bußen, Zwangsbußen, Beugestrafen und Vindikativstrafen sind noch kaum voneinander unterschieden und oft austauschbar.

 

Für den zweiten Teil, der dem Dekret Gratians gewidmet ist (S. 234ff), beschränkt sich Kéry leider im Wesentlichen auf die Causa 23, q. 4-6, so dass etwa die für die Kollektivhaftung wichtige Passage über die Bestrafung des Sohnes für den Vater (Dict. vor C. 1, q. 4, c. 1) gar nicht, diejenige über die Exkommunikation einer Gesamtheit (Dict. vor C. 24, q. 3, c. 1) erst im vierten Teil der Arbeit (S. 623) Erwähnung finden.[1] Dafür wird aber die umfangreiche Glossen- und Summenliteratur mit berücksichtigt. Auch dem Dekret Gratians ist eine strafrechtliche Systematik noch fremd. Den mehr praktischen Inhalten der früheren Quellen stehen bei Gratian aber bereits mehr wissenschaftliche, moraltheologisch geprägte Fragestellungen gegenüber, etwa nach der Legitimation einer kirchlichen bzw. öffentlichen Strafgewalt überhaupt, nach der Vereinbarkeit einer Vindikativstrafe mit dem christlichen Liebesgebot, nach der Vereinbarung schwerer Körper- oder Todesstrafen mit dem biblischen Tötungsverbot oder nach der Weiheuntauglichkeit als strafähnlicher kirchlicher Sanktion. Der öffentliche Strafanspruch steht bei Gratian im Zusammenhang mit dem Verständnis des Verbrechens als eines gegen die Kirche als Institution und ihre Vertreter gerichteten und deshalb besonders schweren Unrechts. Da Gratian die Strafgewalt nicht aus der Rache, sondern umgekehrt gerade aus der Liebe zum Sünder heraus legitimiert, gewinnt die „Öffentlichkeit“ von Verbrechen und Strafe erheblich an Bedeutung. Sehr erhellend sind auch Kérys Ausführungen zum Toleranzbegriff bei Gratian und den Dekretisten (S. 268ff), der auf die körperliche Duldung des Sünders beschränkt war. In der Bestrafung des Sünders nimmt die Kirche jetzt noch entschiedener Einfluss auf die weltliche Gerichtsbarkeit, deren erweiterten Sanktionsapparat sie sich zunutze macht, ihn jedoch zugleich auf die kirchliche Zielrichtung der Strafe verpflichtet.

 

Der dritte Teil beschäftigt sich mit der frühen Dekretalistik, namentlich mit den Sammlungen Bernhards von Pavia sowie den Summen des Hostiensis und Innozenz’ IV. (S. 361ff). Kéry zeigt, wie das kirchliche Strafrecht durch die wissenschaftliche und systematische Durchführung in zahlreichen Einzelfragen Akzentverschiebungen erfährt. Die Vindikativstrafe wird erstmals ganz klar von der Buße, dem Schadenersatz und von der ordinationsrechtlichen Irregularität abgegrenzt. Bei Strafzwecken ist eine Wende von der Besserung zur Sühne und Abschreckung, im Strafprozess zur Inquisitions- und Offizialmaxime erkennbar. Aufschlussreich sind die Ausführungen zur Teilnahmelehre und zur Ermessensstrafe, die beide durch die Relevanz subjektiver Tatsachen die große Nähe des kirchlichen Strafrechts zum Beichtwesen offenbaren. Besondere Aufmerksamkeit widmen die hier behandelten Texte auch dem Verzicht auf den kirchlichen Strafanspruch oder zumindest auf seine Durchsetzung bei einer von einer Vielzahl von Sündern begangenen Sünde. Gerade in der Diskussion um einen Dispens bewegt sich das kirchliche Strafrecht spannungsreich zwischen dem rigor iuris und der christlichen Barmherzigkeit, wobei sich die Kirche angesichts einer sich entwickelnden öffentlichen Strafrechtspflege zunehmend auf ein dem Barmherzigkeitsgedanken verpflichtetes Klerikerstrafrecht zurückzuziehen scheint.

