Rehse, Birgit, Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786-1797 (= Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 35). Duncker & Humblot. Berlin 2008. 676 S., Abb. Besprochen von Stephan Schuster.

 

Die Frage, wie Herrschaft in der Frühen Neuzeit funktioniert, steht im Mittelpunkt der von Birgit Rehse vorgelegten Untersuchung zur bislang wenig untersuchten Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen, die 2006 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde. Die Studie soll, so heißt es in der Einleitung, zum einen der Rekonstruktion rechtshistorischer Aspekte des Supplikations- und Gnadenwesens in Brandenburg-Preußen dienen. Zum anderen sollen Fragestellungen der Rechts- und Verwaltungsgeschichte mit sozialgeschichtlichen Fragen nach der Lebenswirklichkeit verknüpft werden (S. 24). Rehse beschränkt sich dabei nicht auf die so genannten Immediatsuppliken, d. h. solche Gnadenbitten, die direkt an den König in seiner Funktion als Gnadenträger gerichtet und von ihm entschieden wurden. Berücksichtigung finden vielmehr auch so genannte Mediatsuppliken, die an das Justizdepartement bzw. an den Geheimen Rat adressiert waren. Die Verfasserin versteht das Bitten um Gnade und die Gewährung von Gnade als aufeinander bezogene und voneinander abhängige Praktiken, die zugleich Machtverhältnisse ausdrücken (S. 17f.). Diese wiederum erlaubten – „Macht“ und „Herrschaft“ bilden nicht nur in der Soziologie und in der Politikwissenschaft, sondern auch in der Geschichtsforschung ein festes Begriffspaar – Rückschlüsse auf das Funktionieren von Herrschaft in Brandenburg-Preußen im ausgehenden 18. Jahrhundert (S. 18). Rehse geht hierbei von der Prämisse aus, dass Herrschaft durch eine Gemengelage von unterschiedlichen Praktiken produziert wird, an der sowohl die Obrigkeit als auch die Untertanen Anteil hatten; Herrschaft begreift sie als einen „Prozess des Aushandelns mit Hilfe von Praktiken“ (S. 31f.).

 

Im Vordergrund der Untersuchung steht die Rekonstruktion der Strategien, Motive und Interessen der Handelnden (S. 18). Als Untersuchungsgebiet hat Birgit Rehse die Kurmark gewählt, als Zeitraum der Untersuchung die Regierung Friedrich Wilhelms II. (1786-1797). Letzteres ist schon deshalb interessant, weil die Regierungszeit des Nachfolgers Friedrichs des Großen gleichermaßen durch ein „Nicht-mehr“ wie auch durch ein „Noch-nicht“ gekennzeichnet ist, wie die Verfasserin S. 19 unter Berufung auf Jobst Siedler zutreffend feststellt: Die von Friedrich dem Großen (1740-1786) angestoßenen Justizreformen wurden bruchlos fortgeführt, die Herrschaft Friedrich Wilhelms II. folgte weitgehend den Regeln des Ancien Régime; gleichzeitig erreichte das spätabsolutistische Herrschaftssystem spätestens mit dem Beginn der Koalitionskriege seine Endphase und es kündigten sich gesellschaftliche Veränderungen an, die in den von Rehse untersuchten Quellen einen ersten, freilich äußerst subtilen seismographischen Niederschlag finden. Auch die Beschränkung des Untersuchungsgebiets auf die Kurmark – bestehend aus den Residenzen und den vier Hauptkreisen Altmark, Prignitz, Mittelmark und Uckermark – erweist sich als gute Wahl. Einerseits kann man für die Kurmark von einer historisch gewachsenen Beziehung zwischen den Hohenzollern und ihren Untertanen ausgehen; auch scheint, dies betont Rehse S. 19 zu Recht, die geographische Nähe zwischen den Residenzen des Monarchen und dem Wohnort der um Gnade bittenden Untertanen das Supplizieren befördert zu haben. Andererseits bietet die Beschränkung auf einen überschaubaren Teil des Königreichs Preußen die Möglichkeit einer weitgehend abschließenden Darstellung. Die Zahl der von Rehse gesichteten und ausgewerteten Archivalien ist beeindruckend: Rund 1.000 Fälle, in denen Untertanen um Erlass oder Milderung der Strafe supplizieren, hat sie im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin erfasst; ein besonderes Verdienst Rehses ergibt sich aus dem Umstand, dass die Repositur 49 der Hauptabteilung I bislang archivisch noch nicht erschlossen ist. Eine beachtliche Auswahl von Quellen – 272 Fallakten, in denen 327 Gnadenfälle mit insgesamt 611 Suppliken und 28 Fürsprachen (Rehse versteht hierunter Bitten, die aus dem Justizapparat stammen, vgl. S. 63 Fn. 175) dokumentiert sind – wird einer genauen Analyse unterzogen. Auf dieser breiten Quellenbasis wird Birgit Rehse ihrem Anspruch, die Funktionsweise und die Legitimation von Herrschaft – die Verfasserin orientiert sich an dem Herrschaftsverständnis Alf Lüdtkes („Herrschaft als soziale Praxis“), vgl. S. 27ff. – im aufgeklärten Absolutismus im Ausgang des 18. Jahrhunderts zu erhellen (S. 35), zweifelsohne gerecht.

 

Die Arbeit gliedert sich im Wesentlichen in vier Abschnitte. In der ausführlichen Einleitung (S. 17-71) breitet Verfasserin zunächst einige Grundannahmen von wesentlicher Bedeutung aus (S. 20-24). Ausgehend von dem mittlerweile auch in der rechtshistorischen Forschung ganz überwiegend anerkannten Axiom, wonach die absolutistische Herrschaft trotz ihres Absolutheitsanspruchs in ihrer Durchsetzung stets faktisch beschränkt war, geht Rehse auf die zentrale Forderung des Aufklärungsdiskurses ein: Die Beschränkung der landesherrlichen Willkür durch die Verbindlichkeit des Rechts (S. 22f.). Als Arbeitshypothese nimmt sie an, die aufklärerische Maxime vom Gesetzesstaat sei zumindest teilweise von Einfluss auf das Herrschaftsverständnis gewesen (zu den politischen Zielen der Aufklärung vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., München 2005, 248ff.). Daher liege die Vermutung nahe, die Diskrepanz zwischen absolutistischem Herrschaftsanspruch und politischer Praxis habe sich in der so genannten Sattelzeit weiter verschärft (S. 23). Interesse weckt die sodann aufgeworfene Frage, ob sich eine derartige Verschärfung im Kontext der Gnadenpraxis nachweisen lässt. Zweifel regen sich dagegen, ob der programmatisch-methodischen Ankündigung, Fragestellungen der Rechts- und Verwaltungsgeschichte mit sozialgeschichtlichen Fragen nach der Lebenswirklichkeit zu verknüpfen und dabei die Alltagsgeschichte, die historische Anthropologie, die historische Kriminalitätsforschung und nicht zuletzt die „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ als theoretischen und methodischen Bezugspunkt zu bemühen (S. 24). Abgesehen davon, dass die peinlich genau zelebrierte feministische Linguistik – mit größter Akribie stellt Rehse dem generischen Maskulinum ein Femininum an die Seite (neben den Supplikanten tritt die Supplikantin, neben den Bittsteller die Bittstellerin, neben den Untertan die Untertanin etc.) – ermüdend wirkt, muss der geschlechterspezifische Ansatz schon aus einem ganz einfachen Grund kritisch hinterfragt werden: Eine Supplik wurde in der Regel von einem professionellen Schreiber verfasst (S. 129ff., 139ff.). Auch wenn die Supplikation letztlich das Endprodukt der Zusammenarbeit von Supplikant und Verfasser war (S. 148), so dürften die Verfasser der Supplikationen (seit 1710 waren dies in der Regel Advokaten, Prokuratoren oder Gerichtsschreiber, vgl. S. 99, 130) regelmäßig darum bemüht gewesen sein, auch durch den Rekurs auf geschlechterspezifische Klischees die Erfolgsaussichten des Gnadengesuchs zu erhöhen. Dass der Vortrag der supplizierenden Untertanen vermutlich durchweg zu deren Gunsten geschönt war, räumt Rehse im Übrigen selbst ein (S. 67); und ebenso, dass die Supplizierenden bzw. die Verfasser der Suppliken durchaus die traditionellen Geschlechterrollen zu bedienen wussten (S. 250f.). Abgerundet wird die Einleitung durch einen Überblick über den – bislang wenig befriedigenden – Stand der rechtshistorischen Forschung auf dem Gebiet des Supplikations- und Gnadenwesens (S. 35-41). Rehses kritischer Anmerkung, wonach die Bedeutung des Supplikationswesens als Vorläufer des Petitionswesens unter Rechtshistorikern verkannt werde (S. 39, Fn. 77) – bei den Historikern ist das Thema Supplikationen seit der Mitte der 1990er Jahre europaweit in den Brennpunkt der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung gerückt (S. 41ff.) –, ist zuzustimmen. Das Supplikations- und Gnadenwesen verdient schon deshalb die besondere Beachtung auch der rechtshistorischen Forschung, weil in der Frühen Neuzeit infolge der häufigen Gnadenakte eine gewisse Diskrepanz zwischen Strafnorm und Strafpraxis bestand. Härten des Inquisitionsprozesses, der in Deutschland noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Regel blieb, konnten im Einzelfall über die Supplikations- und Gnadenpraxis abgemildert werden. Aufgrund einer sorgfältigen Behörden- und Geschäftsganganalyse gelangt die Verfasserin zu dem Ergebnis, dass die Zuständigkeit für das Supplikationswesen beim Justizdepartement lag, dem Fachressort des Geheimen Rats (S. 53ff.). Sorgfältig rekonstruiert Rehse aus den Einzelfallakten der Repositur 49 den Geschäftsgang (S. 55ff.). Besondere Beachtung verdienen die quellenkritischen Überlegungen, die Birgit Rehse an den Schluss der Einleitung gestellt hat (S. 64ff.). Der Leser erhält wertvolle Informationen zu den „taktischen Überlegungen“, die im Zusammenhang mit einer Supplikation anzustellen waren, um die Erfolgsaussichten derselben zu maximieren.

