Von den leges barbarorum bis zum ius barbarum des Nationalsozialismus. Festschrift für Hermann Nehlsen zum 70. Geburtstag, hg. v. Hermann, Hans-Georg/Gutmann, Thomas/Rückert, Joachim/Schmoeckel, Mathias/Siems, Harald. Böhlau, Köln 2008. XIII, 780 S. Besprochen von Urs Reber.

 

Zum 70. Geburtstag am 15. August 2006 ehrten die Schüler, Freunde und Kollegen Hermann Nehlsen mit einem Symposium und widmeten ihm die hier zu rezensierende Festschrift. Karl Kroeschell hielt die freundschaftliche Laudatio, die im vollen Wortlaut den stattlichen Band eröffnet. Der Geehrte wurde 1936 in Papenburg an der Ems geboren, wuchs in Bremen auf und absolvierte sein juristisches Studium in Hamburg, Innsbruck und Freiburg im Breisgau, wo er 1965 bei Hans Thieme mit einer Arbeit über „Die Freiburger Patrizier-Familie Snewlin“ promovierte. Die Habilitation erfolgte 1971 in Göttingen mit der Untersuchung „Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter“. In der Folgezeit haben sich die Universitäten Berlin, Innsbruck und Regensburg bemüht, Hermann Nehlsen zu gewinnen. Er entschied sich jedoch 1974, den Ruf nach München als Nachfolger von Hermann Krause anzunehmen, und wirkte dort während dreier Jahrzehnte bis zu seiner Emeritierung mit großem Lehrerfolg. Joachim Rückert beleuchtet mit seiner Erinnerungsskizze „Aus Münchener Tagen“ die Schwerpunkte dieser Tätigkeit.

 

Die nahezu vierzig Beiträge widerspiegeln in ihrer Themenvielfalt die ganze Bandbreite der Forschungen des Jubilars. Sie sind in fünf Abteilungen gegliedert: Recht in Mittelalter und Neuzeit, Recht im 19. Jahrhundert, Juristische Zeitgeschichte und Nationalsozialismus, Quellenprobleme sowie geltendes Recht, Grundlagen und Didaktik. Die Besprechung beschränkt sich - wie übrigens auch die Referate des Symposiums - auf  Beiträge der ersten Abteilung und der Abteilung Quellenprobleme.

 

Die Beiträge zu „Recht in Mittelalter und Neuzeit“ beginnen mit einer Untersuchung Kathrin Bayerles über den weltlichen Bann im Frühmittelalter. Sie stellt fest, dass weder der etymologische Hintergrund noch die unternommenen Systematisierungsansätze noch die Paarformeln überzeugende Hinweise auf die Ursprünge des weltlichen Bannes liefern können. Es werden deshalb einige ausgewählte Einsatzfelder untersucht. Sie kommt zum Ergebnis wird, dass der weltliche Bann als charakteristisches Kennzeichen der fränkischen Herrscher erst in den Kapitularien der Karolinger zu Tage tritt (Vorstufen finden sich in der Lex Salica, im Dekret Childeberts II. und in der Lex Ribuaria wird der Bann ausdrücklich erwähnt). Zentrales Einsatzfeld war die Wahrung der königlichen Autorität. Gerhard Dilcher äußert sich zur Eigenart des langobardischen Rechts innerhalb der Leges. In der Linie der Rechtsaufzeichnungen der Westgoten und Burgunder steht das Edictum Rothari der Langobarden als Spätling, kulturell gesehen schon nicht mehr der Spätantike zugehörig. Dieses geht nicht mehr auf die Stellung der Römer ein, wird nicht von einer lex Romana begleitet und ist in einem stark vulgären Latein abgefasst. „Giovanni Boccaccio und die Juristerei. Rechtshistorische Aspekte des Dekameron“ lautet der Titel des Beitrags Bernd Kannowskis. Man erfährt darin, dass der berühmte Dichter kanonisches Recht studiert hat und in Florenz zeitweilig als Richter und Notar wirkte. Im Dekameron stammen die ausgewählten Persönlichkeiten des Rechtslebens (der boshafte Notar, der habgierige Inquisitor, das hässliche Richtergenie, der Wollüstige im Richteramt und der geläuterte Straßenräuber) sowie die Gerichtsszenen aus dem Bereich der peinlichen Gerichtsbarkeit und bieten Boccaccio Gelegenheit, mit beißendem Spott die Missstände des Rechtswesens seiner Zeit anzuprangern. Gerhard Köbler widmet Hermann Nehlsen, der aus dem alten Sachsen oder wenigstens dessen unmittelbarer Nähe stammt und sich für die Unfreiheit schon immer besonders interessiert hat, eine kleine Studie zu Freiheit und Unfreiheit bei den Sachsen. Er untersucht zu diesem Zweck vier frühkarolingische Rechtstexte. „Das Bild der Sozialgeschichte in den Leges Barbarorum. Analysenperspektiven“ bildet den Titel des Beitrags Adelheid Krahs. Detlef Liebs beschäftigt sich in seinem Beitrag mit zwölf ausgewählten Konflikten zwischen römischen und germanischen Rechtsvorstellungen in der Spätantike, die sich während der Völkerwanderung vom späten 4. bis frühen 7. Jh. zugetragen haben. Er möchte damit der Konkurrenz der beiden Rechtskulturen und den Problemen ihrer Kohabitation näher kommen. Vorsichtig spricht er von „Rechtsvorstellungen“, weil es im Gegensatz zum römischen Recht ein gemeinsames germanisches Recht nicht gab. Unter diesen Konflikten findet sich etwa das Mischehenverbot zwischen Provinzialrömern bzw. Provinzialrömerinnen und Barbarenfrauen bzw. Gentilen, die Vorgeschichte der Schlacht von Adrianopel (Erhebung der durch Ansiedelungsvertrag in das Reich aufgenommenen Westgoten), das Blutbad von Tessalonike von 390 n. Chr., das auch Ambrosius empörte (ausgelöst durch die Verhaftung eines homosexuellen Sportlers), Kleidungsvorschriften für die Barbaren, der Kampf um Rom 408 bis 410 n. Chr., die Gewaltverbote des Edictum Theodorici, Besteuerungen von Freien u. a. Den Ausschlag für den Ausgang der Konflikte gaben die jeweiligen Machtverhältnisse. Der Beitrag Heiner Lücks beginnt mit folgendem Satz: „Kurz nach der Kaiserkrönung Karls des Großen (768-814) im Jahre 800 lassen sich binnen eines knappen Jahrzehnts mehrere Ereignisse beobachten, welche für die Stabilität des Fränkischen Reiches, vor allem in seinen östlichen Gebieten von entscheidender Bedeutung waren“. Diese Feststellung veranlasst ihn, den wilden Osten, die fränkischen Herrschaftsstrukturen im  Geltungsbereich der Lex Saxonum und der Lex Thuringorum, insbesondere die fränkisch-slawische Grenzsicherung zu untersuchen.  Erstaunliches erfährt man im Aufsatz Hannes Ludygas über die obrigkeitlichen Verehelichungsbeschränkungen als Mittel der Armenfürsorge im 18. Jh. (die entsprechenden Verbote erreichten im 19. Jh. ihren Höhepunkt). Personen, die sich nicht selbst ernähren konnten, durften nicht heiraten. Da sich gerade zu dieser Zeit die Situation der Armen verschlimmerte, wurde dies für die meisten Menschen zu einer starken Belastung. Sogar der Naturrechtler Samuel von Pufendorf sprach sich gegen eine Heirat armer Menschen aus. Man wollte auch den Einfluss der Kirche auf Ehesachen ausschalten und auf die individuellen Lebenspläne keine Rücksicht nehmen. Nur wenige Kameralisten, die an eine Vervollkommnung der Staatsgewalt und einer damit einhergehenden ausreichenden Versorgung der Armen glaubten, wehrten sich gegen diese Beschränkungen, deren Wirksamkeit allerdings überschätzt wurde. Karin Nehlsen-von Stryk befasst sich mit „Prozessualer Verteidigung und Überführung im Zuge der Friedensbewegung des hohen Mittelalters“. Der Skepsis bezüglich der Effektivität der einzelnen Frieden steht eine durchwegs positive Einschätzung der Langzeitwirkung der ganzen Bewegung gegenüber: Auf sie ist der Durchbruch zum peinlichen Strafrecht, die Umbildung der Hochgerichtsbarkeit zur Blutgerichtsbarkeit und die Umbewertung der Fehde durch Kriminalisierung einzelner Fehdeakte zurückzuführen. Auch das Beweisrecht entwickelte sich weiter. Der Friedensbewegung werden die Intensivierung herrschaftlicher Ordnung und damit staatsbildende Funktionen zuerkannt. Die Autorin nennt verschiedene Beispiele aus den Quellen, darunter die Constitutio contra incendiarios, den sogenannten Nürnberger Brandstifterbrief von 1188. Gerhard Otte macht den vorletzten Satz im Prolog des Sachsenspiegels zu einem textkritischen Thema: „Got is selve recht“: Recht oder gerecht? Als Quelle für die lateinische Fassung von Eike von Repgow sieht er Psalm 10 Vers 8, der im Psalterium Romanum lautete: Quoniam iustus Dominus iustitiam dilexit. Von einer Freilassungsurkunde des Notars Lamberto di Sambuceto handelt der Beitrag Thomas Rüfners. Inhaltlich zeigt die Urkunde das große Interesse des Sklaveneigentümers selbst, den Freilassungsakt rechtsbeständig und unanfechtbar zu machen. Das Versprechen nahm stellvertretend für die Sklavin ein Notar entgegen. In seinem Beitrag über die Überzeugungskraft der Ordale (Gottesbeweise) in merowingischer Zeit zeigt Mathias Schmoeckel, dass das Ordal schon vor der Christianisierung Eingang in den Prozess der Germanen gefunden hatte, obschon sich in dieser klassischen Frage der deutschen Rechtsgeschichte bedeutende Germanisten wie Wilda und Amira für einen christlichen Einfluss aussprachen. Der Wunderglaube nahm im Rahmen der Missionierung der Franken eine starke Stellung ein, wobei offensichtlich die größere Stärke des Christengottes als zentrales Argument galt. Der Autor verweist wiederholt auf Gregor von Tours, dessen Frankengeschichte als wichtigste Quelle für die Anfänge des Merowingerreichs anzusehen ist. Schließlich beschreibt Dieter Strauch die Grundzüge des mittelalterlichen skandinavischen Sklavenrechts und liefert dazu ein Quellen- und Literaturverzeichnis.

 

In der Abteilung „Quellenprobleme“ untersucht Christoph Becker die Akten des Augsburger Notars Johann Spreng (1524-1601) und gibt damit einen Einblick in das Rechtsleben eines frühneuzeitlichen europäischen Wirtschaftszentrums (S. 480 zeigt ein Bildnis Sprengs, S. 485 sein Notarsignet). Der Beitrag Wolfgang Forsters befasst sich mit westgotischen Inschriften auf Schiefertafeln, die sich in einem relativ fest umrissenen Gebiet südwestlich der Linie Ávila-Salamanca mit einer Ausdehnung etwa einer der 50 Provinzen des heutigen spanischen Staates erhalten haben und ca. aus dem 6. bis 8. Jahrhundert stammen. Sie zeigen in ihrer Mehrzahl nur in Zeilen angeordnete Ziffern. Ihre Erklärung ist schwierig. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit der Landwirtschaft. Daneben gibt es Aufzählungen, Tafeln mit Namen und Maßangaben sowie Tafeln über einzelne Rechtsgeschäfte. Besonderes Interesse weckt eine aus drei Bruchstücken wieder zusammengesetzte Tafel mit Eidesformeln (condiciones sacramentorum). Eine Tafel enthält eine sog. securitas, mit deren Ausfertigung ein Streitfall rechtskräftig und endgültig beigelegt werden sollte. Mit diesen Tafeln schufen die westgotischen Landleute eine Voraussetzung für den Erhalt der lateinischen Kultur auch nach der arabischen Invasion. Von Tatsushi Genka stammt ein textkritischer Beitrag zum Prologus des Ivo von Chartres (ca. 1040-1115) in der Lütticher Handschrift UB 230, darin setzt er sich vor allem mit den neueren Forschungen des amerikanischen Historikers Bruce C. Brasington auseinander. Hans Henning Hoff untersucht das Verhältnis der Grágás zu den Isländersagas und den sogenannten Gegenwartssagas. Der letzte Beitrag dieser Abteilung stammt von dem leider bereits verstorbenen Florentiner Gelehrten Piergiuseppe Scardigli und trägt den Titel: „Im Westen nichts Neues. Riflessioni sui ‚barbari’ nell’attualità (italiana)“.

 

Im Anhang findet sich eine Liste 35 ausgewählter Veröffentlichungen Hermann Nehlsens, die einen Überblick über das reiche Wirken des Geehrten gewähren.

 

Zürich                                                                                                            Urs Reber