 

Mit dem Liber Extra, der Dekretalensammlung Raymundus von Peniafortes, der unter Gregor IX. offiziell promulgiert wurde und mit dem sich Kéry im vierten und letzten Teil ihrer Arbeit ausführlich auseinandersetzt (S. 522ff), erreicht das kanonische Strafrecht seinen Höhepunkt. Nachdem die grundlegenden Prinzipien bereits diskutiert waren, stehen im Liber Extra und in der späteren Dekretalistik Detail- und Grenzfragen des kirchlichen Strafanspruches im Mittelpunkt, etwa die Behandlung bekehrter Häretiker, die Bestrafung der Kindesaussetzung und der Blasphemie sowie im Strafprozess die Wende von der Akkusation zur Inquisition und zum Zeugenbeweis, der weitere Fragen einer verleumderischen Anklage oder der Behandlung verdächtiger Zeugen heraufbeschwor. Der öffentliche Strafanspruch der Kirche wird in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, etwa dadurch, dass nun alle Verbrechen als öffentlich gelten und ein Vergleich der Parteien nicht mehr zugelassen, ja sogar als Strafvereitelung pönalisiert wird. Er stößt aber angesichts einer sich entwickelnden weltlichen Strafgerichtsbarkeit auch an die Grenzen seiner Durchsetzbarkeit, weshalb die Kirche in einem „geordneten Rückzugsgefecht“ Strafautorität an die weltlichen Gewalten abtreten muss, dabei aber weiterhin versucht, ihnen die Bedingungen der Strafe zu diktieren.

 

Der Beitrag des Kirchenrechts auf die Entstehung eines öffentlichen Strafrechts wird allein anhand kirchenrechtlicher Quellen untersucht. Für den Einfluss dieser Quellen auf die im 13. Jahrhundert entstehende legistische Strafrechtswissenschaft verweist Kéry am Ende lediglich auf eine frühere Publikation[2] zu Albertus Gandinus, deren Ergebnisse kurz angerissen werden (S. 685ff).

 

Durch die quellennahe Behandlung der Thematik gelingt es Kéry, der Gefahr anachronistischer Vorverständnisse, wie sie der Gebrauch moderner Abgrenzungskategorien zwangsläufig mit sich bringt, wirkungsvoll zu begegnen. Es entsteht ein dynamisches, sehr differenziertes und wenig schablonenhaftes Bild, in dem von einem systematisch ausgebildeten öffentlichen Strafrecht im mittelalterlichen Kirchenrecht noch keine Rede sein kann. Es überwiegt vielmehr das Kasuistische, Konkrete, Praktische, Spontane; Widersprüche bleiben ungelöst nebeneinander bestehen und führen zu dem, was man mit Ernst Bloch die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ genannt hat. Aber auch in dieser Kasuistik entdeckt Kéry eine Strafrechtsordnung von „spezifische[r] eigene[r] Architektur“ (S. 685), in der Behandlung konkreter Probleme kristallisieren sich ganz allmählich die Elemente eines öffentlichen Strafrechts heraus. Dass sich diese Elemente in dem von Kéry untersuchten Zeitraum noch nicht oder allenfalls ansatzweise zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lassen, kann der Autorin nicht vorgeworfen werden. Es wird der Anstrengungen einer jedenfalls zu Beginn maßgeblich von der Theologie beeinflussten Rechtswissenschaft im 15. bis 18. Jahrhundert bedürfen, um die Praxis zu ordnen und aus den konkreten Fragestellungen ein „öffentliches Strafrecht“ von systematischer Kohärenz zu formen.

 

Mit Kérys Buch verfügt die Strafrechtsgeschichte über eine neue Referenz zum kirchlichen Strafrecht im Mittelalter, das die Forschung um wichtige Erkenntnisse bereichert.

 

Basel                                                                          Harald Maihold



[1] Vgl. dazu ergänzend Harald Maihold, Strafe für fremde Schuld? Die Systematisierung des Strafbegriffs in der spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre, 2005, S. 180ff. m. w. N.

[2]  Lotte Kéry, Albertus Gandinus und das kirchliche Strafrecht, in: Festschrift für Dietrich Lohrmann, hg. v. Horst Kranz/Ludwig Falkenstein, 2002, S. 183ff.