Bismarck, Otto von, Gesammelte Werke, Neue Friedrichsruher Ausgabe, hg. v. Canis, Konrad/Gall, Lothar/Hildebrand, Klaus/Kolb, Eberhard. Abteilung III 1871-1898, Schriften Bd. 2 1874-1876, bearb. v. Bendick, Rainer, Bd. 3 1877-1878, bearb. v. Epkenhans, Michael/Lommatzsch, Erik, Bd. 4 1879-1881, bearb. v. Hopp, Andrea, Bd. 5 1882-1883, bearb. v. Lappenküper, Ulrich. Schöningh, Paderborn 2005, 2008, 2008, 2010. LXXX, 710, XC, 659, C, 827 S., CV, 678 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Jahr 1997 wurde mit Beschluss des Deutschen Bundestages die Otto-von-Bismarck-Stiftung zur Verwaltung des umfangreichen Nachlasses des langjährigen Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten ins Leben gerufen. Eine ihrer Aufgaben ist die historisch-kritische Edition seines umfangreichen Schrifttums, da ältere Sammlungen, wie die von Erich Marcks, Friedrich Meinecke und Hermann Oncken besorgte „Friedrichsruher Ausgabe“ (1924-1935), die „Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914“ (1922-1927) und die „Werke in Auswahl“ (1962-1983) Gustav Adolf Reins weder hinsichtlich der Vollständigkeit des versammelten Materials noch hinsichtlich der Editionskriterien modernen wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden.

 

Mit Lothar Gall konnte der wohl profilierteste Bismarck-Kenner unserer Tage - schon 1980 veröffentlichte er seine wegweisende Biographie des Kanzlers - für das Projekt gewonnen werden, dem mit Klaus Hildebrand, Eberhard Kolb und Konrad Canis nicht minder ausgewiesene Experten zur Seite stehen. Das Gesamtkonzept sieht zunächst die Veröffentlichung der Schriften und Briefe Bismarcks für die Zeit der Reichskanzlerschaft bis zu seinem Ableben (1871-1898) vor, voraussichtlich in insgesamt acht Bänden; im Anschluss daran ist eine Neubearbeitung der Schriften bis 1871 geplant, der noch die Herausgabe seiner Gespräche und Reden folgen soll.

 

Fünf Bände dieser „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ sind mittlerweile publiziert. Der wichtige erste Band mit 506 Dokumenten der unmittelbar der Reichsgründung folgenden Jahre 1871-1873, erschienen 2004 und von Andrea Hopp bearbeitet, wurde an dieser Stelle bereits von Andreas Thier (ZRG GA 125 (2008)) ausführlich besprochen und kann deshalb im Detail hier unberücksichtigt bleiben.

 

Interessant ist die Frage, wie groß die Anzahl der bisher noch nirgendwo bzw. nicht vollständig edierten Dokumente im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Gesamtzahl ist, kann doch daraus ersehen werden, wie viel tatsächlich Neues ein Band dem Forscher wirklich anbieten kann. Neuland nach dieser Definition ist von den 506 abgedruckten Dokumenten des ersten Bandes (1871-1873) mehr als die Hälfte; im zweiten Band (1874-1876) von 466 Schriftstücken und im dritten (1877-1878) von 571 Texten (von um die 1000 ausfindig gemachten) gar jeweils mehr als drei Viertel; etwa wieder die Hälfte der 517 Quellen (von über 2100 zusammengetragenen) des vierten Bandes (1879-1881); schließlich knapp sechzig Prozent der 488 Dokumente (von über 1900 ermittelten) des fünften und bislang letzten Bandes (1882-1883). Allein diese Zahlen belegen das große Verdienst der Herausgeber und Bearbeiter, die damit das Korpus des nun jedermann leicht zugänglichen Quellenmaterials zu Bismarck auf weit mehr als das Doppelte vergrößern konnten. Dass man sich nicht mit Querverweisen auf die älteren Editionen begnügt, sondern die Texte aller ausgewählten Schriftstücke zur Gänze aufgenommen hat, erhöht den Nutzwert der Ausgabe erheblich. Dennoch ist von verschiedener Seite nicht ganz unbegründet ins Treffen geführt worden, dass die Auswahl der Dokumente - denn mit einer solchen und, trotz des beeindruckenden Umfangs, keineswegs mit einer Gesamtausgabe des schriftlichen Bismarck-Nachlasses haben wir es immer noch zu tun – einer plausiblen Begründung entbehre und nicht wirklich klar sei, welcher Grad der Vollständigkeit erreicht worden sei und welche Bestände in welchen Archiven möglicher Weise noch der Erschließung harren.

 

Die von Band zu Band unterschiedlich hohe Quote der Erstveröffentlichungen erklärt sich aus dem Umstand, dass bestimmte Phasen der Reichskanzlerschaft Bismarcks in der Forschung stets auf besondere Aufmerksamkeit gestoßen sind, so dass für diese Zeitabschnitte schon früher eine größere Anzahl an Dokumenten ediert worden ist. Beispiele dafür sind die im ersten Band erfassten Jahre der Reichsgründung und der vierte Band, der die innenpolitisch durch die konservative Wende und außenpolitisch durch den Auftakt zum Bündnissystem charakterisierten ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahre erfasst. Dass aber auch durchaus bekannte, ja berühmte Schlüsselquellen bislang nur fragmentarisch greifbar waren, beweist der jetzt endlich nachlesbare Volltextabdruck des Kissinger Diktats (Bd. 3, Dok. 114: 15. Juni 1977). Anzumerken ist zudem, dass längst nicht alle Texte aus Otto von Bismarcks eigener Feder stammen; vor allem bedingt durch seine permanente Arbeitsüberlastung und den damit verbundenen angegriffenen Gesundheitszustand entwickelten sich im Laufe der Zeit verstärkt bestimmte Formen der autorisierten „Zuarbeit“, für die neben anderen engen Mitarbeitern die - ihren Vater nur wenige Jahre überlebenden – Bismarck-Söhne Herbert und Wilhelm herangezogen wurden. Dies gilt verstärkt für die Jahre ab 1877; so finden sich unter den 571 Dokumenten des dritten Bandes nicht weniger als 250 Schriftstücke, die nicht den Reichskanzler als Verfasser oder Absender verzeichnen.

 

Wenn auch die bisher erschienenen Bände - einmal mehr, einmal weniger dominant und oft durchwoben mit wichtigen innenpolitischen Materien - in ihren Quellentexten den grundsätzlichen Primat der Außenpolitik offenbaren, bedeutet dies keineswegs, dass andere Politikbereiche unberührt bleiben. Ganz im Gegenteil erweist sich eine solche Sammlung mit ihrer thematischen Vielfalt, die kaum ein Lebens- und Rechtsgebiet ausspart, als rechtsgeschichtliche Fundgrube ersten Ranges. Einige knappe Beispiele zur Illustration: „Die deutsche Strafgesetzgebung solle in Richtung einer ‚Präventiv-Justiz‘ verändert werden. Nach englischen, dänischen und italienischen Vorbildern werden Maßnahmen vorgeschlagen, die nicht nur die Ausführung, sondern auch schon die Planung eines Verbrechens oder die Anstiftung dazu unter Strafe stellen.“ (Bd. 2, Dok. 149: 13. November 1874) „Da die gewaltsame Ausweisung des Bischofs von Paderborn für die preußische Regierung ‚sehr unangenehm‘ sei, müsse das Reichsgesetz so ergänzt werden, dass die Weigerung, der Ausweisung nachzukommen, mit einer ‚längeren Haft‘ bedroht werde.“ (Bd. 2, Dok. 180: 14. Januar 1875) „Wegen der Verminderung der Einnahmen aus den Matrikularbeiträgen sei ein Ausgleich durch eine Zoll- und Steuerreform zu schaffen. Dabei sei vor allem die Erhöhung der indirekten Steuern auf Genussmittel vorzusehen.“ (Bd. 3, Dok. 22: 13. Februar 1877) „Der Bundesrat solle die Unstimmigkeiten zwischen Preußen und Sachsen wegen der Berlin-Dresdener Eisenbahngesellschaft nicht selbst entscheiden, sondern eine Erledigung mittels Austrägalverfahren oder Kompromissgericht herbeiführen. Diese Form der ‚Erledigung‘ sei nach der Reichsverfassung möglich und in diesem Falle zu empfehlen.“ (Bd. 3, Dok. 36: 3. März 1877) „Bitte um Genehmigung einer Verordnung zur Verwaltung Elsass-Lothringens: durch Einrichtung eines eigenen Ministeriums mit einem Staatssekretär an der Spitze, gegliedert in vier Abteilungen mit Unterstaatssekretären.“ (Bd.4, Dok. 73: 10. Juli 1879) „Der Presse sei zu entnehmen, Bismarck habe die reichsgesetzliche Regelung des Versicherungswesens angeregt. Missstände auf dem Gebiet des Hagelversicherungswesens erforderten den Schutz der Versicherten gegen hinterhältige Bestimmungen der Versicherungsgesellschaften.“ (Bd. 4, Dok. 146: 11. Oktober 1879) „Da eine vertragsmäßige Bindung in der Kirchenfrage die staatliche Souveränität beeinträchtige, sei der Weg der Verhandlungen mit Rom jetzt zu verlassen und der der Gesetzgebung einzuschlagen. Preußen liefe sonst Gefahr, seine Pläne dem Papst im Sinne einer ‚moralischen bona fide Verpflichtung’ als Objekt zweiseitiger Abmachungen unterbreiten zu müssen …“ (Bd. 5, Dok. 345: 30. Mai 1883). Die Reihe der Beispiele ließe sich nach Belieben fortsetzen.

 

Ein einheitliches Layout gibt der in der Anmutung gefälligen, in Dunkelblau gebundenen Edition ihr typisches Gepräge. Im Wortlaut identisch, beginnt jeder Band mit der Vorstellung des Unternehmens „Neue Friedrichsruher Ausgabe“ (NFA) durch die Herausgeber und mit einer doppelseitigen Erläuterung der Editionsrichtlinien. Daran schließt sich eine auf den jeweils betroffenen Zeitabschnitt zugeschnittene, von den Bearbeitern gestaltete historische Einführung und Überblicksdarstellung, wovon auch  „in Sachen Bismarck“ weniger versierte Nutzer profitieren werden.

 

Der Dokumententeil wird stets mit einer Übersicht, einer Art erweitertem Inhaltsverzeichnis, eröffnet, in dem jedes der abgedruckten Textzeugnisse in Form eines aussagekräftigen Regests vertreten ist, was es möglich macht, sich rasch ein Bild über die Inhalte des vorhandenen Materials zu verschaffen. Erweitert um Angaben zum Fundort, zum Druckort und zur Textsorte werden diese Regesten dann noch einmal jedem der durchnummerierten Schriftstücke vorangestellt. Verzeichnisse der verwendeten Abkürzungen, der ausgewerteten Editionen, nicht aufgenommener Dokumente und ein Personenregister schließen die Quellentexte weiter auf. Dass damit schon ein Optimum an Benutzerfreundlichkeit erreicht worden ist, kann nicht behauptet werden. So wurde moniert, das Spektrum der angebotenen Hilfsmittel zumindest durch die Beigabe von Sachregistern und Zeittafeln auszuweiten und überhaupt die ganze Ausgabe auch digital anzubieten.

 

Ob die Herausgeber diese Anregungen tatsächlich aufgreifen wollen und werden, bleibt ungewiss. Sicher ist hingegen, dass die bisher erschienenen fünf Bände der „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ schon jetzt der Forschung deutliche Impulse in Richtung einer Korrektur einer bisher zu idealisierten Bewertung der Persönlichkeit und der Arbeit des „eisernen Kanzlers“ zu geben vermochten. Man darf daher den Herausgebern und Bearbeitern für das bisher Geleistete danken und mit berechtigter Neugier der Publikation der noch ausstehenden Bände entgegensehen.

 

Kapfenberg                                                                            Werner Augustinovic