Schinke, Esther, Herrschen vor Ort - Verwaltung, Polizei und Justiz zwischen staatlicher Aufsicht und Selbstverwaltung in Schwäbisch Hall um 1850 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 62). Thorbecke, Ostfildern 2008. VII, 310 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

 

Die Arbeit ist die von Sönke Lorenz betreute, im Graduiertenkolleg Europäische antike und mittelalterliche Rechtsgeschichte, neuzeitliche Rechtsgeschichte und juristische Zeitgeschichte in Frankfurt am Main entstandene, im Sommersemester 2006 der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen vorgelegte Dissertation der Verfasserin, von welcher der Verlag leider kein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellen konnte. Zentrales Thema ist die Gemeinde im Königreich Württemberg im 19. Jahrhundert. Vom Vormärz bis zu den 1855er Jahren fragt die Verfasserin an Hand archivalischer Quellen der Stadt Schwäbisch Hall, des Oberamts Hall und des Jagstkreises nach der Durchsetzung des modernen Anstaltsstaats auf Gemeindeebene zwischen vereinheitlichender Zentralgewalt und kommunaler Selbstverwaltung.

 

Die Verfasserin legt in ihrer klaren Einführung Fragestellung und methodische Überlegungen, Gegenstand und Zeit, Quellen und Forschungsstand dar. Danach behandelt sie drei Sachbereiche. Diese betreffen die Gemeinde als Verwaltungseinheit, als Polizeibehörde und als Gericht.

 

Bei der Gemeinde als Verwaltungseinheit beginnt die Verfasserin mit den Staatseinrichtungen Württembergs und legt danach sorgfältig die Gemeindeverfassung auf Grund des Verwaltungsedikts vom 1. März 1822 dar. Danach geht sie auf den Staat vor Ort ein, der in Visitationen und Oberamtmännern sichtbar wird, bei denen die Verfasserin eine Zäsur im Jahre 1835 sieht. Als Brennpunkte des Verwaltungsalltags ermittelt sie die Wahlen und die Ernennung der Schultheißen, die Besoldung, die Übertragung der Kontrollfunktion für Wanderbücher und Pässe an einen Gehilfen des Stadtschultheißen sowie die Aufnahme in das Bürgerrecht oder Beisitzrecht und die Heiratserlaubnis.

 

Die Haller Polizei erscheint in Gestalt von Feldschützen und Nachtwächtern sowie Polizeidienern, von welchen das Haller niedere Exekutivpersonal geschieden wird. Besonders verdienstvoll ist die Betrachtung der Dienstpraxis. Dabei unterscheidet die Verfasserin zwischen der Sicht der Stadtobrigkeit, der öffentlichen Meinung (vor allem an Hand einer Pressekampagne gegen die Polizeidiener Wolf und Horn) und der Beilagen zu den Strafprotokollen.

 

Etwas kürzer kommt die Gemeinde als Gericht, wobei die Verfasserin zwischen streitigen und nichtstreitigen Rechtssachen unterscheidet. Obwohl die Gemeindegerichtsbarkeit eher schlecht als recht funktionierte, wurde mangels einer Alternative an ihr festgehalten. Die nichtstreitigen Sachen betrafen vor allem Verträge und Testamente, Teilungen und Vormundschaften sowie das Pfandwesen.

 

Im Ergebnis stellt die Verfasserin fest, dass die Gemeinde zwar dem Staat in Württemberg untergeordnet war, aber gegenüber den staatlichen Verwaltungsstellen einen deutlich größeren Handlungsspielraum hatte, als dies bisher angenommen wurde. Dass der moderne Staat der Gemeinde seit dem 18, Jahrhundert die Autonomie genommen und Selbstverwaltung in Auftragsverwaltung verwandelt habe, trifft nach den Erkenntnissen der Verfasserin für Württemberg bis in die 1850er Jahre nicht zu. Herrschaft war lokal und die Obrigkeit vor Ort war die Gemeinde.

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler