Fried, Johannes, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, 3. Aufl. Beck, München 2009. 606 S., 70 Abb. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Es kommt selten vor, dass ein Buch über das Mittelalter ein großes Publikum fasziniert und innerhalb kürzester Zeit drei Auflagen erlebt (eine vierte als Taschenbuch ist in Vorbereitung). Die meisten Bücher dieser Art richten sich in aller Regel an mehr oder weniger fachkundige Leser, vor allem aber an Historiker aller Fachrichtungen, nicht hingegen an einen großen Kreis historisch interessierter Personen. Insofern ist das vorliegende Buch des renommierten, inzwischen emeritierten Inhabers des Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt am Main eine absolute Ausnahme. Fried ist es gelungen, nicht nur eine geschlossene Darstellung von tausend Jahren europäischer Geschichte vom 6. bis zum 16. Jahrhundert zu liefern, sondern vor allem eine Schilderung der kulturellen Evolution, die sich in diesem Zeitraum abgespielt hat, mit all ihren Facetten zu präsentieren. Das Buch zeichnet sich durch eine souveräne Beherrschung der Fakten ebenso aus wie durch die Kunst lebendiger Darstellung der Zusammenhänge, ohne in unreflektierte narrative Aufzählung abzugleiten.

 

Von besonderem Interesse für den Rechtshistoriker ist zunächst das neunte Kapitel, das Fried mit dem zugkräftigen Titel „Triumph der Jurisprudenz“ versehen hat und in dem er die Funktion der Jurisprudenz als Instrument der Stabilisierung der Macht, insbesondere der von Königen und Kaisern, beschreibt. Zu Recht weist er hier darauf hin, dass die Universitäten als Zentren der damaligen Wissenschaft, namentlich der gelehrten Jurisprudenz, einen immer größer werdenden Einfluss auf die weltliche Herrschaftsausübung gewannen und das Bemühen um rationale Begründung einer stabilen inneren Ordnung wie auch um die Legitimation der äußeren Politik nachhaltig förderten. Als Musterbeispiel wird in diesem Zusammenhang Friedrich II. von Hohenstaufen und dessen Organisation des Königreichs Sizilien hervorgehoben, aber auch die Versuche dieses Herrschers, die innere Ordnung im deutschen Reich auf eine neue rationale Basis zu stellen. Vor allem die sizilische Gesetzgebung wird von Fried als Beleg für den Einfluss der gelehrten Jurisprudenz angeführt, nachdem diese Gesetzgebung, die immerhin bis in das 19. Jahrhundert geltendes Recht blieb, erkennbar durch die Mithilfe von gelehrten Juristen Bologneser Provenienz ausgearbeitet worden war. Für deren Ausbildung hatte Friedrich bekanntlich 1224 die Universität Neapel gegründet, auch und nicht zuletzt um ein Gegenwicht gegen die Dominanz der oberitalienischen Zentren des gelehrten juristischen Studiums zu schaffen.

 

Als zweites für den Rechtshistoriker bedeutsames Kapitel ist das elfte Kapitel hervorzuheben, das Fried mit dem Titel „Die Monarchie“ versehen hat, obschon sein erster Abschnitt vom Zerfall des Imperiums handelt. In ihm beschreibt er die Herrschaft Karls IV., den er zu Recht als den „europäischsten“ der mittelalterlichen deutschen Kaiser charakterisiert, der selbst Karl den Großen in seiner europäischen Orientierung übertroffen habe und von dem Fried meint, daß er in besonderem Maße und bewusst die karolingische Tradition erneuert und befestigt habe. Zu Recht widmet Fried dem für die Geschichte der Reichsverfassung wichtigsten Ereignis in der Regierungszeit Karls IV., der Verkündung der Goldenen Bulle von 1356, eine ausführliche Darstellung, in der Anlass, Entstehungsgeschichte, Inhalt und verfassungsrechtliche Bedeutung dieses ersten Reichsgrundgesetzes eingehend erörtert werden. Zutreffend weist Fried in diesem Zusammenhang auch auf den im selben Jahr geschlossenen Herrschaftsvertrag von Brabant, der „Joyeuse Entreé“ hin, mit der die brabantische Erbfolge geregelt wurde, in der im Vergleich zur Goldenen Bulle eine deutliche Begrenzung der Herrschaftsrechte des Landesherrn fixiert wurde.

 

In einem Epilog setzt sich Fried schließlich noch mit dem überlieferten Bild des Mittelalters, seinen Wandlungen im Verlauf der Jahrhunderte bis hin zur Gegenwart auseinander, das auch heute noch vielfach von der Vorstellung des „finsteren Mittelalters“ beherrscht wird, in dieser Gestalt nicht nur die Stammtische dominiert, sondern auch in der gehobenen Publizistik anzutreffen und zu einem geflügelten Wort der deutschen Umgangssprache geworden ist. Tatsächlich war das Mittelalter eine Zeitspanne vielfacher politischer Bewegung und spannender geistiger wie kultureller Erneuerung, in der die Grundlagen des heutigen Europa geschaffen wurden. Ohne das Mittelalter hätte es die heutige politische Ordnung Europas, ja nicht einmal Europa als Kontinent gegeben, hätte keine Christianisierung Europas, keine Rezeption des römischen Rechts, der antiken Philosophie, der antiken Literatur und Kunst, überhaupt des antiken Wissens und des antiken Bildungswesens, mit einem Wort keine Rezeption des antiken Erbes stattgefunden, von dem die Entwicklung sämtlicher nachfolgenden Jahrhunderte gezehrt hat und von dem auch unsere heutige Welt trotz schwindenden historischen Bewusstseins noch immer beherrscht wird. Das Mittelalter als eine faszinierende Epoche der europäischen Geschichte beschrieben und in ihrer Bedeutung für die Gegenwart überzeugend dargestellt zu haben, ist das besondere Verdienst des Verfassers und seines Buches.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann