Napoleon und das Königreich Westphalen. Herrschaftssystem und Modellstaatspolitik, hg. v. Hedwig, Andreas/Malettke, Klaus/Murk, Karl. (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen 69). Elwert, Marburg 2008. 399 S., 77 Abb. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der Band vereinigt Beiträge einer Veranstaltungsreihe, die das Staatsarchiv Marburg im Spätherbst und Winter 2007/2008 zum 200. Jahrestag der Gründung des Königreichs Westphalen durchgeführt hat, und im Schwerpunkt die auf der Tagung: „Das Königreich Westphalen unter Jérôme Bonaparte (1807-1813) – Ein Modellstaat in der Außen- und Innenwirkung“ (6.-7. 12. 2007) gehaltenen Referate. Diese Tagung war ausgerichtet worden vom Staatsarchiv Marburg in Zusammenarbeit mit dem Fachgebiet Neuere Geschichte des Fachbereichs Geschichte und Kulturwissenschaften der Marburger Universität und der Historischen Kommission für Hessen. Nach den Vorstellungen der Tagungsleitung sollte das Kolloquium „nicht unbedingt dazu dienen, neue Forschungsergebnisse zu präsentieren“. Es war vielmehr gedacht „als Versuch einer Zwischenbilanz mit dem Ziel, neue Fragestellungen zu entwickeln“ (S. 11; A. Hedwig). M. Kerautret (Paris) geht der Einstellung Napoleons zu Deutschland nach, wo er sich insgesamt 880 Tage (in Italien nur 753 Tage, S. 21) aufgehalten hat, unter dem Gesichtspunkt der politischen Neuordnung Deutschlands und deren Modernisierung (S. 19ff.). H.-U. Thamer und Th. Smidt behandeln Fragen des westphälischen Staatskults und die Rolle der Künste im neuen Königreich (S. 39ff., 211ff.). Das gesamteuropäische Umfeld dieser Zeit wird teilweise erschlossen durch den Beitrag K. Malettkes über: „Das Empire, das Königreich Westphalen und das Staatensystem“ (S. 73ff.) und von S. Externbrink: „Zerstörung, Umgestaltung und Restauration. Napoleonische Staatsgründungen in Italien 1795-1815“ (S. 85ff.). Das Napoleonbild der Deutschen umreißt J. Willms (S. 53ff.). H. Berding stellt die Ziele dar, die Napoleon mit der Errichtung des „Modellstaats“ des Königreichs Westphalen verfolgt hat (S. 101ff.), mit denen er jedoch gescheitert ist (S. 113). Weshalb Westphalen „modernisierungspolitisch eine Spitzenstellung“ (S. 114) einnahm, lässt sich den Beiträgen P. C. Hartmanns: „Die Verfassung des Königreichs Westphalen und die Konstitution des Königreichs Bayern 1808 – ein Vergleich“ (S. 115ff.) und E. Grothes: „Fader Schnickschnack oder wegweisende Reform? Zur Wirkung und Rezeption der westphälischen Verfassung“ (S. 125ff.) entnehmen. Grothe stellt mit Recht heraus, dass die westphälische Verfassung im Vergleich zur Konstitution des Herzogtums Warschau einen „eigenständigen Typus“ darstelle (S. 130), was allerdings noch detaillierter hätte ausgeführt werden können.

 

Einen breit angelegten Überblick über die „Wirtschafts- und Sozialreform Westphalens“ bringt B. Severin-Barbouti, die so etwas wie ein Programm für eine Gesamtdarstellung dieser Politikfelder entwickelt (S. 141ff.). H. Mohnhaupt legt in seinem Beitrag: „Richter und Gerichtspraxis im Verfassungsgefüge des Königreichs Westphalen“ (S. 167ff.) besonderes Gewicht auf das Prinzip der Öffentlichkeit der Rechtspflege, den C.c. als moderne, Rechtseinheit schaffende Kodifikation und schließlich auf die Aufwertung der richterlichen Gewalt, die das Rechtsverweigerungsverbot des Art. 4 C.c. bewirkte (S. 179ff.). Eine eigene Abhandlung zur Gerichtspraxis des Königreichs fehlt. Besondere Politikbereiche erschließen J. Westerburg in dem Beitrag: „Die Kirchenpolitik im Reformstaat Königreich Westphalen“ (S. 191ff.) und M. Lemberg über die Universität Marburg im Königreich Westphalen (S. 223ff.). Leider fehlen detaillierte Hinweise auf das Vorlesungsprogramm der rechtswissenschaftlichen Fakultät (vgl. S. 228). Gesellschaftsgeschichtlich aufschlussreich sind die Ausführungen über den hessischen Adel „zwischen Anpassung und Widerstand“ (S. 239ff.; K. Murk). „Überlegungen zu einer neuen Deutung der Restaurationspolitik“ bringt W. Speitkamp in dem Beitrag „Das Schicksal der westphälischen Reformen im Kurfürstentum Hessen“ (S. 261ff.). Im Einzelnen weist Speitkamp nach, dass in den ersten Jahren nach dem Untergang des Königreichs Westphalen in Petitionen, Debatten und Reformkonzepten die „Modelle und Ansätze“ der napoleonischen Zeit nicht unberücksichtigt blieben. Vergleichbare Darstellungen für Hannover und Braunschweig stehen noch aus. Chr. Kampmann weist in dem Beitrag: „Zum Wandel des Geschichtsbildes und zu aktuellen Forschungsaufgaben“ darauf hin, dass in der neuesten historiographischen Bewertung des Rheinbundes der „Charakter von Napoleons Herrschaft als einer militärisch gestützten Gewaltherrschaft“ herausgearbeitet worden sei, „die stark destruktive Züge gehabt habe“ (S. 67), eine These, deren Konsequenzen von der Rechtsgeschichte der napoleonischen Zeit mit bedacht werden sollte. Der Band wird abgeschlossen mit einer Einführung K. Murks in die Ausstellung im Staatsarchiv Marburg: „Das Königreich Westphalen unter Jérôme Bonaparte (1807-1813)“. Die zahlreichen Ausstellungsstücke sind mit knappen Hinweisen auf den S. 291-397 abgebildet, insbesondere das Titelblatt der offiziellen Ausgabe des Code Napoléon für Westphalen, weitere Titelblätter der westphälischen Rechtsliteratur, das Dekret über die Aufhebung aller Steuerprivilegien (S. 338f.) und das Dekret über die bürgerliche Gleichstellung der Juden vom 21. 1. 1808 (S. 344). Sehr nützlich sind die Hinweise A. Hedwigs über die archivalische Überlieferung der Aktenbestände des Königreichs Westphalen in den Archiven in Marburg, Berlin (Geheimes Staatsarchiv), Münster, Wolfenbüttel, Hannover, Stade, Osnabrück und Wernigerode (Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt). Eine zumindest summarische Zusammenfassung dieser Bestände wäre für die weiteren Forschungen auch zur Rechtsgeschichte des Königreichs Westphalen nützlich. Insgesamt enthalten die Beiträge des Bandes zahlreiche Anregungen insbesondere zu weiteren quellennahen, vor allem rechts- und wirtschaftshistorischen Untersuchungen zum Königreich Westphalen.

 

Kiel

Werner Schubert