Damler, Daniel, Wildes Recht. Zur Pathogenese des Effektivitätsprinzips in der neuzeitlichen Eigentumslehre (= Schriften zur Rechtstheorie 239). Duncker & Humblot, Berlin 2008. 122 S. Besprochen von Thomas Finkenauer.

 

Damlers Studie, die seinem Lehrer Jan Schröder gewidmet ist, ist bereits in zweiter Auflage erschienen. Sie ist spannend geschrieben, anregend und bereichernd – für den Philosophen ebenso wie für den Historiker oder Juristen – und verdient sicher das ihr zuteil gewordene Prädikat „Juristisches Buch des Jahres 2009“.

 

Damler geht es, wie er in seiner „Vorrede“ über die „Schöne Neue Welt“ (9-16) hervorhebt, um den „Aufstieg der ‘effektiven Okkupation’ zur zentralen eigentumstheoretischen Denkfigur“ (11) im Zusammenhang mit der Kolonialisierung der Welt. Der moderne Eigentumsbegriff sei nicht nur, wie häufig in verengender Perspektive vorgetragen, darauf zurückzuführen, dass das aufstrebende Bürgertum – auch unter dem Einfluss der protestantischen Ethik – Eigentum als ein vorgesellschaftliches und damit staatlicherseits unantastbares Recht verstanden und sich des liberalen, auf John Locke zurückgehenden Slogans „Eigentum durch Arbeit“ bedient habe. Vielmehr sei er (auch) „aus dem Geist der Expansion“ entstanden: Das „bürgerliche Eigentumsparadigma“ sei Produkt eines „(früh-)kolonialen Ideologems“, einer „Freibeuter- und Kleingärtnergesinnung“, die ihren Weg von den Kolonien in die europäischen Salons gefunden habe (13).

 

Rechtsgrund für das Behaltendürfen einer Sache sei nicht länger die Zustimmung oder Mitwirkung anderer Personen gewesen, sondern die tatsächliche Einwirkung oder wenigstens das Einwirkenkönnen auf die Sache. Damit habe sich die neue Eigentumslehre von dem Gedanken verabschiedet, dass Eigentum etwas von Gott oder der Gesellschaft Abgeleitetes sei. Im Wettstreit zwischen den alten und neuen Kolonialmächten Portugal und Kastilien einerseits und England und den Niederlanden andererseits gewann diese Lehre seit dem frühen 17. Jahrhundert die Oberhand, weil mit ihr die auf die Bullen Papst Alexanders VI. gegründeten Rechtsansprüche der katholischen Reiche auf jeweils die Hälfte des Erdballs zurückgewiesen werden konnten: Symbolische Okkupation und Teilungsverträge schufen nicht länger Eigentumstitel; Land blieb okkupierbare terra nullius, solange es nicht physisch beherrscht oder bearbeitet wurde. Inwieweit es auch der unterworfenen Bevölkerung einer solchen Beherrschungsmacht ermangelte, wurde unterschiedlich beantwortet.

 

Für die spanische Spätscholastik war die Okkupation noch keine gangbarer Weg der Rechtfertigung der Landnahme, wie Damler in seinem zweiten Kapitel – „Im Westen nichts Neues – Spanische Sinnstiftung nach 1492“ (17-32) – beschreibt, erkannte man doch ganz überwiegend, dass die Barbaren veri domini, et publice et privatim waren und daher ihr Land keineswegs herrenlos war[1]. Allerdings hatten auch sie die Oberhoheit der Kirche anzuerkennen, die zugunsten Kastiliens disponiert hatte. Wer ihr die Anerkennung versagte, beging ein crimen laesae maiestatis. Voraussetzung dafür war allerdings, dass die katholische Lehre bekannt war, wozu der berüchtigte von Palacios Rubios verfasste requerimiento diente, ein „Schnelldurchlauf durch die biblische Heilsgeschichte“ (23). Wer sich ihm, damit der Kirche und so auch dem König von Kastilien nicht unterwarf – und sei es auch nur, nachdem das Papier den Bäumen im Flüsterton vorgelesen wurde –, dem drohten Enteignung und Sklaverei.

 

Im englischen Schrifttum setzte sich die Effektivitätslehre gegen das Prioritätsprinzip durch: Nur wer Boden tatsächlich nutzte, ihn besiedelte und bearbeitete, sollte Eigentümer sein. Die Einzäunung von Land – nicht nur zur Sicherung des zum Entlaufen neigenden Viehs, sondern gerade auch zur Abgrenzung von lediglich symbolisch oder vertraglich ihr Recht begründenden Kolonialmächten einerseits und von den indigenen nichtsesshaften Völkern andererseits – diente damit der Einhegung des Rechts: „Fencing the law – die Verdinglichung des Mein und Dein in den englischen Kolonien“ (33-55), wie sich Damler plastisch ausdrückt. Von der Kultivierungsleistung der Kolonisten war es nur ein kleiner Schritt zu Lockes berühmtem und, wie Damler zeigt, im kolonialen Zusammenhang geschriebenem 5. Kapitel „Of property“ des Second Treatise of Government von 1689, in dem der Wegbereiter des modernen Eigentumsbegriffs auf die Arbeitsleistung des einzelnen an seinem Grund und Boden abstellt (§ 32)[2].

 

Den Konflikt zwischen dem Recht des Entdeckers (ius inventionis) und dem Effektivitätsprinzip beschreibt das folgende Kapitel „Rechtsgeleerdheid met force – Der Sündenfall der holländischen Jurisprudenz im ostindischen Zeitalter“ (58-87). Während die alte Kolonialmacht Portugal für sich die enormen navigatorischen Leistungen bei der Entdeckung des Seewegs nach Indien und damit vor allem das ius inventionis reklamieren konnte (de Freitas), aber über nur unzureichende militärische Macht verfügte, negierten die aufstrebenden Niederlande (wenigstens bei bevölkerten Gebieten) diesen Rechtstitel seit einem Rechtsgutachten, das Hugo Grotius im Jahre 1606 aus Anlass des Überfalls der portugiesischen Santa Catarina verfasst hatte: Entscheidend sei nicht die bloße Sichtung oder inventio, sondern die custodia (77), also die Beherrschung des Landes mittels einer schlagkräftigen Kriegsflotte und der Errichtung militärischer Stützpunkte mit gut ausgestatteten Garnisonen. Land wurde beherrscht, soweit die Kanonen schossen (85) – die noch heute existierende Dreimeilenzone beruht auf diesem Grundsatz.

 

Die „rechtsrealistische Ausrichtung“ der niederländischen Jurisprudenz (97), vor allem in Gestalt Bynkershoeks, fand bei den deutschen Juristen scharfen Widerspruch, etwa bei Thomasius, Titius oder Gundling, der den Rubikon überschritten sah, wenn sich das Recht an die Realität anpasse. Ein solches Recht begünstige den offenen Kampf um die Aneignung, wie er ihn plastisch am Beispiel eines Gastmahls vor Augen führt: Falle der gerade zum Munde geführte Bissen in die Schüssel zurück und steche der Nachbar rechtzeitig zu, könne sich der erste kaum beschweren: Quod voluisti, nondum habuisti: qui nondum habet, nondum plene occupavit: Quod nondum plene occupatum, est nullius: res nullius cedit plene occupanti (99). England und die Niederlande waren für Gundling Schurkenstaaten, deren „Recht“ nichts mehr als „interessengeleitete Theoriebildung“ war (100). Eine Wende bei den deutschen Gelehrten kam, wie Damler in seinem abschließenden Kapitel: „Das Neue Recht in der Alten Welt – Von der Rebellion zur Assimilation“ (88-106) betont, erst mit Schlettwein, Meister, Fichte und Hegel, die, aus unterschiedlichen Gründen, den einzelnen Menschen in seiner „Stärke und Herrlichkeit“ in den Blickpunkt nahmen und so für eine „Ich-bezogene Eigentumsformel“ im Lockeschen Sinne eintraten (102) – allerdings gegen den entschiedenen, aber nicht durchdringenden Widerspruch Kants, der darauf bestand, dass der Mensch ohne Mitmenschen kein Recht an einer Sache erwerben oder behalten könne, da ihm die Sache selbst nicht verbindlich sein könne. Nicht von ungefähr brandmarkte Kant die kolonialen Erwerbungen und ihre Rechtfertigung als verwerflich, als „Jesuitismus“ (105).

