Lüderssen, Klaus, Eichendorff und das Recht. Insel, Frankfurt am Main 2007. 102 S., Ill. Besprochen von Stephan Meder.

 

Joseph von Eichendorff (1789-1857) gehört wie Ludwig Uhland, Franz Grillparzer, Heinrich Heine, Theodor Storm oder Franz Kafka zu jenen „Dichterjuristen“, die nicht nur Aktenberge, sondern auch „Kladden und Zettel“ aufarbeiteten, welche dann „zu dem wurden, was später als ,Werk’ in die Geschichte einging“. Den Ausgangspunkt des Buches Klaus Lüderssens bildet die Frage: „Wie steht Eichendorff zu den großen Rechtsfragen seiner Zeit, und was bedeutet die Antwort, die man vielleicht erhält, für die Gegenwart?“ (S. 8). Auf der Suche nach Verbindungen zwischen Poesie und Recht durchforstet Lüderssen sowohl Eichendorffs Gedichte als auch die dramatischen Schriften, Romane und Erzählungen. Das Ergebnis ist ernüchternd: „Die narrative Argumentation“ war „Eichendorffs Sache nicht, und für das heikle Geschäft der Vermittlung von Recht und Literatur ist in seinen erzählenden Schriften kein Platz“ (S. 30). Schließlich wird Lüderssen aber doch fündig, und zwar in den politischen Schriften, deren Titeln man nicht unbedingt ansieht, dass es sich hier um Vorläufer des Law and Literature Movement handeln könnte.[1]

 


Eichendorff studierte nicht nur Rechtswissenschaften, sondern besuchte auch Vorlesungen bei Friedrich August Wolf und Friedrich Schleiermacher. Er war mit Achim von Armin und wohl auch mit Clemens von Brentano bekannt. Es ist die Zeit, als die Historische Rechtsschule gegen das „Naturrecht“ erfolgreich opponierte. Der Kampf gegen die Rechtsentstehungslehre des aufgeklärten Absolutismus hat be­kanntlich den eigentlichen Anstoß zu ihrer Gründung gegeben: Während das ver­nunftrechtliche Staatsrecht davon ausgeht, dass eine über der Gesellschaft waltende absolute menschliche Autorität ihre zur Regelung des sozialen Lebens erdachten Normen von oben her befiehlt, lehrt die Historische Schule, dass das Recht un­abhängig von irgendeinem dominierenden Willen, gleichsam spontan von unten herauf aus der Gesellschaft wächst. Sie erblickt in der staatlichen Gesetzgebung daher nur eine von mehreren Rechtsquellen und legt den Akzent vor allem auf eine Rechtsbildung durch Gewohnheit, Wissenschaft oder Rechtsprechung.

 

Lüderssen gelingt es nun, überzeugend darzulegen, dass sich die vielschichtigen, streckenweise auseinanderlaufenden und verschlungenen Fäden bei Eichendorff zu einem Muster fügen, welches ihn „objektiv in den Rang eines einmaligen Fürspre­cher“" für das erhob, „was die Vertreter der Historischen Rechtsschule meinten“. Die politische Grundlage bildet für Eichendorff die Ablehnung sowohl des absolutisti­schen Etatismus als auch ein kritisches Verhältnis zur Französischen Revolution. Das sind Positionen, die auch Friedrich Carl von Savigny teilte, den Eichendorff „persönlich gut kannte“.[2] So kann es nicht überraschen, dass Eichendorff den zeitge­nössischen Forderungen nach einer geschriebenen Verfassung mit großer Zurück­haltung begegnet: „Das Papier tut es nicht. Nicht auf dem toten Buchstaben beruht ja überall die Heiligkeit des Vertrags“ (S. 14). Auch bei ihm ist das „organische Wachstum“ einer der Grundgedanken über das Verhältnis von Recht und Staat. Ein längeres Zitat aus seiner Schrift „Preußen und die Konstitutionen“ darf hier genügen:

 

„Eine Verfassung kann nicht gemacht werden, denn Willkür bleibt Willkür und unheil­bringend, sie komme, woher sie wolle; es ist aber gleich willkürlich, ob man den Leuten sagt, ihr sollt nicht frei sein, oder: Ihr sollt und müsst gerade auf diese und keine andere Weise frei sein! Weder das müßige Geschäft des Tages noch die Meinung der Gelehrten oder irgend einer Kaste darf hier entscheiden, sondern allein die innere Notwendigkeit, als das Ergebnis der eigentümlichen nationalen Entwick­lung. Nicht vom Verfasser nennt man es Verfassung, sondern weil es alle Elemente des Volkslebens umfassen, der physiognomische Ausdruck der Individualität eines bestimmten Volkes sein soll. Mit und in der Geschichte der Nation muss daher die Verfassung, wenn sie nicht ein bloßes Luftgebilde bleiben will, organisch empor­wachsen wie ein Baum, der das innerste Mark in immergrünen Kronen dem Himmel zuwendend, sich selber stützt und hält und den mütterlichen Boden beschirmt, in welchem er wurzelt“.[3]


Lüderssen zieht von hier aus eine Linie zur Freirechtsschule und ihrem Mitbegründer Eugen Ehrlich, der gut fünfzig Jahre nach Savignys Tod aus „Überdruß an zuviel Gesetzgebung“ den Richter vom Gesetz befreien und wieder „auf die Realitäten des Lebens“ verweisen wollte. Zentrale Bedeutung gewinne dabei das Rechtsgefühl, worauf es immer dann ankomme, wenn das Gesetz lückenhaft sei oder überhaupt fehle. Ehrlich sei der erste gewesen, der in seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ (1913) erkannt habe, dass es Savigny oder Puchta in erster Linie darum gegangen sei, „die rechtserzeugenden Kräfte der Gesellschaft aufzudecken“.[4]

 

Die Aktualität Eichendorffs und der Historischen Schule erblickt Lüderssen darin, dass für sie nicht der Staat, sondern die Gesellschaft der Ausgangspunkt ist. Dadurch haben sie, „etwa über Werthaltungen und Rechtsgefühl“, ein „weites Feld neuer Sozialforschungen erschlossen“ (S. 73). Ihre Rechtsquellenlehre sei auf „so viel Anschauung gegründet, dass eine Verbindung hergestellt werden kann mit den auf Erfahrung und Anerkennung abstellenden Ansätzen der modernen Rechtssoziologie“ (S. 57). Eine Rückbesinnung auf ihre Lehren könne auch „zur Belebung einer Rechtsphilosophie“ beitragen, die „ihren Platz zwischen Metaphysik und positivisti­scher Analyse noch immer sucht“ (S. 49) und „die sich jetzt lieber Rechtstheorie nennt“, um die „Erfahrung“ weiterhin auszuschließen (S. 47). Sehr zu Recht gelangt Lüderssen also zu der Feststellung: „Die Beschäftigung mit der Historischen Rechts­schule hätte eigentlich schon längst das Interesse auf Eichendorff lenken müssen“.

 

Hannover                                                                     Stephan Meder



[1] Vgl. den Überblick über die Quellen, S. 30f. Siehe auch die Zusammenfassung der unter dem unglücklich gewählten Titel „Auch ich war in Arkadien“ posthum veröffentlichten Satire, in der Gelehrte eine große „Regierungs-Maschine nach der neuesten Erfindung des Professors“ bauen, eine Art Vorläufer von Rudolph von Jherings „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“, S. 36-38.

[2] Lüderssen, S. 9. Näheres über diese Bekanntschaft wird freilich nicht mitgeteilt.

[3] Bei Lüderssen, S. 35f. Die Passage erinnert an den berühmten Aus­spruch von Jean Jacques-Régis Cambacérès: "Les codes se font, mais on ne les fait pas". Siehe auch die Kritik am „Konstitutionalismus“ (von den Bill of Rights bis zum Projekt einer europäischen Verfassung) bei Paolo Grossi, Mitologie giuridiche della modernità, 3. Auflage (2007), S. 141-163, 186-219.

[4] Doch behauptet Ehrlich, der sich von der Dämonisierung der „Begriffs­jurisprudenz“ durch Jhering hat beeindrucken lassen, auch (z. B. in der „Juristischen Logik“ von 1917), Savignys Lehre werde „durchweg vom Geiste der absolutistischen staatlichen Rechtsauffassung getragen“. Andererseits ist die Kritik an „der“ Position von Hermann Kantorowicz (S. 51) zu differenzieren, der „Savigny's theory“ auch als „chiefly a sociological description“ charakterisiert (vgl. die Nachweise bei Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 3, 138, 226 f.).