Jüngerkes, Sven, Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941-1945. Eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen (= Historische Kulturwissenschaft 15). UVK, Konstanz 2010. 575 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Wie der Untertitel des Werkes zeigt, geht es Jüngerkes nicht primär um eine in sich geschlossene Geschichte der deutschen Besatzungsverwaltung in Lettland, sondern um den Versuch, „einen kommunikations- und kulturgeschichtlichen Überblick über die Tätigkeit und die Funktionsweise der Zivilverwaltung in Lettland zu geben“ (S. 14). Die hierzu erforderlichen Theorieangebote entnimmt Jüngerkes „aus dem Umfeld der funktional-strukturellen Systemtheorie von Niklas Luhmann und des prozesstheoretischen Ansatzes von Karl Weick“ (S. 15), die für die Analyse historischer Phänomene fruchtbar gemacht werden sollen. Zunächst bringt Jüngerkes nach einem kurzen Abriss der Geschichte des Baltikums vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg (S. 33-60) einen Überblick über die Konstituierung, den Aufbau und die Struktur der Zivilverwaltung sowie über die mit ihr konkurrierenden oder kooperierenden deutschen Behörden und Dienststellen in Lettland und insbesondere in Riga. Die Zivilverwaltung unterstand dem Ostministerium unter Alfred Rosenberg, dessen Begründung am 17. 7. 1941 erfolgte, jedoch erst am 18. 11. 1941 der Öffentlichkeit bekanntgemacht wurde (S. 96ff.). An der Spitze der Verwaltung stand der Reichskommissar für das Ostland, der Oberpräsident und Gauleiter von Schleswig-Holstein Hinrich Lohse; ihm unterstanden als Mittelinstanz die unmittelbar von Hitler ernannten Generalkommissare (für Lettland Otto-Heinrich Drechsler) und diesen wiederum die Gebietskommissare. Gebietskommissar und zugleich Bürgermeister von Riga war Hugo Wittrock, ein Deutschbalte, der lettisch, estnisch und auch russisch sprach. Als Konkurrenten bzw. Partner im Reichskommissariat (S. 142ff.) traten auf die Dienststellen der SS und der Polizei, die vor allem für die fast völlige Vernichtung der Juden im Baltikum verantwortlich waren (S. 417ff.), der Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums (Himmler), die Dienststellen der Wehrmacht, die Wirtschaftsverwaltungsbehörden (S. 168ff.) und u. a. der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Sauckel (S. 198ff.). Den zweiten Hauptteil des Werkes bilden Fallstudien zur Arbeitsweise der Zivilverwaltung im Krieg (Rang- und Disziplinarprobleme, Streit über die Verwaltungszuständigkeiten von Riga; Verwaltungsreformen einschließlich der Reformprojekte; „Mitgliedschaftserwartungen“ am Beispiel des Arztes und Leiters der Abteilung Volkspflege im Generalkommissariat von Riga; Konflikte mit der Wehrmacht und der SS sowie Konflikte Lohses mit dem Generalkommissar von Reval [Tallin]; zumindest mittelbare Beteiligung der Verwaltung am Holocaust). Den Abschluss des Werkes bildet das Kapitel über das Ende des „Ostlandes“ (S. 504ff.) und das „Fazit“ (S. 537), in dem Jüngerkes darauf hinweist, dass es „weder einen strategischen Gesamtplan der Reichsführung gab, noch im Ostministerium ein Konsens über die Zukunft des Baltikums existierte“ (S. 537). Es konkurrierten miteinander Modelle einer langfristigen Eindeutschung des Baltikums und der Gewährung einer abgestuften Autonomie, von denen keines, von geringen Zugeständnissen gegenüber der lettischen Landesverwaltung abgesehen, auch nur im Ansatz in Angriff genommen wurde. Es ist hier nicht der Ort, auf die im Ganzen überzeugenden Ergebnisse der Untersuchungen von Jüngerkes für die Kommunikations- und Kulturgeschichte der Zivilverwaltung in Lettland und deren Einordnung insbesondere in die nationalsozialistische Verwaltungsgeschichte näher einzugehen. Im Ganzen wäre es nützlich gewesen, wenn Jüngerkes den Leser etwas detaillierter über die normativen Grundlagen der Zivilverwaltung unterrichtet hätte (insbesondere über den Inhalt der sog. Braunen Verordnungs-Mappe vom September 1941 [vgl. S. 111] und über weitere grundlegende Verordnungen). Nicht Gegenstand der Untersuchungen von Jüngerkes waren die Struktur und die Inhalte der landeseigenen Verwaltung, an deren Spitze lettische Generaldirektoren standen (S. 271ff.). In diesem Zusammenhang ist insbesondere für den Rechtshistoriker wichtig die Frage, auf welcher Basis die lettische Justiz in der Besatzungszeit in Abgrenzung zur deutschen Justiz arbeitete. Bedauerlich ist, dass das Werk im Hinblick auf die zahlreichen Kurzbiographien über wichtige Akteure der Zivilverwaltung kein Personenverzeichnis enthält. Auch ein Sach- und Ortsregister wäre hilfreich gewesen. Insgesamt liefert das vor allem im Hinblick auf den mörderischen Antisemitismus und die wenig wohlwollende Behandlung der Letten bedrückend zu lesende Werk auch für den Rechtshistoriker wichtige Aufschlüsse über die nationalsozialistische Besatzungsverwaltung, deren vergleichende Gesamterschließung noch immer aussteht.

 

Kiel

Werner Schubert