Weinke, Annette, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst - Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958-2008 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg 13). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2009. 224 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Jubiläumsschriften sind in der Regel von großzügigem materiellem Aufwand und  prominenten Grußadressen geprägt, ein Usus, zu dem der inhaltliche Ertrag solcher Publikationen nicht selten in keinem adäquaten Verhältnis steht. Dem gegenüber tritt das vorliegende Buch Annette Weinkes, wenn auch nicht ausdrücklich als Festschrift deklariert, so doch 2008 pünktlich zum fünfzigjährigen Bestehen der Zentralen Stelle Ludwigsburg erstmalig erschienen und nun, im Text unverändert, erneut aufgelegt, in seiner Aufmachung betont bescheiden und zurückhaltend auf.

 

Vielleicht spiegelt diese Zurückhaltung unbewusst die Skepsis in weiten Kreisen der bundesrepublikanischen Gesellschaft wider, welche die Arbeit der Ludwigsburger Behörde von Anfang an begleitet hat. Auf der einen Seite wurde zwar die sozialhygienische Bedeutung einer juristischen Aufarbeitung und Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen unzweifelhaft erkannt, zum anderen war man sich aber auch bewusst, dass die verspätete Beschäftigung mit dieser Materie zahlreiche Erschütterungen im personellen Gefüge der Republik mit weit reichenden politischen Konsequenzen auslösen könnte und würde. Belastete Nationalsozialisten, die aus unterschiedlichen Gründen durch die Maschen der alliierten Verfolgungsmaßnahmen geschlüpft waren, waren in weiterer Folge durch alte „Seilschaften“ wieder in bedeutende Positionen in Exekutive und Justiz aufgerückt.

 

Mit Sorgfalt zeichnet die 2001 mit ihrer Dissertation zum Thema „Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland“ promovierte Historikerin Weinke die Geschichte des Ludwigsburger Projektes in diesem Spannungsfeld nach. Die Repatriierung einer erheblichen Zahl deutscher Kriegsverbrecher, die seit 1955 aus sowjetischem Gewahrsam an die Bundesrepublik und die DDR überstellt worden waren, hatte die zuständigen Stellen nach und nach zu einer Systematisierung der zunächst durch Zufälligkeiten bestimmten justiziell-administrativen Praxis gegenüber früheren Tätern und Mitläufern, wie sie auch in dem großes Aufsehen erregenden, sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess  deutlich geworden war, gezwungen. Die Bemühungen gipfelten 1958 in dem nach erheblichen Geburtswehen gefassten Entschluss der Länder zur Etablierung der „Zentrale(n) Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“, angesiedelt im baden-württembergischen Ludwigsburg.

 

Als „kardinale Geburtsfehler“ der jungen Institution, die „auch durch nachträgliche Korrekturen nicht mehr behoben werden konnten“, nennt Annette Weinke ihren „temporäre(n) Charakter … als auch die immanente Begrenzung ihrer Zuständigkeit“ (S. 28). Der bis dahin in der deutschen Strafprozessordnung nicht vorgesehene Begriff der „Vorermittlung“ wurde kreiert, um eine Kompetenz zu beschreiben, welche die Vernehmung von Beschuldigten und ein Weisungsrecht gegenüber der Polizei explizit einbezog, aber eine Anklageerhebung vor Gericht ausschloss. Die Aufgabe der Zentralen Stelle bestand also im Wesentlichen darin, relevantes Material zu erheben und zu sichten und dieses „anklagefähig“  den jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften vorzulegen. Nach dem Prinzip einer regionalen Gliederung erhielt jeder Mitarbeiter die räumliche Zuständigkeit für einen bestimmten Tatort und Tatkomplex, deren historische Zusammenhänge er penibel zu recherchieren und zu rekonstruieren hatte. Zu beschränken waren die Ermittlungen nach der Verwaltungsvereinbarung  ausschließlich auf Straftaten, die außerhalb des Bundesgebietes in Konzentrationslagern, Ghettos oder durch Einsatzgruppen gegenüber Zivilpersonen außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen verübt worden waren. 1964 wurden die Kompetenzen auch auf Inlandsstraftaten ausgedehnt, was einen erheblichen Arbeitsanfall zur Folge hatte.

 

Im Weiteren zeichnet die Autorin ein differenziertes Bild vom Wirken der Ludwigsburger Zentralstelle im gesellschaftspolitischen Kontext. Dass die Bruchlinien auch vor der Behörde selbst nicht Halt machten, zeigt sie am Fall  von deren Leiter Erwin Schüle, der - laut Weinke  „sprachlich und habituell … auf das Niveau der … Traditionsverbände und Wehrmachts-Fetischisten zurückgeworfen“ (S. 95) - 1966 auf sowjetischen Druck hin über den höchst ungeschickten Umgang mit seiner eigenen NS-Vita stolperte. Als Kontrapunkt zu Schüle, mit gleichzeitig interessanten Facetten zum Gender-Aspekt, präsentiert sie den Einsatz der mutigen Mannheimer Staatsanwältin Barbara Just-Dahlmann, die sich unter anderem nicht scheute, die Durchdringung der bundesdeutschen Polizei mit belasteten NS-Tätern öffentlich anzuprangern und damit ins allgemeine Bewusstsein zu rücken, was ihr einigen Respekt, aber zugleich und vor allem mancherlei Unbill eintragen sollte.

 

Auch die rechtlichen Probleme, die sich aus der späten Verfolgung der Verbrechen der nationalsozialistischen Ära ergaben und mit denen sich die Ludwigsburger Stelle elementar konfrontiert sah, lässt Annette Weinke nicht außer Acht. Die entscheidende Crux lag in dem Umstand begründet, dass viele Straftaten seinerzeit vom Staat „teils angeordnet, teils initiiert und gedeckt“ worden waren. Als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches lehnte die Bundesrepublik die Anwendung rückwirkender alliierter Normen nach dem Nürnberger Modell mit der Schaffung spezieller Tatbestände, die „zum einen die arbeitsteilige und hierarchisierte Form der Verbrechensausübung berücksichtigten, … zum anderen die Strafausschließungs- und Schuldminderungsgründe des traditionellen deutschen Strafrechts … stark einschränkten“, de facto strikt ab (S. 62). Der Rückgriff auf die Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 konnte jedoch der diffizilen Materie nicht gerecht werden. So führte beispielsweise die überaus großzügige Auslegung der Beihilfe-Bestimmungen zu einer inflationären sogenannten „Gehilfenrechtsprechung“ mit extremen Diskrepanzen zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Würdigung und damit zu empörenden Fehlurteilen. Otto Bradfisch, ehedem SS-Obersturmbannführer und Chef eines Einsatzkommandos, nach Einschätzung der Zentralen Stelle Ludwigsburg für mindestens 140.000 (!) Morde verantwortlich, wurde demnach nur wegen Beihilfe verurteilt, wobei mit zehn Jahren Haft nicht einmal der dafür vorgesehene gesetzliche Strafrahmen im vollen Umfang ausgeschöpft wurde.

 

Die schon 1958 erfolgte Ausklammerung von Kriegsverbrechen aus der Zuständigkeit der Ludwigsburger Ermittler sieht Weinke als hauptverantwortlich für eine „jahrzehntelange, insgesamt nur als skandalös zu bezeichnende Nichtverfolgung“ an. Erst der außenpolitische Druck durch einen „fundamentalen Umschwung in der italienischen Kriegsverbrecherpolitik“ seit der Mitte der 1990er Jahre bewog die deutschen Justizbehörden schließlich zu späten Aktivitäten gegen inzwischen hochbetagte Täter, wie beispielsweise gegen den ehemaligen Referenten für weltanschauliche Erziehung im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Friedrich Siegfried Engel, der 93jährig 2002 vom Hamburger Landgericht in erster Instanz zu sieben Jahren Haft wegen Mordes in Mittäterschaft verurteilt werden konnte.

 

Trotz dieser zum Teil spektakulären Verfahren sieht die Autorin die Gesamtbilanz der Zentralen Stelle Ludwigsburg nüchtern. Die grundlegende Entscheidung, für die Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen kein Sonderrecht zu schaffen, habe zu „starken Inkonsistenzen in der Rechtsprechung“ geführt, die juristische Bilanz ergebe insgesamt einen „Fehlschlag“, weil die Strafverfolgung „langfristig keinerlei Ergebnisse hervorbrachte, die bei der Ahndung von Makrokriminalität in irgendeiner Weise modellbildend geworden wären“ (S. 168/169). Man wird diesem Urteil beipflichten müssen, die Ursache für den Misserfolg wohl schon im Dilemma des Auftrages – eine Gesellschaft gegen sich selbst ermitteln zu lassen - verorten dürfen.

 

Wer sich – wie der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Rainer Blasius in seiner Besprechung der Erstauflage – einen tieferen Einblick in die internen Arbeitsabläufe der Ludwigsburger Behörde wünscht, wird allerdings bei Annette Weinke wenig fündig werden. Auch Organigramme, statistisches Basismaterial und Abbildungen reklamiert der interessierte Leser ihrer inhaltlich vielschichtigen und ertragreichen Studie vergeblich. Ein Manko, dem leicht abzuhelfen wäre.

 

Kapfenberg                                                                            Werner Augustinovic