Enzyklopädie Migration in Europa - Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Bade, Klaus J./Emmer, Pieter C./Lucassen, Leo/Oltmer, Jochen, 3. Aufl. Schöningh, Paderborn. 2010. 1156 S., zahlr. Abb. und Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit Recht hält Klaus J. Bade in seinem Vorwort fest, dass Migration und Integration im Europa des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts „zentrale Sorgenthemen“ (S. 15) geworden sind, die eine historische Ausnahmesituation suggerieren mögen, weshalb es hoch an der Zeit sei, diese Phänomene im Rückblick zu beleuchten und als „seit jeher zentrale Elemente der europäischen Kulturgeschichte“ darzulegen. Von der Geburt der Idee 1996/97 bis zum Abschluss dieses ersten von Beginn an gemeinsamen Projekts des Netherlands Institute for Advanced Study (NIAS) in Wassenaar und des Institute for Advanced Study/Wissenschaftskolleg zu Berlin, dem Erscheinen der ersten Auflage der Enzyklopädie 2007,  sollten zehn arbeitsintensive Jahre vergehen. Geistige Heimat des Herausgeberteams war auf deutscher Seite die Universität Bielefeld, auf niederländischer die Universität Leiden. Zuletzt sollten weit über 200 namhafte Historiker und Historikerinnen aus aller Herren Länder für fast 250 Beiträge in dem Band verantwortlich zeichnen, der einleitend in zwei Grundsatzartikeln einen Überblick über Idee, Konzept und Realisierung der Enzyklopädie sowie über Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung vermittelt. Die Lektüre dieser Basisinformation lohnt sich auf jeden Fall und offenbart in gut verständlicher Weise die Entwicklung wie den aktuellen Stand dieser Forschungsrichtung.

 

Für die Herausgeber von Belang waren demnach in erster Linie „dauerhafte Zuwanderungen innerhalb Europas und aus außereuropäischen Regionen nach Europa“, wobei „zumindest über die Dauer von zwei Generationen verfolgbare Eingliederungsprozesse“ und „die zeitgenössischen Selbst- und Fremdbeschreibungen“ von Prozessen von „sozialer Komposition bzw. Dekomposition“ (S. 19) im Mittelpunkt des Interesses stehen. Migration als komplexer Kultur- und Sozialprozess soll vor allem unter den Aspekten Integration und Assimilation allochthoner Gruppen erfasst werden, wobei stets die Problematik der Konstruktion von Gruppenidentitäten im Auge zu behalten sei, die den multiplen Identitäten von Migrantengruppen oft nicht oder nur unzureichend gerecht würde. Seit den 1980er Jahren erfasst die moderne Migrationsforschung Wanderungen in einer erheblichen Bandbreite von Entscheidungs- und Verhaltensmustern, während davor im Wesentlichen eindimensionale, am Nationalstaat ausgerichtete Erklärungsmodelle Anwendung fanden. Leitaspekt sei heute die Frage, „warum einzelne Zuwanderergruppen in bestimmten Aufnahmekontexten in dem in Selbst- und Fremdbildern überkommenen Zeiterlebnis und im kollektiven Gedächtnis auf beiden Seiten vergleichsweise lange als zugewanderte Minderheiten bzw. als Diaspora erkennbar blieben, während andere Zuwanderungen nur wenige bzw. historisch ‚kurze‘ oder gar keine Spuren hinterließen“ (S. 24f.). Seit der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart geben unterschiedliche sogenannte Migrationsregime den räumliche Bevölkerungsbewegungen fördernden oder hindernden Rahmen vor; momentan zeichne sich durch die fortschreitende Integration Europas, wie sie unter anderem in den Schengener Abkommen zum Ausdruck kommt, eine Verlagerung nationalstaatlicher Kompetenzen auf eine supranationale Ebene und damit möglicher Weise der „Übergang zu einem neuen Migrationsregime“ (S. 45) ab.

 

In zwei großen, durch laufende interne Querverweise miteinander verknüpften Blöcken, „Länder“ (etwa 300 Druckseiten) und „Gruppen“ (an die 770 Seiten) überschrieben, geht die Enzyklopädie dann ins Konkrete. Das Kapitel „Länder“ erfasst mit 17 übergreifenden, die Wanderungsgeschichte der jeweiligen Räume sowie die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen von Integration beschreibenden Artikeln folgende europäische Großregionen und Länder: Nordeuropa (Skandinavien), Westeuropa (Großbritannien; Irland und Nordirland; Niederlande; Belgien und Luxemburg; Frankreich), Mitteleuropa (Deutschland; Österreich; Schweiz), Südeuropa (Italien; Spanien und Portugal), Ostmitteleuropa (Baltikum; Polen; Tschechien und Slowakei), Südosteuropa und Osteuropa (Russland und Weißrussland; Ukraine). Die weit mehr als 200 Artikel der Kategorie „Gruppen“ sind in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt und folgen in ihren Überschriften, die jeweils den Ausgangsraum, die spezifische Eigenschaft der Migrantengruppe, das Zielgebiet und die relevante Zeit benennen, einer einheitlichen Informationsstruktur. Der staunende Leser findet sich somit leicht in dem außerordentlich vielfältigen Spektrum an charakterisierenden Einzeldarstellungen zurecht, das von „Ägyptische(n) ‚Sans-papiers‘ in Paris seit den 1980er Jahren“ bis zu „Zyprioten in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ reicht. Die Texte der „Gruppen“ wie auch der „Länder“ werden dabei jeweils großzügig mit statistischem Material in Form von Tabellen und Grafiken, mit Karten (die bisweilen, so auf S. 361, für den Zweck etwas zu klein ausgefallen sind) sowie durch die Wiedergabe aussagekräftigen zeitgenössischen Bildmaterials in Schwarzweiß unterstützt.

 

Es liegt auf der Hand, dass Migrationsgeschichte stets auch aufs Engste mit rechtlichen Kontexten verknüpft ist; die Enzyklopädie gibt damit dem Rechtshistoriker eine wahre Fülle von Material an die Hand. Um nur zwei prominente Beispiele herauszuheben: Die komplexe Wechselbeziehung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft, die in der Habsburgermonarchie bis ins frühe 20. Jahrhundert erhalten blieb, bedeutete etwa in den 1860er Jahren für „Abertausende von (Arbeits-)Migranten“, dass sie „über Generationen hinweg rechtlich zu Fremden im eigenen Land wurden“ (S. 177). In der Bundesrepublik Deutschland hingegen wurden mit dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz von 1953 die Rechtsgrundlagen dafür geschaffen, „Personen deutscher Herkunft aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa als Aussiedler aufzunehmen, ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit zu geben und ihre Integration zu fördern“ (S. 165).

 

Resümierend bleibt auch für die dritte Auflage festzuhalten, dass den Herausgebern mit der Enzyklopädie Migration in Europa zweifelsfrei ein großer Wurf gelungen ist, indem sie ein wissenschaftliches Hilfsmittel aus der Taufe gehoben haben, welches das aktuelle Wissen zu diesem hochpolitischen Thema inklusive der relevanten neueren Literatur vorbildlich aufgeschlossen versammelt und deshalb heute als Standardwerk auf diesem Feld ohne nennenswerte Konkurrenz dasteht. Dem tut auch keinen Abbruch, dass verschiedene Rezensenten sich nicht mit allen Aspekten der Arbeit einverstanden zeigen: So wurden Wünsche nach einer chronologisch-geographischen (an Stelle der durchaus praktischen alphabetischen) Gliederung der Beiträge, nach einer stärkeren Berücksichtigung der staatlich-gouvernementalen Seite (statt der primären Betonung familiärer Strukturen in den Artikeln) und nach mehr Information zur Migrationsmotivation und zu den Herkunftsräumen der Einwanderer artikuliert.

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic