Nippel, Wilfried, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Beck, München 2008. 445. S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Der Titel dieses Buches gibt sein Dilemma treffend wieder. Wilfried Nippel hat sich nicht recht entscheiden können, eher eine Biografie über Johann Gustav Droysen zu schreiben oder aber dessen Leben zwischen Wissenschaft und Politik zu schildern. Denn in dieser Biografie, die nach dem gängigen Schema entlang der Lebensstationen des Porträtierten aufgebaut ist, werden diese auf die Darstellung des Wechselspiels zwischen Wissenschaft und Politik eingeengt; dabei steht der (wissenschafts-)politische Stratege Droysen im Vordergrund. Das lässt sich damit rechtfertigen, dass für diesen Historiker (wenn auch nicht in der Einseitigkeit, die Nippel suggeriert) Geschichtswissenschaft nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war. Diesem Ansatz und der Tatsache, dass bereits Droysens Sohn die Lebensphase bis 1848 dargestellt hat, fällt auch eine intensivere Auseinandersetzung mit Kindheit und früher Prägung zum Opfer. Damit bringt sich Nippel aber um die Chance, die sich heute kaum ein Biograf entgehen lässt, nämlich Grundzüge von Charakter und Verhalten aus der Formatierungsphase eines Individuums zu deuten. Daher wird auch keine Verbindung hergestellt zwischen den Eigenheiten des Erwachsenen und dessen Herkunft, obwohl sich hier schon bei oberflächlicher Betrachtung einiges aufdrängt: Droysens Sozialisation in einem protestantischen Pfarrhaus im tiefsten Pommern einerseits, die dogmatische Starrheit, mit der er an seinen Überzeugungen festhielt, die Verherrlichung preußischer Militärs, seine Preußen-Vergottung und sein kulturkämpferischer Antikatholizismus andererseits.

 

Nippel setzt also ein mit dem Beginn der wissenschaftlichen Karriere als Philologe und Althistoriker an der Berliner Universität. Dabei geriet der junge Gelehrte schnell zwischen die Fronten derjenigen, die selbstgenügsame Wortphilologie betrieben, und denjenigen, die wie Droysen selbst, die Texte als Widerspiegelung vergangenen Lebens verstanden. Es enttäuscht nun doch, von einem Althistoriker über die altertumswissenschaftliche Produktion jener Jahre nicht mehr zu erfahren, als dass die Übersetzungen auch heute noch frisch wirken und dass Droysen den Weg für eine angemessene Bewertung des Hellenismus geebnet habe. Das Umfeld der Forschungen, die geistige Situation bleiben fast ganz ausgeblendet, so dass sich die Bedeutung des Schaffens kaum erschließt.

 

Dieses Ungenügen hat seine Wurzeln in zwei Grundentscheidungen, die dem gesamten Buch nicht förderlich waren: Zum einen der für eine Biografie zu enge Ansatz auf die Stationen der Karriere und die politische wie publizistische Wirksamkeit. Die Ehefrauen werden gerade noch erwähnt, Kinder und Familie kommen nicht vor, von den Freunden und Kollegen gewinnt keiner je Kontur. Das nähere und weitere Umfeld, in dem Droysen handelte und auf das er reagierte, kommt stärker nur für den Politiker in den Blick, für den Wissenschaftler bleibt es unterbelichtet. Dies liegt zum anderen vor allem daran, dass Nippel recht eng und fast gänzlich dem, was bisher von Droysen veröffentlicht wurde, folgt und hier wiederum bevorzugt den Briefen und Materialien, die sein Enkel, der Rechtshistoriker Rudolf Hübner, herausgegeben hat.

 

Der erste Ruf, nach Kiel 1840, war weitaus folgenreicher für Droysens Leben als es zunächst den Anschein hatte. Den Auftrag, das gesamte Gebiet der Geschichte abzudecken, nahm er sich sofort mit Nachdruck an, indem er sich den Befreiungskriegen zuwandte, angewidert vom Philologengezänk und angestachelt von der bürgerlich-liberalen Bewegung und vom aufkeimenden Nationalismus. In diesem wurzelte der Streit zwischen Dänemark und der deutschen Bevölkerung der Herzogtümer Schleswig und Holstein, die „up ewig ungedeelt“ bleiben sollten, über deren nationale Zugehörigkeit. Über diesen Konflikt kam der Hochschullehrer in die politische Praxis. Ohne Rücksicht auf Karriere und persönliche Nachteile hat er sich bis zur Lösung des Problems durch Bismarck als Gesandter der Provisorischen Regierung der Herzogtümer beim Deutschen Bund, als Abgeordneter der Nationalversammlung, als Kombattant und Publizist für den Erhalt des „deutschen Charakters“ der Herzogtümer eingesetzt. Es war nicht zu erwarten, dass Nippel auf diesem Terrain, das ebenso gut erforscht ist wie die Revolution von 1848/49, aus der biografischen Perspektive heraus überraschende Akzente würde setzen können. Er schildert vielmehr den Professor als einen Politiker, der öffentliche Festlegungen scheute, stattdessen persönliche Interventionen, anonyme publizistische Beeinflussung und das Schmieden von Bündnissen hinter den Kulissen bevorzugte. Zu wenig deutlich wird, dass das folgenreichste die kleindeutsche Koalition des Winters 1848 gewesen ist, die die Österreicher schließlich aus der Paulskirche verdrängte, als die deutsche Frage noch offen war.

 

Das ist um so erstaunlicher, als es die zentrale These des Buches ist, dass Droysen, obwohl sein Ausflug in die praktische Politik sich auf die zweite Hälfte der vierziger Jahre beschränkte, sein gesamtes wissenschaftliches und publizistisches Wirken in der Zukunft ganz in den Dienst einer politischen Idee stellte: die Einigung Deutschlands unter Preußens Führung. Damit, so wird immer wieder betont, verband sich für ihn auch ein persönliches Lebensziel: der Ruf an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Der Weg dorthin führte über Jena, wohin der deutsche Nationalist 1851 strebte, da er in Kiel wegen seiner politischen Gesinnung nicht mehr zu halten war. An der neuen Wirkungsstätte hat er dann seine Vorlesungen über „Enzyklopädie und Methodologie der historischen Wissenschaften“ gehalten, die erst im 20. Jahrhundert umfassend publiziert wurden, doch schon damals und bis heute zu seinen Ruhm wesentlich beigetragen haben. Das Werk ist als umfassende theoretisch-systematische Analyse der Geschichte als Wissenschaft lange ein Unikat geblieben und hat darüber hinaus auch die geisteswissenschaftliche Hermeneutik befruchtet. Daher greift es zu kurz, diese Reflexionen vorwiegend als Mittel zur Förderung politischer und organisatorischer Forderungen wie der eigenen Karriere zu deuten und ihre Analyse auf die Rezeptionsgeschichte zu reduzieren. Die Forschung zu diesem Werk, das Nippel nicht in den Griff bekommt, hätte eingehender zur Kenntnis genommen werden müssen.

 

Droysen war sich im Klaren darüber, dass ihm Berlin so lange versperrt sein würde, als Friedrich Wilhelm IV. regierte und die Kamarilla dort den Ton angab. Beide misstrauten dem ehemaligen Casino-Liberalen, obwohl er sich inzwischen zum preußischen Nationalliberalen gewandelt hatte, was zu erklären, sich der Verfasser zu wenig Mühe gibt. Es kam hinzu, dass die Verantwortlichen von Preußens „deutscher Sendung“ teils eine andere Ansicht hatten, teils den Realitäten mehr Rechnung tragen mussten als deren Propagandist. So war der Weg erst 1859 frei mit dem Beginn der „neuen Ära“ nach dem Regierungsantritt Wilhelms I. Deutlicher als bisher bekannt, wird, wie sehr dies eine politische Berufung war, die vom Hof und dem Kultusministerium gegen die Fakultät, die Droysens Antipode Ranke führte, betrieben wurde. In Berlin, wo er bis zu seinem Tode wirkte, wollte Droysen nun endlich sein Opus magnum, die „Geschichte der preußischen Politik“, zu Ende bringen. Überzeugend wird nachgewiesen, warum es ein Fehlschlag werden musste. Für die Wissenschaft war es unakzeptabel, da deren Standards allzu oft missachtet wurden, um nachzuweisen, dass Brandenburg bzw. Preußen seit dem Erscheinen der Hohenzollern in der Mark nichts anderes als Deutschland am Herzen gelegen habe. Für das breitere Publikum hingegen war der Umfang von 14 Bänden und die (oft wenig verarbeitete) Fülle des Archivmaterials eine Zumutung. Und schließlich hatte sich der politische Zweck des nie vollendeten Werkes nach der Reichsgründung überlebt.

 

Nippels Buch ist gut lesbar, nicht zuletzt, da es mit Ironie, Sottisen und aktuellen Seitenhieben durchsetzt ist. Trotz aller Einwände kann es als gelungen gelten, wenn man es nicht als Biografie, sondern als Monografie zu, wie es der Autor nennt, Droysens „Geschichtspolitik“ liest. Nippel schildert Droysen als einen von seiner Qualität und seinen wissenschaftlichen wie politischen Ansichten unbeirrt überzeugten Mann, der überall, wo er agierte, auf Wirkung, Effekt und seinen Vorteil aus war. Die Distanz und das Befremden, das in diesem Urteil zum Ausdruck kommt, sagt freilich über Droysen nicht weniger aus als über heutige Historiker. Nippel will Droysen vom Sockel holen. Dorthin hat ihn aber nicht, wie vermutet wird, die Droysenforschung gestellt, sondern die Nachfahren, Freunde und schon mit abgestufter Distanz die Schüler. Und Nippel ist ja selbst davon überrascht, mit welcher Rasanz Droysens Ansehen nach seinem Tod verfiel. Es spricht durchaus für den Verfasser, dass er sein Anliegen mit der ihm eigenen philologischen Kompetenz stets argumentativ verfolgt und sich nicht auf das ahistorische Herunterputzen kapriziert, wie dies manche Biografen lieben. Es stellt sich dennoch die Frage, ob sich dafür der Aufwand eines Buches gelohnt hat, wenn darüber hinaus keine neuen Quellen erschlossen wurden, kaum grundlegend neue Einsichten vermittelt und eine umfassende Deutung gar nicht erst versucht wird. Diese und einige andere Irritationen, die von dem Werk ausgehen, relativieren sich durch das Nachwort, in dem der Autor in einer für ihn einnehmenden Offenheit kund tut, dass er auf Initiative des Verlages hin das Buch in kurzer Zeit zu schreiben hatte, um es noch rechtzeitig zu Droysens 200. Geburtstag vorzulegen. Daher haben wir mit Nippels „Droysen“ einen Beitrag zu einer Würdigung eines der Begründer der deutschen Geschichtswissenschaft, aber noch nicht diese selbst.

 

Eichstätt                                                                                 Karsten Ruppert