Müller, Klaus-Jürgen, Generaloberst Ludwig Beck. Eine Biographie, hg. mit Unterstützung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Potsdam, 2. Aufl. Schöningh, Paderborn 2009. 833 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als am 20. Juli 1944 Offiziere unter Graf Stauffenberg den Staatsstreich gegen die Person und das Regime Adolf Hitlers wagten, sollte dem Generalobersten Ludwig Beck als designiertem Staatsoberhaupt die Bildung einer neuen Regierung obliegen. Wenige Stunden später, mit dem Scheitern des Aufstandes, blieb sein mühsamer Freitod der einzig mögliche ehrenvolle Ausweg in Erwartung demütigender Erniedrigung durch die Exponenten der Staatsmacht.

 

Wer war Ludwig Beck? Seit vielen Jahren spürt der namhafte Hamburger Zeit- und Militärhistoriker Klaus-Jürgen Müller dem Leben und Wirken dieses hochrangigen Offiziers nach. Die vorliegende Biographie stellt sowohl eine Zusammenschau als auch den Höhepunkt einer Reihe von Vorstudien zum engeren und weiteren Themenkreis dar. So zitiert das über 50 Seiten starke Literaturverzeichnis des Bandes die beeindruckende Anzahl von gezählten 45 Titeln, die der Feder dieses Autors entstammen. Der Anmerkungsapparat umfasst zusätzlich mehr als 200 Seiten.

 

Wer daraus schließt, dass sich hier fundierte Sachkenntnis zu einer reifen Darstellung verdichtet hat, wird durch die Lektüre des Buches vollinhaltlich bestätigt. Nach einleitenden Anmerkungen zu Möglichkeiten und Grenzen biographischer Forschung zeigt Müller den Weg und den Aufstieg Ludwig Becks vom preußischen Offizier über den General der Weimarer Republik bis zum Generalstabschef des Dritten Reiches. Die Rahmenbedingungen, unter denen sich dieser Aufstieg vollzog, waren jene des deutschen Nationalstaats an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, den Müller charakterisiert als „eine dynamische Wirtschafts- und Industriemacht, geführt von einer agrarisch-vorindustriellen Elite, die sich mit dem modernen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum zu einer komplexen Herrschaftssynthese verbunden hatte“ und die sich zugleich mit Forderungen der Arbeiterbewegung und neuer Gruppen des unteren Mittelstandes nach Teilhabe an den politischen Entscheidungsprozessen konfrontiert sah.

 

Dieser Wandel forderte das Offizierskorps in besonderer Weise, dessen Spitzen in der preußischen Militärmonarchie neben der Regierung eine autonome Sonderstellung genossen, ein Dualismus, der „nur in der Krone aufgehoben wurde“ (S. 530). Eine Erschütterung dieser Position und damit auch des traditionellen Rollenverständnisses erfolgte mit der Entwicklung des modernen Krieges, der weite Bereiche der Gesellschaft und der Wirtschaft in die Mobilisierung einbezog, eine immer größere Spezialisierung des Militärapparates mit sich brachte und damit die Kohärenz der Militärelite zunehmend gefährdete.

 

Ludwig Beck suchte diesen Spagat auf eigene Art zu bewältigen. Humanistisch gebildet, wurden ihm die im Elternhaus vermittelten besitz- und bildungsbürgerlichen Wertvorstellungen zur entscheidenden Richtschnur für sein Leben und verliehen ihm „charakterliche Festigkeit“ ebenso wie eine „hohe professionelle Leistungsfähigkeit“ (S. 532). Zugleich fühlte er sich zeit seines Lebens dem überkommenen preußischen Ideal einer von der Regierung unabhängigen, privilegierten und nur dem staatlichen Gemeinwohl verpflichteten Position der Militärführung verbunden, einem Modell, das von den Nationalsozialisten im Zuge der Machtergreifung als „Zwei-Säulen-Theorie“ von Armee und Partei scheinbar übernommen und propagiert wurde.

 

Seine festen Grundsätze mussten den „Architekt(en) der Aufrüstung“ - so überschreibt Müller das siebente Kapitel -, der auf eine „militärisch abgestützte Totalrevision von Versailles“ und die „Erlangung einer mitteleuropäischen Hegemonialposition“ (S. 540) abzielte, aber aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges heraus einen europäischen Großkrieg als unvermeidlichen Ausgangspunkt eines weiteren Weltkrieges kategorisch ablehnte, zwangsläufig in Widerspruch zu den maßlosen Expansionsplänen Hitlers bringen. Während Beck, seit 1. Oktober 1933 Chef des Truppenamtes und damit de facto Generalstabschef des Heeres, seinen Prinzipien von traditionellem Ethos und moderner Leistungsorientierung die Treue hielt, hatte die Masse des höheren Offizierskorps bereits den „Rückzug in die professionalistische Funktionalität bei gleichzeitigem Ausweichen in emotional unterlegte Gläubigkeit an den charismatischen Führer“ (S. 358) angetreten und sich damit der persönlichen Verantwortung begeben. Ohne Rückhalt bei seinem Chef Brauchitsch und vom konkurrierenden Oberkommando der Wehrmacht unter Keitel sabotiert, scheiterte Beck mit seinen angestrengten, ja verzweifelten Versuchen, die politische Führung in der Sudetenkrise vom Kriegskurs abzubringen; im August 1938 wurde er auf sein Gesuch hin vom Posten des Generalstabschefs entbunden, im Oktober auf Wunsch Hitlers aus dem aktiven Dienst verabschiedet.

 

Der bald ausbrechende Zweite Weltkrieg ließ Ludwig Beck die von ihm selbst einst vertretene Ansicht, der moderne Krieg müsse „bereits im Frieden vorbereitet werden“, grundlegend revidieren. Die Kriegswirklichkeit und der Charakter des NS-Regimes führten ihn je länger, desto mehr zu der Erkenntnis, dass der totale Krieg – so legt er in einer seiner ausführlichen Studien unter anderem dar - unvermeidlich zu „Zerstörung und Barbarei“ führe und damit zu einer “Geißel des menschlichen Geschlechtes“ werde (S. 446).

 

Die aktiv auf eine Verschwörung abzielenden, in ihren Interessen stark divergierenden Gruppen der Regimekritiker unterschiedlicher Couleur fanden schließlich in dem ehemaligen Generalstabschef, der trotz einer schweren Erkrankung die Vorbereitungen zum Umsturz bis zur letzten Konsequenz tatkräftig vorantrieb, einen gemeinsamen Nenner, ihre „Zentrale“. Dieser hatte längst das Regime als „ein wesenhaft unmoralisches System“ (S. 444) erkannt, Hitler erschien ihm als die „Inkarnation des Bösen“ (S. 513). Hatte Beck noch 1943 den Gedanken eines Umsturzversuches mit realistischen Erfolgsaussichten junktimiert, so gelangte er in Anbetracht der hoffnungslosen Lage des Reiches zur Einsicht, dass es letztendlich auf „die symbolische Tat“ ankomme: „dass die Befreiung von der Herrschaft Hitlers durch die Deutschen selbst erfolgte“ (S. 513).

 

Betrachtet man Klaus-Jürgen Müllers Beck-Biographie in ihrer Gesamtheit, wird man festhalten müssen, dass dieses lesenswerte Buch weit mehr ist als die Lebensbeschreibung eines außergewöhnlichen Soldaten. Indem es an dessen beruflicher und persönlicher Entwicklung die geistigen und gesellschaftspolitischen Bruchlinien jener Zeit exemplarisch deutlich macht, rührt es auch immer wieder an die grundlegenden staatsrechtlichen Fragen von Legalität und Legitimität von Herrschaft. Dies gilt für Becks Verständnis von einer nur dem Gemeinwohl verpflichteten, der administrativ-politischen Führung auf gleicher Ebene gegenübertretenden militärischen Elite ebenso wie für seine bereits in der krisenhaften Lage von 1938 formulierte weitblickende Feststellung, dass eine „Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzokratie … für die Wiederherstellung geordneter Rechtsverhältnisse … unausbleiblich“ sei (S. 345). Und auf den Punkt gebracht, sollte er später in Anlehnung an Immanuel Kant unmissverständlich postulieren: „Alle Politik müsse ihre Knie beugen vor dem Recht“ (S. 447).

 

Darüber hinaus bietet Müller seinen Lesern aber auch einen bemerkenswert differenzierten, gut verständlichen Einblick in die Entwicklung und Motivlage der militärischen und zivilen Akteure des Widerstandes gegen Hitler inklusive einer Darstellung der entscheidenden Ereignisse des 20. Juli 1944, immer fokussiert auf die zentrale Rolle von Ludwig Beck in diesem Kontext.

 

Das Anfügen eines bislang noch fehlenden Sachregisters zum leichteren Wiederauffinden der Textstellen würde die Nutzbarkeit dieses ansonsten vorbildlich konzipierten und lektorierten Buches optimieren.

 

Werner Augustinovic