Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, hg. v. Schumann, Eva. Wallstein, Göttingen 2008. 376 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der Band enthält die 13 Vorträge, die in der Göttinger Ringvorlesung über Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit im Wintersemester 2006/2007 gehalten worden sind. Insgesamt befassen sich die Autoren mit der Fortdauer persönlicher Netzwerke und juristischer Konzeptionen und gehen darüber hinaus auch der Frage nach, wie die in der NS-Zeit schon amtierenden bzw. ausgebildeten Juristen nach 1945 mit dem Justizunrecht der NS-Zeit umgingen. Joachim Rückert zeigt die gesellschaftlichen und verfassungspolitischen Alternativkonzepte der Widerstandsbewegungen am Beispiel des Kreisauer Kreises auf (S. 11ff.), das wenig demokratisch und freiheitheitlich-liberal war. Es folgt die Abhandlung von Ralf Frassek: „Göttinger Hegel-Lektüre, Kieler Schule und nationalsozialistische Juristenausbildung“ (S. 45ff.). Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Zielsetzung der von Karl August Eckhardt betriebenen Studienreform von 1935 und das Lehrbuch von Larenz: „Vertrag und Unrecht“, das Frassek auch in der 2., nicht mehr ausgelieferten Auflage heranzieht. Auf umfassenden Archivrecherchen beruht der Beitrag Eva Schumanns über die Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät von 1933-1955 (S. 65ff.). Wegen der Materialfülle behandelt Schumann primär die Fakultätsgeschichte und deren Personalpolitik; eine Beschäftigung mit dem Werk der Göttinger Hochschullehrer, deren äußerer Lebenslauf beschrieben und deren NS-Mitgliedschaften detailliert nachgewiesen werden, bleibt späteren Studien vorbehalten. 40% der ordentlichen Professoren der Göttinger Fakultät wurden aus rassischen oder politischen Gründen entlassen bei einem Gesamtdurchschnitt von 20% für die gesamte Universität. Keiner der 13 ordentlichen Professoren, welche die Fakultät 1933 zählte, war 1938 noch im Amt. Die ab 1935 an die Fakultät gekommenen Professoren waren häufig nach ihrer politischen Qualifikation und weniger nach ihren fachlichen Leistungen ausgesucht worden (S. 120). In der frühen Nachkriegszeit setzte sich die Fakultät knapp zur Hälfte aus den nach 1933 vertriebenen und nach 1945 zurückgekehrten Ordinarien sowie aus unbelasteten Hochschullehrern zusammen. In diesem Zusammenhang ist der Beitrag Ewald Grothes über Ernst-Rudolf Huber und dessen NS-Vergangenheit zu erwähnen (S. 327ff.). Huber kam 1962 mit der Eingliederung der Wilhelmshavener Hochschule für Sozialwissenschaften an die Göttinger Fakultät (S. 344f.). Er hat zwar „ehrlicher und mutiger als andere Betroffene“ die Zeit des Nationalsozialismus rückschauend bewertet. Jedoch beschönigte auch er seine eigene Rolle im NS-System. Werner Heun befasst sich unter dem Titel: „Leben und Werk verfolgter Juristen“ (S. 301ff.) mit den Schriften von Gerhard Leibholz, der 1935 zwangsemeritiert wurde und erst 1958 an die Göttinger Fakultät auf eine Professur für Politische Wissenschaften und Allgemeine Staatslehre zurückkehrte. Unter den Stichworten Gleichheit, Demokratie/parlamentarische Repräsentation/Parteienstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit arbeitet Heun heraus, dass das Verfassungsrecht der frühen Bundesrepublik auf den Vorstellungen und Konzeptionen von Leibholz aus der Weimarer Republik beruhe (S. 307ff.; Parteien als Verfassungsorgane und ihre Beteiligtenfähigkeit im Organstreit; Verfassungsorganstellung des Bundesverfassungsgerichts).

 

Klaus-Detlev Godau-Schüttke zeigt in seinem Beitrag „Entnazifizierung und Wiederaufbau der Justiz am des Bundesgerichtshofs“ (S. 189ff.) anhand der Biographie und der Dienstlaufbahn Thomas Dehlers, Wilhelm Weinkaufs (erster Präsident des BGH) und Willi Geigers, die den Großteil der Verantwortung für den personellen Aufbau des BGH trugen. Unter der Ägide von Dehler wurden keine hinreichenden Anstrengungen unternommen, um die Anstellung schwer belasteter NS-Richter zu verhindern. Auch nach den Arbeiten Godau-Schüttkes (vgl. auch dessen Werk: „Der Bundesgerichtshof – Justiz in Deutschland“, Berlin 2005) steht eine umfassende Geschichte der Anfangsjahre des BGH (einschließlich des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone) noch immer aus. Thomas Henne geht auf die „Göttinger“ Beiträge zum grundlegenden Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1958 ein (S. 213ff.), dessen konkreter Inhalt allerdings nur kurz angesprochen wird (S. 226). Ingo Müller arbeitet in seinem Betrag: „NS-Justiz und DDR-Justiz vor deutschen Gerichten“ (S. 233ff.) heraus, dass die Judikatur erst im Zusammenhang mit den Urteilen zum DDR-Unrecht zu einer Neubewertung der Strafjustiz der Bundesrepublik insbesondere der 50er und 60er Jahre zum NS-Unrecht kam. Wie Bernd Weisbrod in dem Beitrag: Die „Vergangenheitsbewältigung der NS-Prozesse: Gerichtskultur und Öffentlichkeit“ (S. 247ff.) zeigt, brachte erst die Anerkennung des Zeugen vor Gericht als „lebendiges Erinnerungssymbol“ die Erinnerung an das Recht als moralische Instanz (S. 269). In seinem Beitrag: „Die Entwicklung des Familienrechts und der Nationalsozialismus“ (S. 165ff.) kennzeichnet Peter Derleder die Entwicklung des Familienrechts von 1900 bis 1961 als langen Kampf gegen das patriarchalische Ehe- und Familienrecht des BGB. Eine detailliertere Darstellung der Reformbestrebungen der Weimarer Zeit und deren teilweises Fortwirken in der NS-Zeit wäre erwünscht gewesen. Joachim Perels („Zur Rechtslehre vor und nach 1945“, S. 123ff.) greift die von Fränkel entwickelte Lehre vom Maßnahmen- und Normenstaat auf und stellt in diesem Zusammenhang fest, dass auch der Normenstaat nicht absolut gegolten, sondern klar bestimmten Begrenzungen unterlegen habe (S. 133). Nach Helmut Kramer – so in seinem Beitrag über „Juristisches Denken als Legitimationsfassade zur Errichtung und Stabilisierung autoritärer Systeme“ (S. 141ff.) – haben die Juristen unter dem NS-Regime mit dem überkommenen Methodenarsenal die auch im spezifischen NS-Recht immer noch vorhandenen Auslegungs- und Ermessensspielräume oft zur Legalisierung und Verrechtlichung des Unrechts benutzt. Mit einer ergebnisorientierten Methodenwahl habe „Korrektheit“ als Mittel der Gewissensbeschwichtigung gedient. Die spätere sog. Positivismuslegende habe außer für die strafrechtliche und moralische Entlastung der NS-Juristen auch sonst erhebliche Auswirkungen auf die Judikatur der frühen Bundesrepublik gehabt (S. 156). Der Band wird abgeschlossen mit einem Personen- und detailliertem Sachregister.

 

Der Vortragsband belegt erneut, dass die Auseinandersetzungen mit der NS-Zeit sowie der Vor- und Wirkungsgeschichte noch keineswegs abgeschlossen ist. Dies gilt besonders für die Geschichte der juristischen Fakultäten und die Beschäftigung mit dem Werk einzelner Hochschullehrer. Einige Beiträge hätten im Interesse der Zielsetzung der Ringvorlesung noch stärker auf Wissensvermittlung ausgerichtet sein können. Schon aus diesem Grunde ist es bedauerlich – so auch die Herausgeberin S. 10 –, dass die „lebhaften Diskussionen und engagierten Redebeiträge im Anschluss an die Vorträge“ nicht hatten dokumentiert werden können. Die Zeit der frühen Bundesrepublik bedürfte, wie einige Beiträge zeigen, zum Zweck der präzisen Herausarbeitung der Entwicklungslinien im Ganzen noch einer stärkeren Historisierung. Insgesamt liegt mit dem Göttinger Vortragsband ein beachtlicher Beitrag zu einigen Themen der Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts vor, die weitere Beachtung verdienen.

 

Kiel

Werner Schubert