Die Renaissance der Rechtspolitik. Zehn Jahre Politik für den sozialen Rechtsstaat, hg. v. Zypries, Brigitte. Beck, München 2008. VIII. 201 S. Besprochen von Wilhelm Wolf.

 

Was darf man erwarten, wenn man dieses Büchlein zur Hand nimmt? Nach den einleitenden Worten der Herausgeberin „eine Zwischenbilanz“ in ihrem Bemühen um die Erledigung ihrer Handlungsaufträge als Bundesministerin der Justiz von 2002 bis 2009, nämlich „Sicherheit schaffen – Opfer schützen. Standort Deutschland stärken – Verbraucherrechte sichern. Moderne Gesellschaft fördern – Rechtsstaat modernisieren.“ Eine spezifische rechtspolitische Programmatik wird aus diesen Kapitelüberschriften kaum zu destillieren sein. Vielmehr herrscht wohlklingende begriffliche Beliebigkeit, die den unbestreitbaren Vorzug bietet, unter Verzicht auf inhaltliche Festlegungen kaum Widerspruch fürchten zu müssen. So oder so ähnlich könnten auch Überschriften in Programmpapieren demokratischer Parteien – der Leser sehe mir den ebenso unscharfen Begriff nach – der „Mitte“ lauten. Und dennoch findet sich gerade in der begrifflichen Unbegrenztheit von der Sicherheits- bis zur Standortpolitik ein Bekenntnis zum Eigentlichen sozialdemokratischer Rechtspolitik, nämlich der Überzeugung, dass das Recht Instrument der Gesellschaftspolitik zu sein hat, oder wie die Herausgeberin es selbst formuliert: „Recht ist Politik in Form von Paragraphen. Es ist ein Instrument, um politische Werte durchzusetzen und sozialen Wandel zu verwirklichen.“[1] Das ist Klartext und lässt Rückschlüsse zu: etwa auf das mit diesen Vorstellungen einhergehende Richterbild oder den Glauben an die Vorhersehbarkeit der Folgen gesetzgeberischen Tuns. Wer Recht als Instrument zur Durchsetzung politischer Werte versteht, der konzipiert den Richter als Sozialingenieur, als Gestalter von Rechtsverhältnissen, denn ihm allein käme danach unter der Geltung des Grundgesetzes auf Grund der Gesetzesbindung die Aufgabe zu, die in Paragraphen gegossenen politischen Werte zur Verwirklichung des sozialen Wandels autoritativ durchzusetzen. Dieses Konzept ist keineswegs neu oder gar modern, die Herausgeberin selbst stellt den Bezug zu den 1960er Jahren her. Das Mindestalter dieses Rechtsverständnisses allein – bei genauerer Betrachtung lassen sich ohne weiteres zweifelhaftere Traditionslinien dieses Konzepts finden – spricht auch nicht gegen seine Wiedergeburt. Eine kritischere Reflexion dieses Ansatzes hätte man vor dem Hintergrund rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse zu diesem Modell, die bereits zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts formuliert wurden, gleichwohl erwarten dürfen. So findet sich etwa in einem klassischen Lehrbuch aus dem Jahr 1991, das jeder rückwärtsgewandten Perspektive völlig unverdächtig ist, zur Thematik der Wohnungs- und Raummiete, dem Kernanliegen sozialen Mietrechts als Ausdruck sozialen Wandels auf dem Gebiet der immobiliengebundenen Eigentumsverfassung, unter der Überschrift „Lösungsansätze“ eine nüchterne Analyse der rechtspolitischen Aktivitäten der späten 60er und 70er Jahre. Wo der Gesetzgeber zu praktischen Entscheidungen gefordert sei, so wird im Esser/Weyers resümiert, bleibe er jedenfalls im Zivilrecht der Wohnungsmiete auf inkrementales, tastendes Vorgehen angewiesen. Die Rechtsanwendung, die erst recht weder die Instrumente zur Folgenabschätzung haben noch die politische Verantwortung für das Scheitern einer Strategie tragen könne, bleibe in der Fallentscheidung auf strengen Normgehorsam, bei der Ausfüllung der Generalklauseln auf Vermeidung von Extremen und – angesichts des unleugbaren Gesamtzusammenhangs paradoxerweise – auf den Versuch der Orientierung an den traditionellen Richtwerten individueller Billigkeit und den Fixpunkten des Grundgesetzes angewiesen[2].

 

Etwas mehr Aufklärung wäre also auch der hier anzuzeigenden Renaissance schon im Grundsatz zu wünschen gewesen.

 

Gleichwohl informiert der vorliegende Band in 31 leicht lesbaren Einzeldarstellungen jeweils in Grundzügen und mit ausgeprägt wohlwollender Tendenz über die wesentlichen rechtspolitischen Projekte in der Ära der Bundesministerinnen der Justiz Herta Däubler-Gmelin und Brigitte Zypries im Zeitraum von 1998 bis 2008. Das bietet reichen Fundus für den politisch motivierten Leser, der eine durchweg positive Bilanz dieser Ära bestätigt sehen will und Argumente für die eigene Positionierung sucht. Wer demgegenüber beabsichtigt, sich ein objektives und umfassendes Bild über den Gang der rechtspolitischen Entwicklungen in diesen Jahren zu verschaffen, dem sei eine gewisse Skepsis empfohlen, der mag die meist programmatischen Überschriften („Schneller zum Recht. Die ZPO-Reform von 2001 und effiziente Verfahren in der Justiz“, von Staatssekretär a. D. Alfred Hartenbach) gleichsam als Thesen verstehen, die der wissenschaftlichen Überprüfung harren, und zwar auch dort, wo sie deren Ergebnis für sich in Anspruch nehmen.

 

So kann man zwar die ZPO-Reform des Jahres 2001 als Erfolgsgeschichte[3] bewerten und das erst recht, wenn man als Staatssekretär für deren Konzeption und Umsetzung ohne Zweifel ein gehöriges Maß an Mitverantwortung trägt. Wertvoll erscheint insoweit auch der bloße Hinweis auf die Evaluation dieses Gesetzgebungsprojekts im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz durch die Prozessualisten Hommerich, Prütting, Ebers, Lang und Traut[4]. Gleichwohl handelt es sich eben nur um eine von mehreren Perspektiven. Denn selbst einer der mit der Evaluation beauftragten Professoren gelangte in einem an der ökonomischen Analyse des Rechts orientierten Beitrag zu einem deutlich zurückhaltenderen Ergebnis in der Bewertung dieser rechtspolitischen Neuerung. So resümierte Hanns Prütting 2008 mit dem Blick auf die längerfristigen Zusammenhänge zu der ZPO-Reform von 2001 in der Abwägung von Nutzen und Schaden einer derartigen Neuerung, der ZPO-Gesetzgeber habe in den vergangenen 130 Jahren immer wieder versucht, Vereinfachung und Beschleunigung, Transparenz und Modernisierung, Bürgernähe und Effizienz des Verfahrens herzustellen und zu stärken. Die Novellierungstätigkeit des Gesetzgebers lasse sich aber auch in weitem Umfang als verzweifelter Versuch verstehen, die Gerichte zu entlasten sowie Ressourcen einzusparen. Letzteres sei offenkundig erforderlich und zwingende Aufgabe des Gesetzgebers. Sein Tätigwerden in diesem Sinne sei von Nutzen. Allerdings habe sich gezeigt, dass es nicht gelungen sei, die strukturellen Grundprobleme der Überlastung zu beseitigen. Insofern habe die ZPO-Gesetzgebung als eine immer wieder eingesetzte und oft nur sehr kurzlebige Maßnahme-Gesetzgebung auch vielfach Schaden angerichtet.[5]

 

Auch in dem Abschnitt, in dem es um die Schaffung von Sicherheit und den Opferschutz gehen soll, bleibt das Bild und die Bewertung der rechtspolitischen Arbeit in den zehn Jahren Politik für den sozialen Rechtsstaat an auffallenden Stellen lückenhaft bis verzerrt. Dass etwa das sog. Stalking strafwürdiges Unrecht sei[6], ist eine Erkenntnis, der sich die damalige Bundesjustizministerin Zypries 2004 eher noch verschloss. Und es waren nicht allein die dogmatischen Schwierigkeiten, einen Straftatbestand hinreichend präzise zu formulieren, die die ablehnende Haltung der Ministerin gegenüber einem strafrechtlichen Schutz vor Stalking bestimmten. Vielmehr vertrat Frau Zypries die Auffassung, die bereits bestehenden Mechanismen des Strafgesetzes und des Gewaltschutzgesetzes seien ausreichend, um dem Problem zu begegnen.[7] Das war zum damaligen Zeitpunkt auch wenig überraschend, kam der erste Gesetzesentwurf, der einen konkreten Vorschlag zur Kriminalisierung des Stalking enthielt[8], doch ausgerechnet aus dem konservativ geführten hessischen Justizministerium, das die rechtspolitische Brisanz des Themas offensichtlich nicht nur früher erkannt hatte, sondern hierauf zudem noch schneller reagierte. Anders als von Schumacher dargestellt[9], lag die rechtspolitische Gesetzgebungsinitiative in diesem Bereich der Bekämpfung von Kriminalität, von der zu einem nicht geringen Teil Frauen nach einer gescheiterten Beziehung betroffen sind, also keineswegs bei dem sozialdemokratisch geführten Bundesministerium der Justiz. Erst nachdem die Bundesratsinitiative aus Hessen im Juli 2004 in den Bundesrat eingebracht worden war, vollzog man in Berlin den grundlegenden Wandel in der eigenen Positionierung. Verwies man am 13. Juli 2004 in einer Pressemitteilung unter der Überschrift „Stalking-Opfer effektiv schützen“ die Opfer noch auf den Schutz durch bereits bestehende Straftatbestände wie Beleidigung, Körperverletzung und Nötigung, vor allem aber auf das seit Januar 2002 geltende Gewaltschutzgesetz, dauerte es ein gutes Jahr, bis die Bundesregierung, federführend das Bundesministerium der Justiz, am 12. 08. 2005[10] ihren Gesetzentwurf für das spätere Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen (40. StrÄndG) in den Bundesrat einbrachte und damit den gesetzgeberischen Handlungsbedarf für einen strafrechtlichen Schutz vor Stalking einräumte. Der hessische Justizminister Wagner, der bereits im Sommer 2004 die Auffassung vertrat, dass weder das damals geltende Strafrecht abschreckend auf potentielle Stalker wirke, noch die Instrumentarien ausreichten, die das Anfang 2002 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz bereitstellte, konnte sich bestätigt sehen.

 

Es bleibt danach zu hoffen, dass der „Zwischenbilanz“ eine aus historischer Sicht differenziertere „Abschlussbilanz“ folgt, die mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zu den Vorgängen an Souveränität im Umgang mit der eigenen Geschichte gewinnt.

 

Laubach                                                                                             Wilhelm Wolf



[1] Zypries, Die Renaissance der Rechtspolitik. Zehn Jahre Politik für den sozialen Rechtsstaat, in: Zypries (Hg.), Die Renaissance der Rechtspolitik. Zehn Jahre Politik für den sozialen Rechtsstaat, München 2008, S. 1.

[2] Esser/Weyers, Schuldrecht Besonderer Teil, 7.A., Heidelberg 1991, § 19 II, S. 162.

[3] Hartenbach, Schneller zum Recht. Die ZPO-Reform von 2001 und effiziente Verfahren in der Justiz, in : Zypries (Hg.), Die Renaissance der Rechtspolitik. Zehn Jahre Politik für den sozialen Rechtsstaat, München 2008, S. 164-170, 169.

[4] Rechtstatsächliche Untersuchung zu den Auswirkungen der Reform des Zivilprozessrechts auf die gerichtliche Praxis – Evaluation ZPO-Reform, Berlin/Bonn 2006.

[5] Prütting, Nutzen und Schaden der ZPO-Gesetzgebung, in: German Working Papers in Law and Economics (2008), S. 1ff., 15.

[6] Schumacher, Keine Privatsache! Stalking wird zur Straftat, in: Zypries (Hg.), Die Renaissance der Rechtspolitik. Zehn Jahre Politik für den sozialen Rechtsstaat, München 2008, S. 15-19, 19

[7] So Witte, Zwei Jahre Haft für „Stalking“. Hessen startet Bundesratsinitiative, Das Parlament 2004, Nr. 29, vom 12.07.2004.

[8] Gesetzesantrag des Landes Hessen. Entwurf eines …Strafrechtsänderungsgesetzes – Gesetz zur Bekämpfung unzumutbarer Belästigungen – („Stalking-Bekämpfungsgesetz“ - …StrÄndG) vom 05. 07. 2004, BR-Drks. 551/04.

[9] Schumacher, Keine Privatsache! Stalking wird zur Straftat, in: Zypries (Hg.), Die Renaissance der Rechtspolitik. Zehn Jahre Politik für den sozialen Rechtsstaat, München 2008, S. 17, spricht davon, dass 2004 vom Bundesrat und vom Bundesjustizministerium (§ 241b StGB) erste Entwürfe einer Vorschrift des Strafgesetzbuches (StGB) eingebracht wurden.

[10] Als BR-Drks. 617/05.