„Fackelträger der Nation“. Elitebildung in den NS-Hochburgen, hg. v. vogelsang ip gemeinnützige GmbH. Böhlau, Köln 2010. 249 S., 48 Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Der Truppenabbau in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges zeitigt mitunter eigenartige erinnerungspolitische und geschichtswissenschaftliche Ergebnisse: So räumte die belgische Armee 2005 die von ihr bis dahin als Kaserne genutzte, südwestlich von Köln gelegene, ehemalige Ordensburg Vogelsang der NSDAP, was die Frage nach der weiteren Nutzung des weitgehend erhaltenen Schulungsortes auf die Tagesordnung setzte. Inzwischen steht fest, dass die rund 100 Hektar große, denkmalgeschützte Anlage zu einem Ausstellungs- und Bildungszentrum umfunktioniert werden wird, dies alles unter dem zeitgeistigen Label „vogelsang ip – Internationaler Platz im Nationalpark Eifel“. Im Zuge der Umgestaltungsarbeiten fanden Anfang April 2009 die ersten „Internationalen Vogelsang-Tage“ statt, deren Referate der hier vorzustellende Sammelband im Druck vorlegt.

 

Wenn, wie im vorliegenden Fall, Forschungsimpulse primär von den Notwendigkeiten der Denkmalpflege bzw. der Gedenkstättengestaltung ausgehen, besteht die Gefahr der Isolierung bzw. der Konzentration auf den im Fokus stehenden Ort. Einer solchen Engführung kann auch dieser Sammelband nur teilweise entkommen, denn entgegen dem Buchtitel geht es in den Beiträgen ganz überwiegend um Vogelsang und nicht um die NS-Ordensburgen insgesamt. Die ebenfalls erhaltenen und nach wie vor militärisch genutzten Anlagen Sonthofen im Allgäu und Krössinsee in (Pommern bzw.) Polen spielen in dem Band nur eine sporadisch zu Vergleichszwecken herangezogene, bescheidene Rolle.

 

Wie bei Sammelbänden häufig zu beobachten, sind die darin versammelten Beiträge sehr heterogen, was sich hier schon an deren Umfang ablesen lässt: Der kürzeste umfasst gerade vier, der längste 63 Druckseiten, davon allein 26 Seiten Anmerkungen. Die etwas konfuse Einleitung Jost Dülffers führt nicht in das Thema ein, sondern springt zwischen unterschiedlichsten Fragen hin und her, darunter einer Erörterung des Problems, ob man NS-belastete Begriffe wie Ordensburg und andere mit oder ohne Anführungszeichen zu schreiben habe. Richtigzustellen ist die mit den Rechenkünsten des Rezensenten nicht nachvollziehbare Behauptung, die Vermehrung der Wehrmacht von sieben auf 102 Divisionen (1933-1939) bedeute „eine Vergrößerung um das 42fache“ (S. 16).

 

Franz Albert Heinen ordnet in seinem dem „System der NS-Ordensburgen“ gewidmeten Beitrag diese vor allem von Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Führer der Deutschen Arbeitsfront, forcierten neuen Ausbildungsstätten in die nach 1933 dringend gewordenen Bemühungen der Partei ein, sowohl vorhandene Kader (weiter) zu bilden und als auch Nachwuchspflege zu betreiben, mithin die als „Fackelträger der Nation“ verklärte künftige Parteielite zu formen. Wolfgang Keim beleuchtet sodann auf breiter Materialgrundlage, in welch hohem Maße – von Ausnahmen abgesehen – die Weimarer Pädagogik viele Kernelemente der NS-Ideologie bereits vorweggenommen hatte und wie leicht sich daher das Regime ab 1933 tat, die Erziehungswissenschaft und deren Einrichtungen in den neuen Staat zu inkorporieren. Hans-Ulrich Thamers Beitrag widmet sich „Anspruch und Wirklichkeit in den Eliteeinrichtungen des NS-Bildungssystems“, das durch überaus heterogene Konzepte und eine dementsprechende, keineswegs auf einen Nenner zu bringende Praxis gekennzeichnet war. Thamer warnt daher: „Jeder Versuch einer nachträglichen Systematisierung der NS-Erziehungsvorstellungen gerät darum sehr leicht in die Gefahr der Überrationalisierung“ (S. 90).

 

Unter der Überschrift „Nackte Helden“ beleuchtet Christina Threuter die Bildsprache von Architektur und Inneneinrichtung der Ordensburg Vogelsang. Die Lesbarkeit dieser interessanten Beobachtungen leidet bedauerlicherweise unter einer kulturwissenschaftlichen Newspeak; vieles hätte man gewiss auch einfacher formulieren können. Eine gute und besser lesbare Ergänzung hierzu liefert Dieter Bartetzko mit seiner Einordnung der Burg in die Baukunstgeschichte und den zeitgenössischen Film.

 

„Vogelsang in der Region“ von Thomas Roth und Stefan Wunsch ist der zentrale, mit Abstand längste Beitrag des Bandes (rund ein Viertel des Umfanges) und hätte als Forschungsbilanz und Forschungsausblick besser an den Anfang oder das Ende gepasst. Die beiden Autoren entwerfen eine beeindruckende Fülle möglicher Fragestellungen, wobei es insbesondere um die Einbindung der Ordensburg in die Region Eifel geht. Diese Einbindung war gekennzeichnet durch eine Fülle lokaler Beziehungsgeflechte, unter denen der Versuch des Regimes herausragt, mit der Burg einen bewussten politischen und ökonomischen Impuls in einer einerseits prononciert katholischen, andererseits extrem strukturschwachen, ja armen Gegend zu setzen; die Verfasser kennzeichnen dies als „Eifel-Investment“ (S. 171). Zu beachten sind ferner die intendierten Ausstrahlungen der Ordensburg inmitten des als bedroht wahrgenommenen, westlichen Grenzgebietes des Reiches sowie die vielfältigen Einwirkungen lokaler und regionaler Gaueliten und Gaucliquen. Dieser exzellente Beitrag zeigt zugleich auf, welche spannenden Erkenntnisse heute noch durch systematische Auswertung von Quellen wie Presseberichte, Zeitzeugeninterviews usw. gewonnen werden können. Eine Fundgrube ist auch die auf 26 Seiten Anmerkungen zitierte, oftmals an entlegenen Orten publizierte Literatur, die in einer Gesamtbibliographie freilich übersichtlicher hätte präsentiert werden können.

 

Mit Kriegsbeginn zogen die Ordensjunker an die Front, von wo zwei Drittel von ihnen nicht zurückkehrten. Über deren Lebenswege nach Abrücken von den Ordensburgen war bisher kaum etwas bekannt. Wendy Lower wirft wenigstens einige Schlaglichter auf den Einsatz ehemaliger Ordensjunker bei der deutschen Zivilverwaltung in der eroberten Ukraine zwischen 1941 und 1944. Sie konzentriert sich allerdings so stark auf eine Darstellung des Judenmords im Generalkommissariat Shitomir, dass die dort eingesetzten, wenigen Ordensjunker passagenweise aus dem Blick geraten.

 

Auf nur vier Seiten fasst Christian Schneider bisherige Forschungen über die „Karrierewege ehemaliger NS-Eliteschüler in der Bundesrepublik“ zusammen. Er nennt nicht nur etliche, mehr oder minder prominente Namen, sondern vertritt die These, nach anfänglichem Verschweigen von Zugehörigkeiten zu NS-Eliteschulen in der frühen Bundesrepublik Deutschland habe es später dort und auch in Österreich geradezu zum guten Ton gehört, die in den Napolas usw. verbrachten Jahre herauszustellen, fallweise sogar zu erfinden. Der abschließende Text Freerk Huiskens gleicht mehr einem Rundumschlag gegen den angeblich in der westdeutschen Demokratie weiter wirkenden Faschismus, als dass er einen sinnvollen Beitrag zum Thema des Bandes leisten würde.

 

So unterschiedlich die Qualität und die Erträge der einzelnen Aufsätze sind, so bieten sie doch in Summe einen gelungenen, multidisziplinär angelegten Einstieg in die vielen denkbaren Facetten eines relativ neuen Forschungsfeldes. Die dem Band zahlreich beigegebenen Illustrationen sind klug ausgewählt, sachlich kommentiert und daher weit mehr als gefälliges Beiwerk. Zeitgeschichtlich Interessierte werden daher auf Basis dieses Bandes die weitere Entwicklung von „vogelsang ip“ aufmerksam verfolgen.

 

Graz                                                                                       Martin Moll