Wünsch, Thomas, Deutsche und Slawen im Mittelalter. Beziehungen zu Tschechen, Polen, Südslawen und Russen. Oldenbourg, München 2008. IX, 188 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla.

 

Auf 130 Seiten entfaltet der Passauer Historiker Thomas Wünsch Themen, Methoden und Perspektiven der Beziehungsgeschichte zwischen Slawen und Deutschen. Dabei bildet er zwei Hauptgruppen – einerseits die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Deutschen und ihren nahen östlichen Nachbarn, den Tschechen und Polen und andererseits die Beziehung zwischen Deutschen und ihren entfernteren Nachbarn, den Südslawen und Russen. Der erstere Bereich fällt allein nach dem Umfang schwerer ins Gewicht als der zweite. Wünsch fordert vor allem eines: den traditionellen Westbindungen der deutschen Mittelalterforschung müssten sich Ostbindungen hinzugesellen. Das ist ein Programm, das auch für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Rechtsgeschichte nur unterstützt werden kann. Die bisher begonnenen Arbeiten (etwa die zum Ius Saxonico-Maydeburgense in Oriente) sind nicht mehr als ein Anfang.

 

Der Autor liefert diesbezüglich viele brauchbare Forschungsperspektiven, welche die interdisziplinären Diskussion nur fördern können: Zu nennen wären etwa die lehnsrechtlichen Fragen nach der Tributpflichtigkeit polnischer, böhmischer und mährischer Gebiete sowohl gegenüber dem Frankenreich als auch gegenüber dem salisch-staufischen Königtum (so gibt es etwa kaum neuere deutsche Forschungen zum „Akt von Gnesen“), Fragen der kirchenrechtlichen Zugehörigkeit Pommerns zu ottonischen Erzbistümern, Fragen nach der Rolle der westslawischen Landesherren als Organisatoren der Ostsiedlung, nach der Ausdifferenzierung der Stadtrechtslandschaften (Neumarkt-Magdeburger, Leitmeritz-Olmütz-Leobschützer, Nürnberg-Egerer, Prager, Brünner, Ofener, aber auch Lemberger Stadtrecht) und nach dem bewussten Einsatz des Stadtrechts als Instrument des raumordnenden Landesausbaus. Hier drängt sich, worauf Wünsch ebenfalls hinweist, etwa die weitere Frage auf, ob das südostwärts wandernde „deutsche“ Recht eine ethnisch deutsche Bevölkerung benötigte oder nicht und ob es sich beim „deutschen“ Recht weniger um eine ethnische als vielmehr eine verfassungsrechtliche Kategorie handelt. Gerade die Beschäftigung mit dieser letzten hier herausgegriffenen Frage könnte die endgültige Abkehr von liebgewordenen Gewohnheiten im Umgang mit mittelalterlichen Rechtsbüchern und Stadtrechten erzwingen: Wenn das in Polen, Böhmen, Mähren und Ungarn rezipierte Land- und Stadtrecht keine ethnogenetischen Wurzeln benötigte – was zwingt dann dazu, solche Wurzeln für die Erstaufzeichnung etwa auf sächsischem Territorium zu behaupten und den Sachsenspiegel noch immer vorwiegend als das getreue Abbild sächsischer Gewohnheiten zu begreifen?

 

In vielen dieser Fragen hat die slawische historische Wissenschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten Antworten und Anregungen gegeben, die Wünsch mit seiner Musterungsarbeit für die deutsche Mediävistik erschließbar macht.

 

„Kulturelle Lernprozesse auf der Basis eines regen, streitbaren aber von gegenseitiger Akzeptanz getragenen Austausches auf Augenhöhe“ – auf dieses Fazit bringt Thomas Wünsch seinen Parforceritt durch fast ein Jahrtausend deutsch-slawischer Beziehungsgeschichte. Wenn seinem Appell eines gewünscht werden darf, dann wohl vor allem der weidliche Gebrauch der ausführlichen Bibliographie in der Zukunft. Ostbindungen werden erst dann in ausreichender Zahl entstehen, wenn die deutsche (Rechts-)Mediävistik von der slawischen Literatur Kenntnis nimmt. Doch davon sind wir momentan noch weit entfernt: Perugia, Siena und Avignon sind auch bei den deutschen Rechtshistorikern beliebter als Duchcov, Mlada Boleslav und Spišska Nova Ves. Wer setzt sich schon gern dem Ruch der Provinzialität aus?

 

Leipzig                                                Adrian Schmidt-Recla