Alisch, Michael, Heinrich Himmler - Wege zu Hitler. Das Beispiel Heinrich Himmler. Lang, Frankfurt am Main 2010. 171 S., 1 Abb., 2 Graf. Besprochen von Martin Moll.

 

Keine Frage: Person und Persönlichkeit des Reichsführers-SS Heinrich Himmler (1900-1945) werden Wissenschaft und Öffentlichkeit noch lange beschäftigen, verkörpert er doch wie kein zweiter das Paradoxon, dass ein wohlbehütetes, humanistisch erzogenes Kind einer gutsituierten, monarchistischen, katholischen Bürgerfamilie zum Nationalsozialismus finden und zu einem der maßgeblichen Exekutoren des Holocaust werden konnte. Untersuchungen über Himmlers nicht direkt unglückliche, aber doch irgendwie schief gelaufene Kindheit und Jugend setzten schon bald nach seinem Selbstmord ein und dauern bis heute fort, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.

 

In diese Forschungslandschaft reiht sich die 2008 vorgelegte und nunmehr gedruckte Hamburger Magisterarbeit Michael Alischs ein. Der 1953 geborene Verfasser arbeitet als Urkundenexperte bei der Hamburger Kriminalpolizei und absolvierte seit 2000 berufsbegleitend ein Studium der Psychologie und der Geschichte, so dass die in der Arbeit zum Tragen kommende Verbindung beider Disziplinen folgerichtig erscheint. Den Anforderungen an eine Magisterarbeit entsprechend, hat Alisch überwiegend die vorliegende Literatur einschließlich edierter Quellen ausgewertet; bei Archivbesuchen sind Himmlers frühes Tagebuch sowie einige ergänzende, wenngleich eher triviale Dokumente (Materialempfangsschein, Urlaubsschein usw.) herangezogen worden.

 

Anlage und Durchführung der Arbeit geben zu keiner substanziellen Kritik Anlass, weshalb man lediglich ins Feld führen muss, was man als des Autors Pech bezeichnen könnte: 2008, als Alisch seine Arbeit einreichte, erschien gleichzeitig Peter Longerichs monumentale Studie: Heinrich Himmler. Biographie (München 2008), das Ergebnis vieljähriger Recherchen, basierend auf allen zugänglichen Quellen, die Resultate auf rund 1000 Seiten ausbreitend. Gewiss, Alisch behandelt nicht Himmlers ganzes Leben, sondern endet mit Ausnahme gelegentlicher Ausblicke um etwa 1929/30, als Himmler Reichsführer-SS wurde. Longerich und Alisch widmen den Jahren vor 1933 je ca. 150 Seiten. Während der Routinier Longerich die ältere Literatur über Himmlers frühe Jahre durch neu erschlossene Quellen erweitert, basiert Alischs Erstlingsarbeit weitgehend auf dieser Literatur. Man merkt, dass der Verfasser die zeitgleich mit der Abgabe seiner Magisterarbeit publizierte Studie Longerichs zwar kennt, den Text jedoch für die Drucklegung nicht mehr grundlegend überarbeitet hat. Während im einleitenden Forschungsüberblick ältere Werke ausführlich gewürdigt werden, finden sich nur einige angehängte Zeilen zu Longerich (S. 24f.), obwohl dieses Werk alle früheren in den Schatten stellt. Ein ähnliches Resultat zeigt eine Auswertung der 838 Fußnoten, unter denen Longerich nur wenige Male vorkommt, sehr oft hingegen die nicht ganz unproblematische Studie der Himmler-Großnichte Katrin Himmler.

 

Kurzum, man fragt sich, aus welchen Gründen der Verfasser die Resultate Longerichs nicht umfassender in seinen eigenen Text eingebaut hat und, zweitens, was überhaupt man bei Alisch finden kann, das Longerich nicht ebenfalls bietet. Um die Antwort vorwegzunehmen: Sehr wenig. Dies liegt vor allem daran, dass die markanten Aspekte zur Einstufung von Himmlers Persönlichkeit sich schon bald nach 1945 herauskristallisierten und seither wenig verändert tradiert werden, bis zu Longerich und Alisch: Das zwar behütende, aber zugleich fordernde und streng kontrollierende Elternhaus; der pedantische Lehrer-Vater; Himmlers schwächliche Konstitution, der gescheiterte Versuch, sich im Ersten Weltkrieg zu bewähren (der Krieg war vorbei, bevor Rekrut Heinrich an die Front kam), usw. Daraus resultierte Himmlers Ich-Schwäche, so dass er sich zeitlebens an Vorbilder und streng geordnete Organisationen anlehnen, ja diesen unterordnen musste. Ausdruck fand diese Ich-Schwäche u. a. in Selbstzweifeln, einer Serie psychosomatischer Erkrankungen, aber auch in Himmlers Pedanterie und dem oberlehrerhaften Getue dieses niemals rastenden Erziehers seiner SS-Männer, ja des ganzen deutschen Volkes.

