Weinreich, Bettina, Strafjustiz und ihre Politisierung in SBZ und DDR bis 1961. Auswertung von Dokumenten und Urteilen unter Berücksichtigung des historischen Zusammenhanges (= Europäische Hochschulschriften 2, 4150). Lang, Frankfurt am Main 2005. 595 S., 1 Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Arbeit ist die von Jan C. Joerden betreute, im Sommersemester 2004 von der juristischen Fakultät der Universität Frankfurt an der Oder angenommene Dissertation der nach erfolgreichem Abschluss ihres rechtswissenschaftlichen Studiums seit 1998 als Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung sowie Rechtsphilosophie tätigen Verfasserin. Ihr Ziel ist es, aufzuzeigen, wie und warum das Rechtssystem der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik so funktionieren konnte. Zu Recht lehnt sie es dabei ab, den diktatorischen Staat als Ganzen zu verteufeln und seine Ideologie als Gesinnungsmüll abzutun.

 

Gegliedert ist die Untersuchung in drei Teile. Sie betreffen die rechtstheoretische Grundlage des sozialistischen Rechts, die strafrechtliche Entwicklung und Strafjustiz auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone und der DDR und Urteil und Sprache als Mittel der Agitation und Propaganda. Am Ende folgen verschiedene kurze Anlagen (u. a. Übersichten über Strafverfahren bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Erfurt 1952, 1953 und 1954, Übersicht über die Straftaten gegen das sozialistische Eigentum und das private Eigentum im Bezirk Frankfurt an der Oder 1976-1988).

 

Bei den rechtstheoretischen Grundlagen geht die Verfasserin von der Religionskritik als Vorläuferin und Begleiterin marxistischer Ideen aus. Danach schildert sie den dialektischen Materialismus, den historischen Materialismus, die materialistische Rechtskritik und die marxistisch-leninistische Staatstheorie in der DDR. Von dort aus untersucht sie besonders die Oktoberrevolution von 1917 in Russland als Beginn einer kommunistischen Rechtsentwicklung.

 

Der Hauptteil der Arbeit ist im Wesentlichen chronologisch gegliedert. In einzelnen Abschnitten erörtert die Verfasserin Begriff, Aufgabe und Wesen des sozialistischen Rechts auf dem Gebiet, der SBZ/DDR, die Entwicklung des Rechts in der sowjetischen Besatzungszone bis 1949, insbesondere die des Strafrechts, die Strafrechtsprechung in der DDR bis zum Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. 12. 1957 (Staatsschutzdelikte, Wirtschaftsdelikte, Verbrechen gegen das Volkseigentum), die Rechtsprechung in der DDR nach dem Strafrechtsergänzungsgesetz bis zum 13. August 1961 (Strafensystem, Verratstatbestände, Staatsgefährdungstatbestände, andere staatsgefährdende Akte, Straftaten gegen das sozialistische Eigentum) sowie kurz die DDR am Anfang der 60er Jahre. Dabei legt sie die historische Situation und die Ursachen für die Abschottung der DDR von der westlichen Welt dar und vermittelt einen kurzen Abriss über die rechtswissenschaftliche Entwicklung.

 

Im dritten Teil zeigt die Verfasserin die Entwicklung einer neuen Sprache auf. Danach weist sie auf den erzieherischen Aspekt der Verurteilungen hin und erläutert den formalen Aufbau des Urteils. Bei der Urteilssprache, bei der ein zu 1. logisch notwendiger zweiter Punkt und ein zu einem a) logisch gehörendes b) zu fehlen scheinen, bietet sie sprachliche Besonderheiten (Verdeutlichung von Feindbildern, Verwendung von Kampfbegriffen, sprachliche Mobilmachung, Verwendung von Zynismen, Verwendung von Schimpfwörtern, Verwendung von Adjektiven, Verwendung von Bindestrichwörtern, Verwendung von Euphemismen, Herstellung von unlogischen Zusammenhängen, Aneinanderreihung von Genitivattributen und Substantivierung von Verben), Beschreibung des Angeklagten und seines Verhaltens in der juristischen Sprache und Stellung des Angeklagten.

 

Insgesamt gelangt die verdienstliche Untersuchung zu dem Ergebnis, dass der Wunsch, den Nationalsozialismus hinter sich zu lassen und Wiedergutmachung leisten zu können, die Menschen in der SBZ/DDR vereinigt habe, was allerdings kaum überzeugen kann, weil die Vereinigung der Menschen in der SBZ/DDR wohl eher der Grenzziehung der Besatzungszonen geschuldet gewesen sein dürfte, innerhalb deren nur einige bestimmende Funktionäre bestimmte politische Zielvorstellungen gehabt und durchgesetzt haben dürften. Deswegen wurde der von ihnen vorgeschriebene - und damit nicht wirklich innerlich einende - Antifaschismus immer mehr auch zum Deckmantel für die politisch-diktatorische Entwicklung. Die von Beginn an unglückselige enge Anbindung an die Sowjetunion habe einen erfolgreicheren deutschen Weg verhindert, weil die DDR bis zum Schluss eine sowjetische Exklave auf deutschem Gebiet geblieben sei.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler