Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800-1800. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft/Kunsthistorisches Museum Magdeburg, Darmstadt/Magdeburg 2008. 256 S. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Mit diesem aufwendig ausgestatteten und typographisch vorzüglich gestalteten Werk wird eine Publikation vorgelegt, die einerseits eine Dokumentation der Kooperationsausstellung des Sonderforschungsbereiches 496 der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster/Westfalen mit dem Kulturhistorischen Museum Magdeburg bietet, anderseits die Ergebnisse des Münsteraner Sonderforschungsbereiches, der das Verhältnis von symbolischer Kommunikation und gesellschaftlichen Wertesystemen vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution zum Gegenstand hat, einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren möchte. Die Ausstellung selbst fand in der Zeit vom 21. September 2008 bis zum 4. Januar 2009 im Magdeburger Museum statt. Entsprechend dieser doppelten Zielsetzung gliedert sich der Band in zwei Teile, einen ersten, der knappe Essays über die verschiedenen Formen der Rituale als Ausdruck symbolischer Kommunikation wertbezogener sozialer Handlungen enthält, und einen zweiten, in dem die Exponate der Ausstellung in Wort und Bild beschrieben werden.

 

Dem Ganzen ist eine höchst konzise Darstellung von Wesen, Funktion und Entwicklung der Rituale im Alten Europa aus der Feder von Gerd Althoff und Barbara Stollberg-Rilinger vorangestellt, in der nicht nur die Quellen angegeben werden, aus denen wir unsere Kenntnis von den Formen der Rituale schöpfen, sondern auch eine Erläuterung der in der Ausstellung zusammengestellten Exponate geboten wird. Anders als in der Historiographie mit ihrer üblichen Epocheneinteilung in Frühes Mittelalter, Hohes Mittelalter, Spätmittelalter, Früher Neuzeit usw. sehen die Autoren den Zeitraum von 800 bis 1800 in Bezug auf die Entwicklung der Ritualkultur als eine Einheit an, die erst mit der Französischen Revolution eine grundlegende Änderung erfahren habe. Als Strukturelemente der Ritualitätskultur dieser Zeit betrachten sie zum einen die hierarchische Struktur der gesellschaftlichen Ordnung, die sich in den Ritualen gespiegelt habe, die erst durch die Französische Revolution beseitigt worden sei, und zum anderen die enge Verbindung von Politik und Religion, wobei die Autoren zu Recht auch und nicht zuletzt zum besseren Verständnis der Substanz der Ritualität darauf hinweisen, dass sich Formen der Rituale bis in die Gegenwart, wenn auch in anderer Form und mit anderen Bezügen, vor allem aber mit geringerer Symbolkraft, erhalten haben.

 

In den Essays des ersten Teils werden - angeordnet nach dem politischen und sozialen Gewicht und der Bedeutung für die Kultur der Rituale - die einzelnen Formen erörtert, in denen sich Struktur und Wertbezogenheit der symbolischen Handlungen widerspiegeln. Zu Recht steht an der Spitze die Behandlung des wichtigsten Rituals des in Rede stehenden Zeitraums, nämlich die Wahl und Krönung des Königs bzw. des Kaisers, zunächst im Frühmittelalter, sodann im Hoch- und Spätmittelalter und schließlich in der Neuzeit. Der erste Essay Jutta Götzmanns ist demgemäß der Ritualität und Sakralität der „vormodernen“ Kaiserkrönung wie deren zeitgenössischer Darstellung in der schriftlichen und bildlichen Überlieferung gewidmet. Ob die Bezeichnung „vormodern“ für diese bis zum Ende des Alten Reiches mit wenigen Veränderungen beibehaltene Form des Wahl- und Krönungsritus glücklich gewählt ist, sei dahingestellt. Tatsächlich handelt es sich um die Perpetuierung einer spezifisch mittelalterlichen Form, die wie viele andere aus dem Mittelalter stammende Formen das Reich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beherrscht haben. Ritus von Bischofswahl und Bischofsweihe, deren Ursprünge bis in das 10. Jahrhundert zurückreichen, werden von Arnold Angenendt eingehend behandelt, der auch auf die politische Bedeutung des Bischofsamtes und deren Folgen für das Verständnis des Ritus eingeht. Die Ritualitätsformen zeitlich befristeter Herrschaft, die sich vor allem in den Städten zeigen, erörtert Stefanie Rüther in ihrem Essay. Zutreffend wird von ihr festgestellt, dass es zwar zwischen Ausgestaltung und Abfolge der Rituale in den einzelnen Städten mancherlei Unterschiede gegeben habe, sich gleichwohl aber idealtypische Elemente ermitteln ließen, die für alle Formen gleichermaßen als charakteristisch angesehen werden könnten. Diese werden von der Autorin anschaulich geschildert, wobei freilich festzuhalten ist, dass die Verfassung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt bestenfalls eingeschränkt als „Herrschaft von Gleichen über Gleiche“ gekennzeichnet werden kann, anders als von der Autorin behauptet. Eine wichtige Rolle sowohl im sozialen wie im Rechtsleben spielten die akademischen Rituale. Diesem wichtigen Thema wendet sich Marian Füssel in seiner Abhandlung zu, in der er Ursprung und Formen der Initiationsriten beschreibt, denen sich die Studenten bei ihrer Aufnahme in die Universität zu unterziehen hatten, aber auch die feierlichen Rituale der Doktorpromotion und schließlich der Wahl und Einsetzung des Rektors, bei deren Schilderung er auch auf die wirtschaftlichen Umstände und die sozialen und rechtlichen Wirkungen der Riten eingeht. Die Ritualität in den bildenden Künsten und in der Musik sind das Thema des Essays von Britta-Kusch-Arnhold und Daniel Glowotz, in dem nicht nur Festarchitekturen, Festbeschreibungen und die bildliche Ausstattung der Repräsentationsräume, sondern auch die Rolle der Musik als unverzichtbares Element der Rituale dargestellt werden. Auch die Schriftlichkeit ist ein integraler Bestandteil der Ritualität und deren Entwicklung, so dass eine Behandlung dieser Thematik in einer Dokumentation der Entwicklung der Ritualitätskultur nicht fehlen darf. Ihr sind die Ausführungen von Christoph Friedrich Weber und Christoph Dartmann gewidmet, in denen zutreffend nicht nur die Funktion des Buches als Sakralobjekt, sondern vor allem der Schrift als Instrument der Perpetuierung authentischer Ritualität konkreter Handlungen beschrieben wird, wobei die Autoren zu Recht auch auf die Funktion und Rolle von Urkunden als Gegenstände ritueller Handlungen hinweisen. Eine andere Seite der Ritualität behandelt Katrin Boureé, indem sie die Rituale bei der Konfliktsaustragung und der Konfliktsbeendigung als Instrumente der Gewaltbegrenzung in der Gesellschaft beschreibt und deutet. Den Abschluss des Essayteiles bildet eine Betrachtung Hans-Ulrich Thamers über die Rituale und deren Rolle in der Moderne. In ihr wird zu Recht darauf hingewiesen, dass zwar die überlieferte Ritualität des ancien régime durch die Französische Revolution beseitigt worden sei, sich gleichwohl aber eine rituelle Visualisierung der Verfassungsordnungen in Diktaturen wie in den demokratisch verfassten Staaten der Neuzeit bis in die Gegenwart erhalten habe.

 

Der zweite Teil des Bandes, der insgesamt weit mehr ist als einer der herkömmlichen Ausstellungs- und Museumskataloge, enthält eine detaillierte und durch Illustrationen unterstützte Beschreibung der einzelnen ausgewählten Exponate. Sie beginnt mit den Beschreibungen der Exponate zu den Ritualen der Einsetzungshandlungen, deren Formen, Funktion und Bedeutung, denen ein einleitender Essay Dorothea Linnemanns vorangestellt ist. Es folgen die Beschreibungen der verschiedenen Ausdrucksformen der Ritualität, d. h. des „Grundvokabulars der Rituale“, wie es von Gerd Althoff genannt wird, dem auch der einleitende Essay zu verdanken ist. Einem bisher kaum beachteten Thema ist der nächste Abschnitt gewidmet, nämlich der Ritualität von Parodie, Satire und Kritik, zusammengestellt und eingeleitet von Christel Meier-Staubach, in der die Autorin mit Recht in diesen Erscheinungen eine Umkehrung der überkommenen Ritualitätsformen sieht. Dem Wandel in Funktion und Ausdruck der Rituale im Verlauf der Zeit ist der nächste Abschnitt gewidmet, verantwortet von Thomas Weller, in dem Formen und Rituale von Prozessionen, anderen Umzügen wie auch von Sitzordnungen als ordnungsstiftende Manifestationen der Gemeinschaftsordnung dargestellt werden, wobei allerdings nur am Rande darauf hingewiesen wird, dass diese Manifestationen auch Rechtswirkungen entfalteten. Im letzten Abschnitt werden, wie schon zuvor im Essay-Teil, die Fortwirkungen der Ritualitätstradition in der Moderne behandelt, indem die Inszenierung und Visualisierung der neuen Ordnungen vor Augen gestellt werden, die mit der Französischen Revolution ihren Anfang nahmen und deren Wirkung bis weit in das 19. Jahrhundert reicht. Auch hier ist dem Ganzen eine Einleitung vorangestellt, hier verfasst von Christina Schroer.

 

Für den Rechtshistoriker enthält der vorliegende Katalogband, der in mancher Hinsicht in Wort und Bild eine Art „Heerschau“ der Resultate der gegenwärtigen Ritualitätsforschung darstellt, eine Fülle von wichtigen Erkenntnissen, Beobachtungen und Anschauungsmaterialien. Vieles von dem, was hier an Ergebnissen der Ritualitätsforschungen mitgeteilt wird, berührt sich mit älteren Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte. Die Bedeutung von Ritualen für das Rechtsleben war schon immer deren Thema, allerdings nicht, wie in der vorliegenden Dokumentation, als Ausdruck symbolischer Kommunikation wertbezogener sozialer Handlungen, sondern als Rechtssymbolik, in der Rechte und Rechtsverhältnisse sichtbar gemacht, oder wie es neuerdings heißt, visualisiert wurden. Dieser Aspekt wie überhaupt die rechtliche Bedeutung der Ritualiät als Visualisierung von Recht, Rechtsverhältnissen und als Inszenierung von Rechtsvorgängen findet in den Essays, aber auch in der Beschreibung der Exponate nicht in dem für den Rechtshistoriker wünschenswerten Umfang Berücksichtigung. Die Folge ist, dass die Bedeutung des Rechts bei der Entwicklung von Ritualität und Ritualitätsformen oftmals nur am Rande berücksichtigt wird, zu Unrecht, wie es dem Rezensenten scheinen will, weil die Ritualität, vor allem im älteren Recht, eine wichtige, in mancher Hinsicht sogar eine entscheidende Rolle spielte. In Zeiten ungeschriebenen oder nur teilweise geschriebenen Rechts war die Beachtung der überlieferten Rituale ein konstitutives Element der gesamten Struktur des Rechts. Sie war ausschlaggebend für den Nachweis des Bestehens oder Nichtbestehens von subjektiven Rechten und deren Geltendmachung und für die rechtliche Wirksamkeit von Rechtsverfahren und Rechtsvorgängen. Wer das Ritual verfehlte, verfehlte das Recht. Ohne Ritual kein Recht, im Ritual und dessen Formen manifestierten sich für die Zeitgenossen an allererster Stelle Recht, Rechtsverhältnisse, Rechtsverfahren und Rechtsvorgänge. Ritual war insoweit nicht in erster Linie symbolische Kommunikation wertbezogener sozialer Handlungen, sondern genuiner Ausdruck von Recht und seinen Formen. Als Ausdruck symbolischer Kommunikation sozialer Handlungen wird man es daher nur insoweit betrachten können, als das Recht selbst ein Bestandteil eines sozialen Wertsystems und dessen Kommunikation war und übrigens nach wie vor ist - eine Betrachtungsweise freilich, die nicht in erster Linie auf die möglichst genaue Rekonstruktion historischer Tatsachen und Vorstellungswelten abzielt, sondern eher auf deren Deutung im Licht moderner Geschichtstheorien.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann