Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute, hg. v. Temme, Gaby/Künzel, Christine (= Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung 6). transcript Verlag, Bielefeld 2010. 275 S. Besprochen von Hiram Kümper.

 

Die Frage, die der Titel aufwirft, wird gleich zu Anfang als rhetorische decouvriert: „Recht ist kein geschlechts­neutraler Diskurs.“ (S. 1) An dieser Einsicht arbeitet sich der vorliegende Band ab, der sie aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven immer neu bestätigt. Dass das ein bisschen zirkulär angelegt ist, dass nämlich hier die Beiträge Belege für eine bereits ganz zu Anfang als unumstößlich festgeschriebene Einsicht (und nicht etwa beispielsweise Schlussfolgerungen daraus) gleichsam nachliefern, ist argumentativ nicht sehr elegant, tut aber der Sache keinen Abbruch – denn illustrativ sind diese Beiträge für die Analyse eines eben nicht geschlechtsneutralen Strafrechtsdiskurses allemal. Nach einer Einleitung der beiden Herausgeberinnen (S. 1-26), die über längere Jahre gemeinsam als Sprecherin der Sektion „Genderperspektiven“ der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK) gewirkt haben, und einem grundsätzlichen Referat der Soziologin Gerlinda Schmauss über Stand und Perspektiven der Frage nach dem „Geschlecht“ im Strafrecht (S. 27-56) – eine Expertise, für die sie sich in den letzten Jahren durch mehrere eigene Arbeiten bestens ausgewiesen hat – beleuchten elf Fallstudien unterschiedliche Blick­winkel dieses Problemfeldes. Neben Rechtswissenschaften und Kriminologie sind auch die Soziologie, Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaften vertreten. Entsprechend divers fallen auch die Beiträge aus. Sie gehen offenbar – ohne, dass das abseits eines Dankes an die Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmer (S. 20) irgendwo explizit gemacht würde – auf eine gemeinsame Tagung zurück und sind in fünf Themenfeldern gruppiert. Das erste befasst sich mit „Kindsmord und Abtreibung“ und damit mit zwei traditionell geschlechtlich konnotierten Delikten. Einen Einblick in den Kindsmorddiskurs des 18. Jahrhunderts legt Annika Lingner (S. 59-77) vor. Ihr Material ist dabei vornehmlich literarischer Höhenkamm; die Juristen selbst kommen vergleichsweise wenig zur Sprache. So wird man dann auch in diesem Beitrag nicht viel Neues finden können – zugegebenermaßen auch eine Anforderung, die angesichts der mittlerweile in großer Zahl und Spannbreite vorliegenden Literatur zum Thema nicht ganz einfach einzulösen ist. Mit viel weniger aufgearbeiteten, aber auch uns zeitlich noch viel näheren „Kindsmorddiskursen“ beschäftigt sich David James Prickett (S. 79-97), der Täterinnenstereotypen in der Berichterstattung über „ost­deutsche Rabenmütter“ vor und nach 1989 nachspürt. Das betrifft Abtreibungen ebenso wie Kindstod durch Verwahrlosung. Seine spannende These lautet: hier werden auch unterschied­liche Konzepte von Mutterschaft verhandelt. Es folgt die Sektion zum Thema „Sexualstrafrecht“. Der Beitrag Susanne Hehenbergers (S. 101-118) zum Zusammenspiel von Sexualstrafrecht und Geschlechterordnung im frühneuzeitlichen Österreich zeichnet zum einen die Rechtsentwicklung vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts nach, zeigt zum anderen aber besonders die Subtexte und kulturellen Skripte auf, die in die Strafvorschriften eingeschrieben waren. Vieles davon kann man auch in der lesenswerten Dissertation der Verfasserin (Unkeusch wider die Natur. Sodo­mieprozesse im frühneuzeitlichen Österreich, Wien 2006) nachlesen, ist aber hier handlich verdichtet. Einen ausgesprochen interessanten Beitrag zur Historisierung des Vergewaltigungs­delikts legt Isabel Kratzer vor (S. 119-137) – das allerdings vor allem in analytischer, nicht so sehr in historischer Hinsicht. Da wäre der Historiker eher geneigt, solchen allzu ungebrochenen Kontinuitätserzählung entgegen­zuhalten, dass das Problem ja durchaus immer einmal wieder gesehen worden ist; von Juristen und auch im Zusammenhang mit Gesetzesinitiativen. Der Rezensent erinnert nur an die Diskussion um das preußische Strafgesetzbuch in der Mitte des 19. Jahrhundert (also in genau jenem Umfeld August Heffters, das auch Kratzer zitiert), wo es heißt: „Das Kriterium der unwiderstehlichen Gewalt, welches das ältere Recht (§. 1052 Th. II. Tit. 20 des Allgemeinen Landrechts) aufstellte, ist in die Definition des Verbrechens der Nothzucht […] nicht aufgenommen. Dasselbe hat nach den gemachten Erfahrungen sich als völlig unpraktisch erwiesen, indem eine wirkliche Unwiderstehlichkeit der zur Verübung der Nothzucht angewendeten Gewalt in den seltensten Fällen sich hat beweisen lassen. Der hier gebrauchte Ausdruck ist dem wahren Begriffe des Verbrechens angemessen. Der Richter wird in jedem einzelnen Fall beurtheilen, ob die angewendete Gewalt oder Drohung eine solche gewesen, durch wel­che in der That der Zwang verübt worden ist.“ (Entwürfe des Strafgesetzbuchs für die preußischen Staaten und des Gesetzes über die Einführung desselben, Berlin 1851, S. 38). Wie wenig sich das freilich auf die Praxis der Rechtsprechung ausgewirkt hat, dokumentiert Kratzer mit vielen Beispielen. Die dritte Sektion befasst sich in zwei Beiträgen mit dem Thema „Strafvollzug“. Torsten Sander untersucht in seiner Analyse von Bücherverzeichnissen für Strafvollzugsanstalten der Spätweimarer Zeit die darin angelegte Geschlechterpädagogik (S. 141-161) und weist auf, dass vor allem Frauen durch die Leseempfehlungen gewisse Rollenbilder vorgehalten werden sollten. Die empirische Basis ist mit zwei gegeneinander verglichenen Verzeichnissen noch ziemlich schmal; der Weg für eine größer angelegte Analyse, die sicher sehr aufschlussreich wäre, aber mit diesem Beitrag überzeugend aufgezeigt. Gefolgt wird er von einem knappen Resümee der quantitativ und qualitativ angelegten Analyse der Korrespondenzen von Haftinsassinnen mit dem Strafvollzugsarchiv aus den Jahren 1999 bis 2009 von Johannes Feest (S. 163-173). Beim Strafvollzugsarchiv handelt es sich um eine „Dokumentation von und Aufklärung über Recht und Rechtswirklichkeit in Gefäng­nissen“ (S. 163), zugleich aber auch eine Anlaufstelle von inhaftierten Männern und Frauen sowie deren Angehörigen, die mit Fragen an das Archiv herantreten. Gefolgt werden diese beiden Beiträge von einer weiteren historischen Sektion, die sich „Geschlecht und Strafrecht im NS-Staat“ zuwendet. Am Beispiel der Urteile des Volksgerichtshofes gegen die als „Saefkow-Jacob-Bästlein“ bekannte kommunistische Widerstandsgruppe untersucht Karen Holtmann die Rolle des Geschlechts bei der Beurteilung von oppositionellem Verhalten vor Gericht (S. 177-194). Im Rahmen des Prozesses wurde 1944 Anklage gegen insgesamt 186 Männer und 37 Frauen erhoben. Das waren, gemessen an Anteil der weiblichen Mitglieder an der Gesamt­organisation vergleichsweise wenige Frauen; noch weniger wurden letztlich zum Tode verurteilt. Besonderes Augemerk legt Holtmann auch auf die Selbst­darstellung der Frauen vor Gericht. Sie kann dabei an einem spannenden Fallbeispiel zeigen, wie die Grenzen zwischen politischem und unpolitischem Handeln von den beteiligten Akteuren (Richtern wie Angeklagten) mittels Geschlecht ausgespielt wurden. Daran schließt sich thematisch sehr passend der Beitrag Michael Löffelsenders an, der sich mit alltäg­licheren Gerichtsurteilen, erhoben aus dem Material des Oberlandesgerichtsbezirks Köln, auseinander­setzt (S. 195-209). Auch er kommt zu dem Schluss, dass Geschlechterrollen und deren Erfüllung einen großen Einfluss auf die strafrechtliche Sanktionierung hatten. Die letzte Sektion umfasst – im Gegensatz zu den vorhergehenden – nicht zwei, sondern drei Beiträge; sie widmet sich dem sehr allgemein formulierten Thema „Strafrecht, Kriminalität und Gesellschaft“ (worunter sich im Grunde auch alle anderen Beiträge des Bandes hätten subsumierten lassen). Der Beitrag Martin Lückes über die Sanktionierung jugendlicher Prostitution in der Weimarer Republik (S. 213-227) befasst sich im Wesentlichen mit dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1922/1924 und fällt damit streng genommen überhaupt nicht in den Bereich des Strafrechts, weist aber sehr spannende Einsichten in das Funktionieren von „doing gender“ vor Gericht aus. Dagmar Oberlies und Jutta Elz befassen sich mit unterschiedlichen „Lesarten“ von „Kriminalität, Geschlecht und amtliche[r] Statistik“ (S. 229-253). Sehr überzeugend können sie aufzeigen, wie die Herangehensweise an amtliche Kriminalstatistiken den wahrgenommenen Platz des Geschlechts im Straf­recht bestimmen kann; bei einer differenzierten Betrachtung, so ihr Fazit, spiele Geschlecht zumindest bei den von ihnen gewählten Schwerpunkten (Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung, Selektion und Sanktion, Opferrisiko und Kriminalitätsfurcht) keine nennenswerte Rolle. Dass dieser Beitrag aus einem Projekt der Verfasserinnen gemeinsam mit Studierenden hervorgegangen ist, verdient m. E. besondere (positive) Erwähnung. Der abschließende Beitrag Martina Althoffs (S. 255-268), die den Herausgeberinnen in ihr Amt bei der GiwK gefolgt ist, fasst noch einmal sehr handlich das im deutschsprachigen Raum noch vergleichsweise neue Konzept „Inter­sektionalität“ und seine Bedeutung für die kriminologische Forschung zusammen und kommt zu dem Schluss, Intersektionalität stelle für „eine Analyse der Genderperspektive des Strafrechts […] die einzige, aber innovative Perspektive dar.“ (S. 266). Ein bisschen vernachlässigt wird darüber die Kritik, die ja durchaus schon vorgelegt worden ist; Judith Butler beispielsweise hat schon in „Gender Trouble“ (1990, S. 143) auf das „embarassed 'etc.'“ vieler Ka­te­go­rien­kataloge hingewiesen, die versuchen, Identitätsmarker für Differenz- und Diskriminie­rungsdiskurse zusammenzustellen – Althoff weist auf unterschiedliche solcher Kataloge hin (S. 265), problematisiert aber die dahinter lauernde Beliebigkeit nicht.

 

Bielefeld                                                                                             Hiram Kümper