EmpellLübbevomparteigenossen20090614 Nr. 12791 ZRG GA 127 (2010) 73

 

 

Lübbe, Hermann, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger - über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. Fink, München 2007. 143 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.

 

Im Jahre 1983 hielt der Philosoph Hermann Lübbe einen Vortrag, in dem er die These vertrat, das Verhältnis der Deutschen zum NS-Regime nach 1945 sei nicht, wie insbesondere seit der Studentenbewegung behauptet, durch „Verdrängung“ gekennzeichnet. Vielmehr sei allen Deutschen bewusst gewesen, dass der Nationalsozialismus mit Kriegsende „in jeder Hinsicht verspielt“ hatte. Die Distanzierung von ihm habe als „normativer Konsens“ fungiert. Dieser Konsens sei aber nur tragfähig gewesen, weil Übereinstimmung darin bestanden habe, dass die individuelle „Verstrickung“ der meisten Deutschen in das NS-Regime, die allseits bekannt gewesen sei, öffentlich nicht thematisiert werden dürfe. Ein solches, wie Lübbe sagt, „kommunikatives Beschweigen“ sei notwendig gewesen, um die große Mehrheit des deutschen Volkes in den neuen demokratischen Staat zu integrieren. So habe sich die Demokratie in Deutschland erfolgreich etablieren können.

 

 Der vorliegende Band beginnt mit einer Einführung unter dem Titel „Worum es sich handelt“ (S. 7ff.), in der Lübbe seine These „vom integrativen Sinn des Beschweigens biographischer Vergangenheitslasten im bundesrepublikanischen Alltag“ in Kurzfassung formuliert. Es folgt ein erneuter Abdruck seines Vortrages unter dem Titel „Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart“ (S. 11ff.). Ausführlich setzt sich Lübbe sodann mit seinen Kritikern (darunter Carola Stern, Gesine Schwan und Hans-Ulrich Wehler) auseinander: „Beschwiegene Vergangenheiten und die Rückkehr zu politischer Normalität. Zur Wirkungsgeschichte einer umstrittenen These“ (S. 39ff.). Es folgt der erneute Abdruck eines von dem Politologen Jens Hacke geführten Interviews mit dem Autor: „Die zweite deutsche Demokratie in Ja-Sager-Perspektive“ (S. 115ff.). Abgerundet wird der Band durch ein Nachwort des Autors (S. 137ff.) und ein nützliches Personenregister (S. 141ff.).

 

Es würde über den Rahmen einer Rezension weit hinausführen, sich umfassend und gründlich mit Lübbes These und der dadurch ausgelösten kontroversen Diskussion zu befassen. Die folgenden Anmerkungen beschränken sich daher auf einige, wenige Punkte, denen nach Ansicht des Rezensenten allerdings zentrale Bedeutung zukommt. Der von Lübbe vertretenen Auffassung, der Konsens, wonach die individuelle Beteiligung der Mehrheit der Deutschen am NS-Regime nicht öffentlich thematisiert werden dürfe, sei notwendig gewesen, damit aus ehemaligen Parteigenossen Bürger einer Demokratie werden, kann zugestimmt werden. Denn es war kaum möglich, die Mehrheit der Deutschen „umzuerziehen“, indem man sie zwang, sich mit ihrem Verhalten unter dem NS-Regime kritisch auseinanderzusetzen. Die weitere Frage, ob dieser Konsens auch gut und richtig war, wird von Lübbe dagegen nicht in gleicher Ausführlichkeit und Klarheit behandelt. Nicht immer deutlich ist, ob Lübbe eine historisch-sozialpsychologische These vertritt, oder ob er das „Beschweigen“ auch moralisch für gerechtfertigt hält. Für die zweite Möglichkeit spricht, dass die Basis seiner Darlegungen wohl die Auffassung bildet, die Rekonstruktion deutscher Staatlichkeit in Form eines demokratischen Gemeinwesens trage ihren moralischen Wert in sich; das für diese Rekonstruktion notwendige „Beschweigen“ der NS-Vergangenheit sei daher auch als moralisch gerechtfertigt einzuschätzen.

 

Ein Einwand gegen eine solche moralische Rechtfertigung lässt sich folgendermaßen formulieren: Das kollektive „Beschweigen“ der NS-Vergangenheit hat seinerzeit bei den meisten Deutschen eine Mentalität gefördert, sich selbst nicht als Täter oder Mitläufer, sondern als Opfer des NS-Regimes und seiner Folgen (Krieg und Vertreibung) wahrzunehmen. Ein Zusammenhang zwischen dem von der deutschen Staatsführung ausgelösten Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen (Verlust an Menschenleben, Vertreibung) wurde häufig überhaupt nicht gesehen. Das „alte“ Feindbild gegen „den Russen“ war weiterhin wirksam. Verbreitet war zudem das Fehlen von Empathie mit den wirklichen Opfern, also den Juden und den überwiegend polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern - von politischen Gegnern des Regimes, von Roma und Sinti, homosexuellen Männern, religiösen Minderheiten (Zeugen Jehovas) und geisteskranken Menschen ganz zu schweigen. Auch konnten hohe Beamte, Richter und Universitätslehrer, die bereits unter dem NS-Regime tätig gewesen waren, (von wenigen Ausnahmen abgesehen) ihre Karriere fortsetzen und einflussreiche Posten bekleiden. Mit diesen negativ einzuschätzenden Haltungen und Entwicklungen, die eine Folge des „Beschweigens“ waren, setzt Lübbe sich nur am Rande und allzu knapp und oberflächlich auseinander (vgl. zum Beispiel S. 61).

 

Lübbe begründet seine These, indem er allein die Mehrheit der (in der Bundesrepublik lebenden) Deutschen und ihre „Verwandlung“ in Bürger einer Demokratie ins Auge fasst. Bedacht werden sollte aber auch, wie sich das öffentliche „Beschweigen“ auf zwei weitere Gruppen von Menschen ausgewirkt hat, nämlich auf Deutsche, die einer Minderheit angehörten, und auf Menschen, die keine Deutschen waren. Welche Auswirkungen hatte das „kommunikative Beschweigen“ auf Angehörige von Minderheiten? In den fünfziger und sechziger Jahren wurden (wirkliche oder angebliche) Kommunisten, aber auch homosexuelle Männer strafrechtlich verfolgt – von Richtern, die bereits unter dem NS-Regime aktiv geworden waren, dessen Justiz die gleichen Personenkreise verfolgt hatte. Gefragt werden sollte auch, wie sich das „Beschweigen“ auf Menschen ausgewirkt hat, die keine Deutschen waren, etwa auf die sowjetischen und polnischen Zwangsarbeiter, denen (bis vor wenigen Jahren) eine Entschädigung vorenthalten wurde. Das Schweigen darüber, dass die Mehrheit der Deutschen als Täter und Mitläufer in das NS-Regime verstrickt war, mag im Sinne der Integration in ein demokratisches Gemeinwesen notwendig und erfolgreich gewesen sein. Es war jedoch mit erheblichen „moralischen Kosten“ verbunden, die nicht vernachlässigt oder gering geschätzt werden dürfen.

 

Heidelberg                                                                  Hans-Michael Empell