 

Damlers These von der „Doppelgeburt“ der modernen, individualistischen Eigentumslehre aus der „wilden Fremden des 17. Jahrhunderts“ und der „bürgerlichen, fortschrittsaffinen ‘Zivilisation’ des 19. Jahrhunderts“ (106) nimmt für sich ein. Man fragt sich natürlich sofort, warum die koloniale Landnahme wirklich den Weg Europas in die moderne Industriegesellschaft ebnete, in der es vor allem um die Herstellung und Verarbeitung von beweglichen Sachen geht. Überzeugend schlägt Damler die Brücke mit dem Hinweis auf neuere Studien, welche die Verstrickung der „Ikonen des Naturrechts und politischen Liberalismus“ Grotius, Locke, Mill und Tocqueville in die kolonialen Angelegenheiten ihrer Zeit beweisen (14). Es scheint also tatsächlich so zu sein, dass die „Nähe zur Sache“ nicht nur für die Okkupation größerer Landstriche, sondern auch für den Durchbruch des Produktionsprinzips entscheidend war, das im europäischen Vergleich am konsequentesten in § 950 Abs. 1 BGB seine Anerkennung fand.

 

Zu wenig berücksichtigt Damler die Quellen des römischen und des mittelalterlichen Rechts, nicht nur zur Okkupation, sondern auch zur Spezifikation. Die Geringschätzung der wilden Tiere (vgl. nur 88), für deren Aneignung schon die Römer das „custodia-Konzept“ kannten[3], welches also nicht erst „Errungenschaft der systematischen Jurisprudenz“ (83) ist, und die Vorliebe für die Eroberung ganzer Kontinente hat hier seinen Blick allzu sehr verengt. Selbst den Zusammenhang zwischen der Beherrschbarkeit von Grundeigentum und dem Eigentumsverlust mangels Beherrschbarkeit diskutieren die römischen Juristen[4]. Und selbstverständlich haben auch sie sich schon Gedanken über das „Wie“ der Okkupation gemacht, auch über die möglichen Konflikte mit weiteren Prätendenten (anders 17)[5]. Eine Geschichte der Aneignung muss erst noch geschrieben werden – Damlers Thesen fordern dazu nachgerade auf. Das Buch sei jedem, der an einer kurzweiligen, scharfsinnigen und klugen Studie interessiert ist, ans Herz gelegt.

 

Tübingen                                                                     Thomas Finkenauer



[1] So de Vitoria, De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in barbaros (1539), zitiert nach Damler, 20.

[2] Wenig nachvollziehbar ist es, wenn Locke mal in Deutsch, mal in Englisch und Bodin sogar in Englisch zitiert werden.

[3] Vgl. nur Gaius 2, 67; Ulpian/Pomponius D. 41, 1, 44; zum Ganzen Finkenauer, D. 41, 1, 44: Das Schwein im Wolfsmaul, in: Falk/Luminati/Schmoeckel (Hrsgg.), Fälle aus der Rechtsgeschichte, 2008, 45ff.

[4] S. nur Pomponius D. 7, 4, 23; dazu Finkenauer (Fn. 2), 52 f.

[5] S. nur neben D. 41, 1, 44 etwa Proculus D. 41, 1, 55; Gaius D. 41, 1, 5, 1; Inst. 2, 1, 13; 17.