 

Im ersten Kapitel (S. 72-214) skizziert Rehse zunächst – ausgehend von der etymologischen Herleitung der Begrifflichkeiten – knapp und nicht ganz fehlerfrei die von der Forschung ausgemachten antiken Ursprünge des Gnadenrechts und des Gnadenbittens (S. 73f.). Die präzisen Ausführungen zu den christlichen Vorstellungen von Gnade, die bis zur Aufklärung prägend für das Gnadenverständnis waren, sowie die Darstellung des im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss des Aufklärungsdiskurses sich wandelnden Gnadenverständnisses (S. 74-84), vermögen dagegen rundherum zu überzeugen: Nicht die Gnade, sondern die „vollkommene Gesetzgebung“ galt im ausgehenden 18. Jahrhundert unter den Gelehrten als „das schönste Vorrecht des Thrones, (…) das erwünschteste Kennzeichen des Herrschertums“ (Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und hg. v. W. Alff, 1998, 156). Sodann widmet sich Birgit Rehse dem Begriff und der allgemeinen Geschichte des Supplizierens (S. 84-94). Sie gelangt zu dem durchaus vertretbaren Schluss, dass das Supplizieren faktisch ein den Untertanen – gleich welchen Standes, welchen Geschlechts und welcher Religion – zustehendes „Grundrecht“ darstellt (S. 93). Der Leser ist nun gut vorbereitet auf die rechts- und verwaltungsgeschichtliche Dimension des Gnaden- und Supplikationswesens in Brandenburg Preußen (S. 94-128). Nachdem die Zahl der Supplikationen im Verlauf des 15. Jahrhunderts stark angestiegen war, wurde es aus der Sicht der Obrigkeit erforderlich, das Supplizieren mit Hilfe eines Regelwerks zu kanalisieren. Die ersten Verordnungen zur Regelung des Supplikations- und Gnadenwesens entstanden in der Mitte des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der fortschreitenden Ausgestaltung des Gnadenrechts als Reservatrecht des Landesherrn. Birgit Rehse veranschaulicht die Bestrebungen, die sich in zahlreichen Edikten und Verordnungen niedergeschlagen haben und auch in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. anhielten, in prägnanter Weise. Bemerkenswert ist der Umstand, dass – obwohl das Gnadenrecht den Hohenzollern spätestens seit 1653, als der Große Kurfürst (1640-1688) es im Machtkampf mit den Ständen endgültig als landesherrliches Reservatrecht errungen hatte, als unverzichtbares Symbol ihrer Herrschaftsmacht galt – die brandenburgisch-preußischen Herrscher im Grundsatz daran festhielten, nicht über Supplikationen in laufenden Gerichtsverfahren zu entscheiden (S. 95). Die formellen Vorgaben, die im Rahmen zahlreicher Edikte statuiert wurden, dienten letztlich auch dem Zweck, die gerade zu Beginn des 18. Jahrhunderts erneut dramatisch zunehmende Zahl der Supplikationen, vor allem aber den Missbrauch des Supplikations- und Gnadenwesens einzudämmen. Falsche Sachverhaltsschilderungen, Aufsässigkeit, ja Querulantentum galten dem ersten preußischen König als Missbrauch seiner Gnade, vor dem sich Friedrich I. (1688/1701-1713) zu schützen suchte, indem er 1710 den Anwaltszwang für Supplikationen einführte (S. 99). Gelungen und nicht zuletzt für den Rechtshistoriker von hohem Wert sind die Ausführungen zu den Verwaltungsreformen im Kontext des Bestätigungsrechts und des Machtspruchs unter Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) und Friedrich dem Großen sowie zum Supplikations- und Gnadenwesen unter Friedrich Wilhelm II. (S. 100-128). Der spannungsvolle Antagonismus zwischen dem königlichen Bestätigungsrecht, das sich im 18. Jahrhundert zusammen mit der Supplikation zu einem regelrechten Instrument der Justizkontrolle entwickelte, und dem Bestreben, ein funktionsfähiges und integres Justizwesen (neben der Verwaltung) als effizientes Instrument zur Zentralisierung der Herrschaft in den preußischen Staaten auszubauen, wird verdeutlicht. Ansprechend schildert Rehse auch die Bedeutung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 für das Supplikations- und Gnadenwesen (S. 118ff.). Ihrem Fazit, Friedrich Wilhelm II. habe eine Gnadenpolitik verfolgt, die allen Beteiligten Handlungsspielräume gelassen habe (S. 120f.), ist zuzustimmen. Die kompakte Darstellung des Normativitätsdiskurses im Hinblick auf Gnade und Machtspruch zum Ende des 18. Jahrhunderts, der nicht ohne Einfluss auf das Gnadenverständnis des Thronerben blieb, rundet den theoretischen Teil ab (S. 121-128): Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) übte insofern – maßgeblich beeinflusst von Svuarez und Kircheisen – deutliche Zurückhaltung; ein Akt des reinen Erbarmens verbot sich für ihn vor dem Hintergrund der allmählich sich Bahn brechenden Ansicht, dass nicht der Monarch, sondern die Gesetze die primäre Quelle der Macht sind (S. 122). Sodann widmet sich Birgit Rehse der „Dimension der Praxis“, dem Gnadenbitten unter Friedrich Wilhelm II. (S. 129-214). Sie schildert die Modalitäten (S. 129ff.) und die Bedeutung des Supplizierens (S. 149f.), geht auf Form, Stil, Aufbau und narrative Muster der Suppliken ein (S. 150ff.), erörtert die Frage nach den inhaltlichen Zielsetzungen der Gnadenbitten (S. 174ff.) und untersucht die Zeitläufe des Supplizierens (S. 193-214). Deutlich wird, warum die Obrigkeit – trotz aller Versuche, das Supplizieren zu reglementieren – ein durchaus vitales Interesse an einem regen Supplikationswesen hatte: Suppliken fungierten gleichermaßen als Indikator für Missstände im Justizwesen wie als Seismographen für gesellschaftliche Konfliktpotentiale; im Übrigen war die Gewährung von Gnade fester Bestandteil der frühneuzeitlichen Herrschaftssymbolik (S. 149).

 

Das zweite Kapitel (S. 215-375) ist den Hauptakteuren des Supplizierens gewidmet, nämlich den Frauen und Männern, die in eigener Sache oder für eine ihnen nahe stehende Person um Begnadigung einer gerichtlich verhängten Strafe baten. Auf die zahlreichen Beispiele, die Birgit Rehse den im Geheimen Staatsarchiv lagernden Archivalien entnommen hat, kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Nur so viel sei gesagt: Die Darstellung ist von hoher Anschaulichkeit, die Fülle des solide aufbereiteten Quellenmaterials beeindruckend; die Typologisierung der Supplikationen ist rundherum gelungen. Allerdings sind die Schlussfolgerungen, welche die Verfasserin insbesondere mit Blick auf das von ihr vermutete geschlechtsspezifische Supplikationsverhalten zieht, nicht immer zwingend und zum Teil spekulativ. Beispielsweise führt Rehse S. 243 aus, der Ehemann scheine „seiner in der patria potestas begründeten Verpflichtung, seiner Frau Schutz zu gewähren, enthoben“ gewesen zu sein, sobald diese wegen einer Straftat in Haft gesessen habe, wohingegen von einer Ehefrau erwartet worden sei, dass sie in einer solchen Situation für ihren Mann suppliziere. Hier stellt sich bereits in terminologischer Hinsicht die Frage, inwieweit dies dem ehelichen Rollenverständnis im ausgehenden 18. Jahrhundert gerecht wird. Zweifel sind auch angebracht, ob der Behauptung, Ehemänner hätten häufig Abstand von einer Supplikation genommen, da sie „offenbar für das Vergehen ihrer Frau mitverantwortlich gemacht wurden“ (S. 251f.). Den von Rehse untersuchten Quellen ist insofern nichts zu entnehmen. Auch sprechen die Zahlen – Rehse selbst erwähnt es (S. 242f.) – im Grunde für sich: Wo deutlich mehr Männer verurteilt werden, finden sich auch deutlich mehr Ehefrauen, die für ihren Mann um Gnade bitten. Es spricht im Übrigen einiges dafür, dass in Preußen bis in die untersten Schichten der Bevölkerung – der männlichen Eheherrschaft zum Trotz – aufgrund der Wechselseitigkeit der ehelichen Pflichten und der Idee der Konsensehe durchaus ein gewisses Maß an Gleichberechtigung in der Ehe bestand (vgl. die Untersuchung des preußischen Eherechts bei Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700-1914, Köln 2004). In der präzisen Zwischenbilanz am Ende des zweiten Kapitels (S. 343-375) stellt Rehse fest, dass in dem von ihr untersuchten Quellenfundus im Grunde – von mobilen Randgruppen abgesehen – nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind. Sie kommt daher zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die These der Allzugänglichkeit auch für das Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen Gültigkeit hat (S. 347f.). Dies wiederum spricht für den von Rehse verfolgten Ansatz, dem Supplizieren den Charakter eines „Grundrechts“ zuzubilligen (s. o.).

 

Erst im dritten Kapitel (S. 376-586) wendet sich Birgit Rehse dem Gnadenwesen zu. Aus den nahezu 1.000 von ihr untersuchten Fallakten rekonstruiert sie den Verfahrensgang vom Eingang in der Kanzlei des Kammergerichts bzw. in der Geheimen Staatskanzlei über die Erstellung des Rechtsgutachtens bis hin zur Entscheidung durch das Justizdepartement bzw. – im Falle einer Immediatsupplik – durch den König selbst (S. 376ff.). Dieser schloss sich in der Regel dem Votum seines Justizministers an (S. 387). In diesem Zusammenhang – dies entspricht der dezidiert sozialhistorischen Perspektive ihrer Arbeit – befasst sich Verfasserin mit den Entscheidungsträgern auf Seiten der Obrigkeit. Schließlich erfährt der Leser im dritten Kapitel auch den Ausgang der im vorherigen Kapitel beschriebenen Supplikationsverfahren (S. 424ff.). Auf den ersten Blick erstaunlich ist, dass selbst dort, wo die Gnade verwehrt wird, eine nähere Begründung der Entscheidung fehlt (S. 426). Indes ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Gewährung von Gnade um eine Gunst des Monarchen handelt, auf die kein Anspruch bestand. Dies zeigt sich auch in der Erfolgsquote: Nur 8,2% der Supplikationen führten zum Erlass der ganzen Strafe (S. 439); hinzu kommen Fälle von Strafverkürzung, Strafmilderung, vorübergehender Aussetzung der Strafe etc. Insgesamt waren nur 19,3% der von Rehse untersuchten Gnadenbitten erfolgreich (S. 542). Dennoch ist der Feststellung, das Aushandeln im Wege der Supplikation sowie die Gnadenpraxis seien feste Bestandteile der frühneuzeitlichen Sanktionspraxis (S. 591), nicht zu widersprechen.

 

Ein kurzer Ausblick auf die Bedeutung, die der Gnade im System der Gewaltenteilung zukommt (S. 611-614), eine Auswahl von Abbildungen sowie ein umfassendes Sach- und Personenregister runden das Werk ab. Freilich muss man nicht jede Erkenntnis, die Rehse in sozialhistorischer Hinsicht aus den von ihr untersuchten Quellen gewinnt, teilen. Auch erstaunt manch kleinere Ungenauigkeit, sei sie logischer (das „R – P – F – W “ auf dem S. 151 erwähnten Monogrammsiegel wird wohl eher für „Rex Prussiae Fridericus Wilhelmus“ als für „Roi von Preußen Friedrich Wilhelm“ stehen) oder juristischer Natur („vorsätzlicher Kindsmord“, vgl. S. 183). Ferner sind die Schlussfolgerungen, die sie aus der Einzel- bzw. Gesamtsicht der von ihr untersuchten Fallakten zieht, nicht immer zwingend. Alles in allem aber ist es Birgit Rehse zweifelsohne gelungen, eine bedeutende Lücke in der Forschung zur brandenburg-preußischen (Rechts-) Geschichte zu schließen.

 

Düsseldorf                                                      Stephan Schuster