Willing, Matthias, „Sozialistische Wohlfahrt“. Die staatliche Sozialfürsorge in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR (1945-1990) (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts). Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. XI, 433 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der 1960 geborene, 1990 in Marburg mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Studie zur Entwicklung der althistorischen Forschung in der (ehemaligen) Deutschen Demokratischen Republik promovierte, danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Arbeitsrecht und Sozialrecht in Bamberg tätige, 2003 eine Studie über das Bewahrungsgesetz (1918-1967) vorlegende, seit 2007 als Gymnasiallehrer in Nordrhein-Westfalen tätige Verfasser gewann nach dem Vorwort seine Idee zur Abfassung einer Untersuchung über die Geschichte der staatlichen Sozialfürsorge im Osten Deutschlands auf Grund langjähriger Beschäftigung mit Fürsorgeempfängern und Sozialhilfeempfängern, gefährdeten Personen sowie anderen häufig stigmatisierten und ausgegrenzten  Randgruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Als ausgewiesener Kenner der Deutschen Demokratischen Republik lag ihm die Frage nahe, wie dort das Existenzminimum bereitgestellt und die Mindestversorgung der Bürger organisiert wurde. Obwohl es nach kommunistischem Selbstverständnis eigentlich keine sozialistische Wohlfahrt geben durfte, war sie tatsächlich nicht zu vermeiden, weshalb der Verfasser sich zu Recht vornahm, die staatliche Basisleistung für mittellose Bürger in Ostdeutschland erstmals in ihrer geschichtlichen Gesamtentwicklung darzustellen.

 

Dazu befasst er sich nach einer kurzen Einleitung als erstes mit der Sozialfürsorge in der sowjetischen Besatzungszone. Hier erfolgten erste fürsorgepolitische Weichenstellungen bereits unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, wobei mit dem Ziel eines staatlichen zentralistischen Basisversorgungssystems nach sowjetischem Vorbild im September 1945 als erstes eine Zentralverwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge geschaffen wurde, die kommunale Spitzenverbände ausschloss und freie Wohlfahrtsverbände stark einschränkte. Am 22. 4. 1947 wurde auf der Grundlage des Befehls Nr. 92 der sowjetischen Militäradministration in Deutschland die schon im Februar 1946 in einer ersten Fassung entworfene Verordnung über Sozialfürsorge für die Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands erlassen, welche die Sozialfürsorge demokratisieren, die Verwaltung vereinfachen und vereinheitlichen und das materielle Fürsorgerecht verbessern sollte. Die Mitglieder der Sozialkommissionen wurden mehrheitlich der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands oder vergleichbaren Massenorganisationen entnommen.

 

Als Basisleistung für einen Hauptunterstützungsempfänger wurden 30.- RM monatlich festgelegt, wobei staatliche Unterstützung erst in Frage kam, wenn Eigenmittel oder familiäre Unterstützung fehlten. Einen vor einem unabhängigen Gericht einklagbaren Rechtsanspruch gab es nicht. Sofern eine Arbeitsstelle nachgewiesen werden konnte, bestand grundsätzliche Arbeitspflicht, so dass insgesamt die Zahl der Fürsorgeempfänger in der sowjetischen Besatzungszone zwischen dem Ende des Jahres 1946 und dem Ende des Jahres 1948 von mehr als einer Million auf rund 520000 Menschen verringert werden konnte.

 

Eine Sonderstellung nahm die unter alliiertem Besatzungsstatut stehende ehemalige Reichshauptstadt Berlin ein. Hier wurde der Richtsatz für einen Hauptunterstützungsempfänger auf 35.- RM festgelegt. Die Verordnung über Sozialfürsorge vom 22. 4. 1947 trat nicht in Kraft und West-Berlin erhielt umfangreiche Sozialleistungen aus dem Westen.

 

In der Deutschen Demokratischen Republik wurde weiterhin starker staatlicher Druck auf die Unterstützungsempfänger ausgeübt. Dadurch konnte die Zahl der Fürsorgeempfänger gesenkt werden Allerdings ist nach der überzeugenden Einschätzung des Verfassers davon auszugehen, dass dem nach außen vermittelten günstigen Bild die Wirklichkeit deutlich widersprach.

 

Am 23. 2. 1956 fasste die Verordnung über die allgemeine Sozialfürsorge die gesetzlichen Bestimmungen zusammen. Sie gewährte dem Unterstützungsempfänger erstmals einen Rechtsanspruch (1956 85.- Mark). Allerdings war er mangels einer Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht einklagbar, während in der Bundesrepublik Deutschland das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 24. 7. 1954 Fürsorgebedürftigen einen einklagbaren Rechtsanspruch zugesprochen hatte.

 

In den sechziger Jahren kennzeichneten vor allem Repression und Stagnation die Sozialfürsorge der Deutschen Demokratischen Republik. Erst 1968 wurden die Beiträge für Hauptunterstützungsempfänger auf 110 Mark angehoben. Die Zahl der Empfänger sank auf etwa 70000 Personen, darunter nur noch etwa 700 arbeitsfähige Männer.

 

1972 wurde der Hauptunterstützungsbetrag auf  175 Mark monatlich erhöht. 1974 fasste eine neue Sozialfürsorgeverordnung das bestehende Recht zusammen und bezeichnete den Unterstützungsempfänger erstmals als Bürger, dessen Wohnung gegen seinen Willen von Behördenmitarbeitern nicht betreten werden durfte. Die Zahl der  Sozialfürsorgeempfänger ging auf nur noch etwa 16000 Menschen (darunter 643 Männer) zurück und sank bis 1989 überhaupt auf nur noch 5535 Bezieher (290 Mark).

 

Am Ende seiner sorgfältigen, überzeugenden Darlegungen behandelt der Verfasser die Transformation der Sozialfürsorge der Deutschen Demokratischen Republik nach deren - beide deutsche Staaten unvorbereitet treffenden - Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland in das gesamtdeutsche Sozialsystem. Die Übergangsregierung der Deutschen Demokratischen Republik strebte eine Erhaltung möglichst vieler sozialer Errungenschaften an, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Vielmehr wurde die Einführung der Sozialhilfe der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik - für sehr viele Bedürftige - zum 1. 1. 1991 festgelegt (Regelsatz für Hauptunterstützungsempfänger 400 DM, 1993 288000 Empfänger).

 

Mit dem gleichzeitigen Wiederaufbau der freien Wohlfahrtspflege kehrte nach den Worten des Verfassers die Sozialfürsorge der deutschen Demokratischen Republik wieder auf den Hauptpfad der deutschen Wohlfahrtsstaatlichkeit zurück. Damit wurde der Gang zum Sozialamt für viele zu einem alltäglichen Vorgang. Möglicherweise, so schließt die beeindruckende Untersuchung, müsse der bundesdeutsche Sozialstaat angesichts der immensen Kosten aber sich künftig der in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik betriebenen produktiven Fürsorge annähern.

 

Innsbruck                                            Gerhard Köbler