 

Dies alles ist mit vielen, häufig bizarren Einzelheiten seit langem bekannt; Alisch bemüht sich allerdings, Himmler nicht nur als schrulligen Kauz zu präsentieren, sondern ihn mit psychologischen bzw. psychoanalytischen Theorien zu erklären. Insbesondere stützt sich der Verfasser auf die Theorien Erik H. Eriksons zur Herausbildung der Ich-Identität und die dabei möglicherweise entstehenden Defizite. Vielleicht hätte die schmale Arbeit an Originalität gewonnen, wenn der Autor Vergleiche gezogen hätte zwischen dem jungen Heinrich und Martin Luther, den Erikson mit einem ähnlichen Ansatz untersucht hat. Aber Eriksons „Young Man Luther“ findet man im Literaturverzeichnis ebenso wenig wie die Arbeiten Helm Stierlins, der Hitlers Kindheit und Jugend (auf die Alisch wiederholt verweist) psychologisch unter die Lupe genommen hat. So bewegt sich der theoretische Rahmen der Psychoanalyse im Altbekannten und geht über das, was bei gebildeten Lesern vorausgesetzt werden kann, kaum hinaus.

 

Die einzelnen Kapitel schildern mit vielen Details, in der Regel zuverlässig, wenn auch in der chronologischen Abfolge nicht immer ganz stringent die Familiengeschichte, zurückreichend bis zu Heinrichs Großeltern. Ausführlich behandelt werden dann die Eltern, die beiden Brüder sowie Heinrichs Kindheit und Jugend selbst. Als Heinrichs Traum, Offizier zu werden, Ende 1918 geplatzt war, schloss er sich zahlreichen paramilitärischen Verbänden der bayerischen Rechten an, in deren Reihen zuerst der spätere SA-Chef Ernst Röhm, dann der künftige Reichsorganisationsleiter der NSDAP Gregor Strasser und zuletzt Hitler als Vorbild und Vaterersatz dienten. Auf der mentalen Ebene wird Himmlers ideologische Entwicklung anhand seiner Lektüre als Prozess zunehmender Radikalisierung gedeutet und teilweise aus den zeitbedingten Frustrationen (Kriegsniederlage, Arbeitslosigkeit, Inflation etc.) abgeleitet.

 

Bei Alisch erfährt man manche Begebenheit genauer als in früheren Arbeiten, wenngleich er die Neigung hat, Platz für Nebensächlichkeiten (Himmler als Teilnehmer an einem Akademischen Arbeiterkurs u. a.) zu verschwenden. Gelungen ist die Schilderung der sich ablösenden Vaterfiguren Röhm, Strasser und Hitler. Auf der anderen Seite wundert man sich, dass der „Führer“, in dessen Dienst Himmler spätestens ab 1930 sein restliches Leben stellte, eher am Rande vorkommt und das 4. Kapitel „Am Ziel: Hitler“ gerade zwei Seiten umfasst. „Wege zum Nationalsozialismus“ hätte sich daher als Buchtitel besser geeignet als „Wege zu Hitler“. Welche Ratio hinter der doppelten Nennung von Heinrich Himmler im Titel des Bändchens stecken soll, bleibt unerfindlich.

 

Auf weiten Strecken sind die Kopplungen der referierten Begebenheiten aus Himmlers frühen Jahren mit dessen Persönlichkeitsentwicklung plausibel. Die theoretischen Ausführungen sind knapp, verständlich und direkt auf die präsentierten Beispiele bezogen. Mitunter mag man sich wünschen, Alisch würde mit dem jungen Heinrich nicht gar so streng ins Gericht gehen. Dem 14-jährigen Tagebuchschreiber hält der Autor vor, dessen Gedanken seien sprunghaft, die Einträge „nicht immer klar geordnet und seine Ausdrücke nicht immer eindeutig“ (S. 70). Ein Blick in die Texte heutiger Schüler gleichen Alters würde den Verfasser milder stimmen. Auch das Heimweh des erst 17-jährigen Rekruten und das Gefühl von Einsamkeit (S. 75) sprechen für altersgemäße, typische Empfindungen. Um derlei Emotionen, die nur vor dem Hintergrund von Himmlers späterer Großsprecherei als Indizien eines psychischen Defekts zu interpretieren sind, kümmern sich heute einfühlsame Heerespsychologen, während der junge Himmler völlig auf sich allein gestellt war.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Leser bei Alisch bekannte Fakten, basierend auf bekannten Quellen, aber mit stärkerer Anbindung an psychoanalytische Theorien findet. Im Kern bestätigt er den Befund, dass Himmler ein zwar die Talente der Kinder förderndes, aber diese auch extrem kontrollierendes Elternhaus erlebte, von dem er sich nur langsam und sehr spät abnabelte. Aufgrund seines unterentwickelten Ichs (S. 97) musste nach dem Vater sofort ein neues Vorbild her, als das sich letzten Endes Hitler anbot, auf den sich Heinrich „wie in einem Strudel“ zu bewegte (S. 152). Seine Prägungen machten ihn zu einem Idealcharakter für national-autoritäres Denken, weshalb der Weg zu Hitler als logische Konsequenz erscheint und keineswegs als Bruch, schon gar nicht mit der konservativ-katholischen Familie, die Heinrichs ideologische Radikalisierung nachvollzog, wenn auch zeitversetzt und gebremst.

 

Für eine solide Magisterarbeit wie diese kann es nicht ehrenrührig sein festzustellen, dass sie im direkten Vergleich mit Longerichs Monumentalwerk den Kürzeren zieht. Das Büchlein ist eine gute Zusammenfassung des Forschungsstandes sowohl unter historischen als auch psychologischen Aspekten. Ein echtes Bedürfnis zur Drucklegung ist jedoch nicht erkennbar.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll