Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, hg. v. Wirsching, Andreas/Eder, Jürgen (= Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Wissenschaftliche Reihe 9). Steiner, Stuttgart 2008. 330 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Die Geschichte der Weimarer Republik ist bis vor einigen Jahren vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachtet worden, welche Kräfte für oder gegen Demokratie wie Republik gewesen seien. Nachdem im Anschluss daran unter kulturgeschichtlichen Fragestellungen die Vielfalt, Dynamik und Offenheit des Geisteslebens dieser Zeit betont wurde, knüpft der vorliegende Band an das dadurch entstandene neue Bild an, kehrt aber (wenn auch nicht ausschließlich) zur politischen Geschichte zurück.

 

Der Begriff des „Vernunftrepublikanismus“ wurde bisher auf Teile des Bürgertums übertragen, die sich mangels Alternativen mit der Weimarer Republik abfanden. Und so ist es nicht überraschend, dass in diesem Band zahlreiche Vertreter davon abgehandelt werden: Literaten wie Thomas Mann, Historiker wie Friedrich Meinecke, Publizisten wie Friedrich Naumann und Willy Haas, protestantische Theologen wie Ernst Troeltsch, doch auch Naturwissenschaftler wie Albert Einstein, Fritz Haber und Max Planck. Von unmittelbarem rechtsgeschichtlichem Belang ist allein die Studie Christoph Gusys über den „Vernunftrepublikanismus“ in der Staatsrechtswissenschaft. Ausgehend von drei Vertretern dieser Richtung (Gerhard Anschütz, Wilhelm Kahl, Alexander Graf zu Dohna) kommt er zu dem Schluss, dass die Anwendung des Begriffs auf die Professoren des öffentlichen Rechts problematisch sei. Denn wissenschaftlich korrekte und „vernünftige“ Anwendung der Methoden lässt keine Rückschlüsse auf die politische Einstellung des Wissenschaftlers zu. Mehr oder weniger hätten alle dem Positivismus gehuldigt und das neue Staatsrecht auf allen Ebenen akzeptiert, in dem sie es zum Ausgangspunkt ihrer Studien nahmen. Mit fast allen Vernunftrepublikanern sei ihnen eine Skepsis gegenüber der westlichen Form von Parlamentarismus und Demokratie gemeinsam gewesen, bei gleichzeitigem Mangel an vertieften Kenntnissen über deren Grundlagen.

 

In diesem Sinne hat der Begriff des Vernunftrepublikanismus aber für das Verständnis der Weimarer Republik bisher eher eine periphere Rolle gespielt. Folglich wird er hier auch nur als Ausgangspunkt genommen, von dem aus er wesentlich erweitert werden soll, um letztlich ein offeneres und flexibleres Interpretament für die politische Entwicklung zwischen 1918 und 1933 zu schaffen.

 

Ansatzpunkt ist die Erkenntnis, dass sich damals die unterschiedlichsten, ja sogar antagonistischen Lager auf die „Vernunft“ beriefen. Freilich werden damit auch sofort die Grenzen des Ansatzes dadurch offenbar, dass auch die Feinde der Republik der Vernunft, nämlich einer ideologisch-utopischen, huldigten und dass die nicht extremistischen Zeitgenossen selbst niemals ein alles umfassendes Lager der „Vernunftrepublikaner“ kannten. „Vernunft im republikanischen Sinne“, wie sie Andreas Wirsching nennt und die das Leitparadigma des Bandes ist, als Basis aller, die das System zumindest nicht ablehnten, ist also ein nachträgliches Konstrukt. Hingegen war die republikanische Vernunft als solche durchaus anzutreffen. Denn wie die Beiträge belegen, die sich mit Parteien, intellektuellen Zirkeln, Verbänden oder auch Einzelnen befassen, haben überraschend viele in den unterschiedlichsten politischen, ideologischen und kulturellen Milieus ihre Hinwendung oder gar Unterstützung des neuen Staates mit der Berufung auf politische Vernunft und Verantwortungsbewusstsein gerechtfertigt. Freilich war die Spannbreite groß. Sie reichte von einem nüchternen sich Abfinden bis hin zum Ideal einer politischen Kultur des vernünftigen und kritischen Diskurses.

 

Eine praktische Auswirkung des Vernunftrepublikanismus war der Verzicht auf alle das Bestehende überwindende Utopien: auf der Linken der Marsch in die klassenlose Gesellschaft der Zukunft und im bürgerlichen Lager der zurück ins verherrlichte Kaiserreich. Daraus resultierte dann auch wenigstens eine Konvergenz im Geschichtsbild: der Weimarer Republik wurde eine eigenständige historische Legitimität zugebilligt. Hier lag in der Tat bei allen die Republik mitgestaltenden Politikern, Intellektuellen, Wirtschafts- und Gewerkschaftsführern eine die Lager und politischen Präferenzen übergreifende Gemeinsamkeit. Wenn man das Kriterium nicht überdehnt, dann kann man auch noch eine Generation der Vernunftrepublikaner konstruieren. Denn es fällt auf, dass sich ganz überwiegend Männer zum Vernunftrepublikanismus bekannten, die im Jahrzehnt vor und nach der Reichsgründung geboren worden waren, den Zenit ihrer Laufbahn schon hinter sich hatten und in den Jahren der Krise materiell und geistig als gefestigt gelten konnten. Das heißt aber auch - und hier zeigt sich deutlich das begrenzte integrative Potenzial des Vernunftrepublikanismus - dass er der Kriegsgeneration und all denen, die ihr Leben noch vor sich hatten, die ein politisches wie geistiges Gehäuse für ihre individuellen Lebensentwürfe suchten, nichts zu bieten hatte.

 

Der Begriff des Vernunftrepublikanismus wird auch noch darüber hinaus differenziert. Das bisherige Verständnis ist bei dem sich Abfinden aus Mangel an Alternativen stecken geblieben. Zieht man die Summe aus mehreren Beiträgen, dann wird doch deutlich, dass zahlreiche Politik und Gesellschaft mitgestaltenden Kräfte ein funktionales Verhältnis zur Weimarer Republik hatten. Damit ist gemeint, dass sie in unterschiedlicher Intensität bereit waren, diese zu stützen, solange sie auf ihrem Boden das, was sie als ihre Ziele und Aufgaben ansahen, erreichen konnten. Daher ist es nur konsequent, dass sich auch die Zuneigung der Vernunftrepublikaner abkühlte, als die Republik nicht mehr funktionierte. Das unterstreichen fast alle Aufsätze. Die Bindung an die Republik war also in diesem Sinne nur rational. Und auch unter diesem Aspekt ist die Weimarer Republik ein gutes Beispiel dafür, dass ein Staat auf Dauer ohne normative Einbindung seiner Bürger nicht leben kann - spätestens, wenn auf diese außergewöhnliche Belastungen zukommen, wird das offenbar. Insofern ist es auch kein Trost, dass durch das Interpretament „Vernunftrepublikanismus“ die Zahl derjenigen, die Parlamentarismus und Demokratie akzeptierten, sich als größer erweist, als bisher angenommen.

 

Das Verdienst dieses Sammelbands, der ein Kolloquium der Theodor-Heuss-Stiftung von 2006 resümiert, liegt darin, dass er den bisher randständigen und blassen Begriff des „Vernunftrepublikanismus“ so sehr vertieft hat, dass er dazu taugt, die Geschichte der Weimarer Republik offener zu interpretieren, weil er die Dichotomie von Demokraten und Antidemokraten überwindet und nicht sofort die Zwangsläufigkeit des Scheiterns impliziert. Es wird herausgearbeitet, dass eine beträchtliche Anzahl relevanter Kräfte durchaus bereit war, der Republik, wenn auch ohne emotionale Bindung, eine Chance zu geben, solange sie sich in deren Sinne als leistungsfähig erwies.

 

Eichstätt                                                                                 Karsten Ruppert