Westphal, Jörn Robert, Die Darstellung von Unrecht in Flugblättern der frühen Neuzeit (= Studien zur Kultur- und Rechtsgeschichte 4). Forum Verlag Godesberg, Mönchengladbach 2008. 295 S. 129 Abb. Besprochen von Hans-Michael Empell.

 

Diese von Jörg Wolff betreute Arbeit, die im Sommer 2007 von der Fakultät für Wirtschafts-, Verhaltens- und Rechtswissenschaften der Leuphana-Universität Lüneburg als Dissertation angenommen wurde, hat sich zum Ziel gesetzt, „anhand von Flugblättern den ‚volkstümlichen’ Unrechtsbegriff der Frühen Neuzeit im Vergleich mit dem Unrechtsbegriff in der Gesetzgebung und der Rechtspraxis dieser Epoche zu bestimmen und mit den Unrechtsbegriffen des Mittelalters und der Aufklärung zu vergleichen.“ (S. 13) Die Abhandlung ist in sieben Abschnitte gegliedert. Der erste behandelt den „Unrechtsbegriff im Wandel der Jahrhunderte“ (S. 15ff.). Dargestellt wird zunächst der mittelalterliche Unrechtsbegriff, von dem es zusammenfassend heißt, es gebe „keine klare Unterscheidung von Zivil- und Strafrecht“, auch sei die „mittelalterliche Vorstellung von Recht (…) stark religiös geprägt“ (S. 22). Der frühneuzeitliche Unrechtsbegriff sei dadurch gekennzeichnet, dass das Recht systematisiert und verwissenschaftlicht werde, Zivil- und Strafrecht seien getrennt, die Verfolgung des Unrechts sei Sache des Staates (S. 34). Charakteristisch für den „Unrechtsbegriff der Aufklärung“ sei, dass die Strafbarkeit von Unrechtshandlungen weniger religiös, als vielmehr damit begründet werde, dass sie gegen menschliche Moral verstießen und sozialschädlich seien (S. 34ff.). Im zweiten Abschnitt behandelt der Verfasser „Historische Hintergründe des Unrechtsbegriffs der Frühen Neuzeit“ (S. 37ff.) und geht dabei auf politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen dieser Epoche ein. Er befasst sich zudem mit der Bedeutung der Religion und der Rolle der Kirchen und schildert auch den „geistigen Umbruch“ in Philosophie und Naturwissenschaften, Kunst und volkstümlicher Literatur. Im dritten Abschnitt wendet sich der Autor dem Gegenstand zu, der im Titel seiner Untersuchung erscheint, dem Flugblatt; dargelegt und begründet werden „Materialauswahl und Untersuchungsmethode“ (S. 77ff.). Der Verfasser wählt das Flugblatt zum Gegenstand seiner Untersuchung, weil es im 16. und 17. Jahrhundert das wichtigste Medium der Bildpublizistik gewesen sei; mit Bildern versehene Flugschriften sowie Bilder ohne Text blieben unberücksichtigt. Alle in mehreren Sammlungen erreichbaren Flugblätter mit Unrechtsdarstellungen, so heißt es weiter, seien gesichtet worden; näher untersucht werde aber nur eine Auswahl. Vorgestellt wird anschließend ein Kategoriensystem, das der qualitativen Erfassung der Flugblätter dient. Drei Raster werden zu Grunde gelegt - ein soziologisches, das sich auf die Frage bezieht, welche Lebensbereiche in den Flugblättern dargestellt werden; ein theologisches, dem zu entnehmen ist, gegen welche Gebote des Dekalogs bei Unrechtstaten verstoßen wird, und ein ästhetisches Raster, mit dessen Hilfe erfasst wird, in welcher Art und Weise die Darstellung von Unrecht gestaltet ist. Im vierten Abschnitt mit dem Titel „Flugblätter der Frühen Neuzeit“ (S. 91ff.) stellt der Verfasser zunächst Quellenlage und Forschungsstand dar und wendet sich sodann „Themen, Adressaten, Funktionen und Verbreitungsformen der Flugblätter“ zu. Er betont, die Flugblätter seien nicht in erster Linie für das einfache Volk bestimmt gewesen, sondern für die lesekundige, städtische Mittelschicht, fügt jedoch hinzu, wegen der bildlichen Darstellungen sei der Zugang auch den Armen und Leseunkundigen nicht ganz verschlossen geblieben. Der Verfasser beschreibt sodann (entsprechend dem „soziologischen Raster“) die „Themenbereiche der Unrechtsdarstellungen“, zum Beispiel Flugblätter zum Glaubenskrieg, Flugblätter zu Machtkämpfen und Flugblätter über einzelne Straftäter. Im fünften Abschnitt (S. 157ff.) teilt der Autor (gemäß dem „theologischen Raster“) die Flugblätter ein in solche, die Verstöße gegen Gott und die Kirche, gegen die legitime Obrigkeit, gegen Leib und Leben der Mitmenschen, gegen die Sexualmoral und gegen andere religiöse Normen behandeln. Im sechsten Abschnitt stellt der Verfasser vor allem die ästhetischen Mittel dar, mit deren Hilfe die Flugblätter ihre Botschaft den Betrachtern und Lesern nahe bringen wollen (S. 183ff.). Der siebte Abschnitt ist dem „Unrechtsbegriff in den Flugblättern der Frühen Neuzeit“ gewidmet (S. 231ff.). Wesentlich ist danach, dass Recht und Unrecht durchgehend religiös, häufig unter ausdrücklichem Bezug auf die Bibel, definiert werden. Dieser „Unrechtsbegriff“ stimme zwar weitgehend mit dem der Gesetzgebung und der Rechtspraxis überein, unterscheide sich in manchen Aspekten aber nicht unerheblich. So seien Straftaten von der Rechtspraxis als Verstoß gegen Gesetze qualifiziert worden, von den Flugblattverfassern dagegen eher als Verletzung einer gottgegebenen Ordnung und als Sünde.

 

Anhang I hat ein Literaturverzeichnis zum Inhalt, unterteilt in Flugblattsammlungen, Primärliteratur aus der Barockzeit und Forschungsliteratur (S. 273ff.). Anhang II umfasst eine „Auflistung der exemplarischen Flugblätter nach Sammlungen“ (S. 285ff.). Anhang III bietet ein „Abbildungsverzeichnis der Flugblätter“, geordnet nach Themenbereichen (S. 291ff.). Anhang IV schließlich enthält die Abbildungen der in Anhang II und III aufgelisteten, 129 Flugblätter.

 

Der Verfasser stellt ausführlich und anschaulich dar, welche Themen in den zahlreichen, von ihm ausgewerteten Flugblättern behandelt werden, welche Vorstellungen von Recht und Unrecht ihnen zu Grunde liegen und mit welchen ästhetischen Mitteln diese Botschaften unter das „Volk“ gebracht wurden. Problematisch ist seine weitergehende Zielsetzung, mit Hilfe der Flugblätter den „volkstümlichen Unrechtsbegriff“ der frühen Neuzeit zu ermitteln. Der Autor verwendet diesen Begriff in einem doppelten Sinn: „In ihnen wird dem ‚Volk’ von den Flugblattverfassern  (…) ein Unrechtsbegriff vermittelt, gleichzeitig ist in ihnen die Auffassung des ‚Volkes’ zu finden; denn nur Flugblätter, die die Ansicht des Volkes artikulieren, werden ihre Abnehmer finden“ (S. 13). Der Verfasser hätte jedoch zwischen den im „Volk“ herrschenden Auffassungen und den Vorstellungen, die von Autoren und Auftraggebern unter das „Volk“ gebracht wurden, deutlich unterscheiden müssen. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass in den Flugblättern populäre Ansichten aufgegriffen wurden. Vielleicht hielten die Verfasser es aber auch für nötig, das „Volk“ im Sinne ihres eigenen Unrechtsbegriffs zu beeinflussen, weil sie wussten, dass dort andere, von ihnen nicht gebilligte Auffassungen herrschten. Der Autor stellt denn auch im „Fazit“ fest, die Verfasser der Flugblätter hätten „wie die Obrigkeit systemstabilisierend und sozialdisziplinierend wirken“ sollen (S. 266, ähnlich S. 195).

 

Kritisch zu vermerken ist auch, dass der Autor sich stärker auf den Gegenstand seiner Untersuchung, die Flugblätter der frühen Neuzeit, hätte konzentrieren sollen. So sind die Ausführungen über den „Unrechtsbegriff im Wandel der Jahrhunderte“ (S. 15ff.) und die „historischen Hintergründe des Unrechtsbegriffs der Frühen Neuzeit“ (S. 37ff.) einerseits zu knapp, als dass sie den darin angesprochenen, sehr umfassenden Fragen gerecht werden könnten; andererseits sind sie im Hinblick auf das Thema teilweise entbehrlich.

 

Trotz dieser kritischen Anmerkungen sei betont, dass der Autor im Hinblick auf die Erfassung, Beschreibung und Charakterisierung des Inhalts der Flugblätter eine nützliche Arbeit vorgelegt hat. Wer sich mit den Flugblättern der frühen Neuzeit beschäftigt, wird die Untersuchung mit Gewinn zu Rate ziehen.

 

Heidelberg                                                      Hans-Michael Empell